Kaum ist es hell, treibt es mich auf die Beine und ich erkunde das Klohäuschen der Insel. Es ist richtig niedlich angelegt, draußen gibt es ein steinernes Waschbecken mit Wasserhahn und sogar einen hübschen runden Spiegel. Selbst an Handtuchhaken in Form von gebogenen Ästen hat jemand gedacht. Angesichts der großen Spinnen, die unter den Ecken der Hüttendächer nisten, klopfe ich jede Klopapierrolle vor Benutzung aus und richte den Blick immer schön starr nach draußen. Was ich nicht sehe, ist auch nicht da! Es ist früh und die Sonne strahlt vom blauen Himmel. Um sieben Uhr gibt es schon Frühstück – mit pappsüßer Erdbeermarmelade und nicht weniger pappigem Baguette, das aber – wohlwissend, dass es recht gummiartig ist – kurz auf den Grill gelegt wurde. Der madagassische Toaster sozusagen. Liebevoll ist unsere lange Tafel mit einer weißen Spitzentischdecke und buntem Geschirr eingedeckt. Neben meinem Teller steht die einzige rosa Tasse der bunten Sammlung.
Den Vormittag verbringe ich am Strand in der Sonne. Die gesamte Gruppe hat sich zum höchsten Punkt der Insel aufgemacht, aber dazu hatte ich einfach keine Lust. Heute ist nur Entspannung und Urlaub genießen angesagt. Ich gehe ein wenig im Meer plantschen – bis es hüfttief ist, traue ich mich noch, aber lange schwimme ich nicht. Ich bin nicht so abgeneigt, meinem Wissen über die hiesigen Haie zu trauen. Dann mache ich es mir mit meinem Handtuch im Sand bequem, die Wellen plätschern sanft und warm über meine Beine. Auf den glatten dunklen Steinen kann man bequem sitzen und den vereinzelten Fischern zuschauen, wie sie mit ihren Pirogen von Maroantsetra hierher kommen. Fast den ganzen Vormittag verbringe ich dort, bis die Flut langsam wieder kommt und ich meinen neuen Lieblingsplatz verlassen muss.
Um mir das Salz von der Haut zu waschen, suche ich den kleinen Wasserfall auf. Die Steine davor sind grün bemoost und dadurch glitschig wie Schmierseife, und einige der Felsen sind ziemlich hoch – man gelangt aber recht gut bis zum Wasserfall selbst. Ein bisschen kalt, aber wunderschön! Und wer kann schon von sich behaupten, im Regenwald seine eigene private Wasserfalldusche zu haben? Außer den Inselwächtern und der Küchencrew ist ja niemand mehr da. Als ich nach meinem Handtuch greife, hupft ein kleiner Frosch unter meiner Hand davon. Frisch geduscht fühle ich mich gleich wie neu. Kein Anti-Brumm, keine Sonnencreme, kein Gestank… herrlich. Lang wird das aber sicher nicht halten. Tanala und ich fragen Jean-Emil und Marcel, ob wir uns ein wenig um das Camp herum auf die Suche nach Tieren begeben dürfen (es ist nicht erlaubt, ohne Guide allein auf der Insel unterwegs zu sein). Wir dürfen, sie „haben uns im Auge“ – solange wir uns nicht weit weg bewegen. Aber hier braucht man nur ein paar Meter laufen – und die reichen völlig, um noch den ein oder anderen Uroplaten zu finden. Dabei kann ich gleich einige Aufnahmen des grandiosen Regenwalds mit dem Stativ machen.
Pünktlich zum Mittagessen sind wir zurück, und auch der Rest der Gruppe hat sich wieder eingefunden. Bis zum Gipfel haben sie es nicht geschafft, sondern kurz vor dem Anstieg zum Gipfel eine Abkürzung zurück genommen, aber anstrengend war der Weg wohl trotzdem. Eine Gruppe der Varis, die den ganzen Morgen über mit ihrem Gebrüll die Insel beschallt haben, haben sie dafür aber entdecken können. Unter dem Blechdach gibt es Calamari und Papaya-Salat, den ich zuerst irrtümlich für merkwürdigen Gurkensalat halte. Zum Nachtisch gibt es heute rote, hartschalige, mandarinengroße Früchte mit grünem Stiel, die Jungs nennen sie „Carambole“. Wie ich später feststelle, ist Karambole aber bei uns das Wort für Sternfrucht, und diese rote Frucht ist eine Mangostan. Da ich so etwas noch nie gesehen oder gegessen habe, ist mir erstmal nicht so ganz klar, wie man das Ding überhaupt isst. Oder was davon? Ich öffne die Frucht und beiße in die harte, rote Schale – igitt, die ist extrem bitter. Madame Sandra sieht unsere Verwirrung und zeigt, welchen Teil man essen kann. Nur das weiße Innere, die Kerne spuckt man aus und die Schale wirft man weg. Und das weiße Fruchtfleisch schmeckt unglaublich gut! Sehr süß und weich, so dass ich gleich mehrere der roten Früchte esse. Zum Glück haben die anderen genug Calamari gegessen und wollen nicht alle Mangostan mampfen. Das Mittagessen wird abrupt vom Fund einer schwarzen, schlanken Schlange (Pseudoxyrhopus heterurus) mitten auf der Lichtung. Sie ist sehr hübsch und dazu sicherlich 1,50 m lang. Zu meinem Erstaunen lässt sie sich prima auf einen Ast lotsen, um dann ruhig, aber aufmerksam die Gegend zu erkunden.
Ein kleiner Mittagsschlaf wird schnell zu zwei Stunden ruhigen Schlummers bei Meeresrauschen. Das ist Urlaub! Unter unserer Hütte, unter deren Dach das Zelt steht, raschelt es immer wieder. Als ich darunter schaue, entdecke ich eine wirklich riesige Schildechse, die locker einen Körper so breit und dick wie mein Unterarm hat. Sie wohnt wohl in der dicken Laubschicht zwischen den Holzpfählen – oder schießt zumindest sofort darunter zurück, sobald jemand an der Hütte vorbeigeht. Eine zweite, kleinere Schildechse, verteidigt ihr Revier nur wenige Meter weiter.
Als ich zurück zur Lichtung komme, bringt Patrick mir ein verletztes Furcifer pardalis Männchen. Es kann seine Hinterbeine kaum noch bewegen und mit dem linken Fuß gar nicht mehr greifen. Entsprechend schlapp hängt es im Baum und rutscht immer wieder kopfüber auf die Unterseite der Äste. Bei näherem Hinsehen entdecke ich einen Knick in der Wirbelsäule. Anscheinend hat der arme Kerl heute früh eine Begegnung mit einer größeren Schlange, einem Lemuren oder einem Raubvogel gemacht. Wir suchen ihm ein dichtes Bäumchen mit dicken Ästen, auf denen er einigermaßen gut liegen kann, ohne herunterzufallen. Ich bitte außerdem Marcel, den Inselwächter, die nächsten Tage nach dem kleinen Herrn zu schauen. Medikamente haben wir leider nicht hier, aber sollte das Pantherchamäleon die nächsten Tage „bewacht“ überleben, hat er einigermaßen gute Chancen, wieder zu werden. Ich drücke die Daumen.
Den Nachmittag verbringen alle für sich. Die einen schlendern ein wenig am Strand entlang, andere suchen im Camp nach Blattschwanzgeckos oder fotografieren die unzähligen Frösche. Kaum ist es dunkel, gibt es auch schon Abendessen. Mir ist das verfrühte Dinner mehr als recht, weil ich mittags wenig gegessen und dadurch eigentlich immer noch Hunger habe. Zu meinem Glück gibt es leckere gegrillte Brotfrucht mit Gurkensalat als Vorspeise und Spaghetti mit Zebu danach. Bei jedem Essen bekommen wir neue Früchte oder Gemüse vorgesetzt, ich bin ganz begeistert – vieles davon bekommt man in Europa überhaupt nicht, oder sicher nicht in dieser Qualität. Die Brotfrucht-Streifen schmecken fast wie Kartoffeln. Zwar habe ich auf Madagaskar schon viele Brotfrüchte gesehen, aber noch nie etwas davon essen können. Die Spaghetti stillen meinen Hunger vorzüglich.
Einen guten Grund, warum wir so früh gegessen haben, gibt es natürlich: Nach dem Abendessen steht Tiersuchen bei Nacht an. Rund ums und innerhalb des Camps machen sich alle inklusive der Guide auf die Suche nach vierbeinigen und beinlosen Mitbewohnern. Nachts ist im Regenwald einiges los, und dies bestätigt sich schon nach wenigen Minuten direkt auf der Lichtung: Eine dicke Madagaskarboa findet sich im Gras unter den Bäumen. Trotz dem eher aggressiven Ruf der Sanzinia ist sie sehr umgänglich und steht geduldig als Fotomodell zur Verfügung. Das pechschwarze Dunkel hält noch viele andere Überraschungen bereit. Darunter viele Mausmakis, die leider für Fotos allesamt einige Meter zu weit weg sitzen. Alle zehn Meter sitzt einer in einem Baum oder hüpft flink durchs Geäst. Mit der Taschenlampe lassen sie sich leicht finden, denn ihre Augen reflektieren das Licht und leuchten so von den Bäumen. An einer Felswand sitzt sogar ein Eisvogel, der sich neben einigen Lianen zur Nachtruhe niedergelassen hat. Als ich über eine kleine Brücke laufe, trete ich fast auf einen fußgroßen Tanrek, der erschrocken auf die Betonplatte unter den Holzbohlen flüchtet. Damit er nicht auf der Flucht vor unserer Gruppe noch ins Wasser darunter plumpst, scheuche ich ihn vorsichtig zum Ende der Brücke, wo er sich blitzschnell unter lautem Fauchen ins Laub flüchtet.
Auf der Insel der Blattschwanzgeckos wird die Nacht zum Tag. Die Geckos sind nun aktiv und auf der Jagd nach Insekten. Damit verlassen sie aber auch ihre perfekte Tarnung, denn in Bewegung kann man sie mit der Taschenlampe viel leichter finden als bei Tag eng an die Äste geschmiegt. Viele kleine und große Blattschwanzgeckos finden und fotografieren wir. An einem dünnen Bäumchen hängt immer noch der schwanzlose Gecko von gestern, immer noch kopfüber und keinen Zentimeter von der gestrigen Stelle entfernt. Anstalten zu jagen macht er keine. Wahrscheinlich stammt der Schwanzverlust doch von einer unschöneren Begegnung, die den kleinen Kerl mehr mitgenommen hat als gedacht. Nach so vielen tollen Begegnungen mit den faszinierenden Bewohnern Nosy Mangabes bin ich müde und durstig. Genau recht kommt da der braune Dzama-Rum, den Björn aus seinem Zelt hervorzaubert. In einer kleinen, aber feinen Runde klingt der Tag im Dunkeln der Nacht mit vielen Gesprächen aus.