Das Wetter zeigt sich auch heute nicht von seiner besten Seite. Heute ist frühes Aufstehen angesagt, denn der Flug nach Toamasina (Tamatave) wird nicht auf uns warten. Vor dem Hotel treffe ich auf einen Einheimischen, der auf einem langen Ast ein altes Furcifer pardalis-Männchen angeschleppt hat. Er hat gestern von den Leuten in der Stadt gehört, dass hier eine Gruppe Vazaha nach Chamäleons gesucht hat. Ich gebe ihm ein kleines Trinkgeld für die Mühe, kassiere dafür allerdings das Tier ein, damit es nicht weiter durch die Gegend getragen wird. Es ist schon älter und sieht etwas mitgenommen aus, hat dicke Gelenke und Anzeichen von Maulfäule – vermutlich auch bei diesem Tier der Grund, weshalb es auffindbar im niedrigen Gebüsch saß. Fotos mache ich kaum, ich bringe den älteren Chamäleonherr stattdessen zu einer Gruppe buschiger Bäume. Konkurrenz gibt es dort keine für ihn, dafür aber reichlich Futter und Tränkemöglichkeiten. Vielleicht erholt er sich ja wieder.
Gegen zehn Uhr ist alles Gepäck zusammengerödelt und alle steigen in den Bus. Doch als wir losfahren wollen, stellen wir fest, dass Thomas fehlt. Eine kleine Ewigkeit später trudelt er auch ein – war noch duschen – und wir fahren mit dem Bus über die holprige Straße zu Maroantsetras kleinem Flughafen. Dort angekommen, finden wir eine bis auf wenige Personen verwaiste Halle vor, in der ein paar Hühner herumlaufen. Der Schalter ist unbesetzt und bis auf die Dame hinter dem Tresen der Snackbar und drei oder vier Gästen ist niemand da. Optimistisch stelle ich mein Gepäck in die kleine Reihe vor den leeren Schalter, hinter dem eine offene Tür nach draußen auf den – ebenfalls leeren – Parkplatz führt. Auf der alten grünen Tafel neben dem Schalter stehen mit Kreide noch die Flüge von gestern, ein Flug für heute ist gar nicht eingetragen.
Es dauert keine zehn Minuten, da brummt ein Geländewagen auf den staubigen Parkplatz. Es steigen ein paar Männer aus, die sich Warnwesten anziehen und damit spontan zu Flughafenpersonal mutieren. Einer der Männer schnappt sich ein Stück Kreide und trägt langsam den heutigen Flug auf der Tafel ein. Erst schreibt er den falschen Tag auf, wird korrigiert, bedankt sich und wischt die Tafel wieder leer, um sie korrekt zu beschriften. Wenig später geht es ans Gepäck wiegen. Aber nicht nur das Gepäck wird gewogen, auch ich selbst und alle anderen Gäste müssen auf die antike Waage steigen. Zumindest sorgt dieses Vorgehen für einiges Gelächter, bis dann auch jedem klar wird, warum alles so genau abgewogen werden muss: Wir fliegen mit einer Twin Otter, und das winzige Flugzeug kann kein Übergewicht vertragen. „Genau“ ist bei der Waage allerdings auch relativ, denn sie zeigt bei allen zwischen vier und sieben Kilo zu wenig an. Mein Handgepäck muss ich direkt einem Mann mit Warnweste an der offenen Tür zur Landebahn geben – damit keiner mehr noch mehr Gewicht ins Handgepäck schmuggeln kann. Die Boardkarte ist handgeschrieben.
Ein paar Stunden später trudelt eine winzige Maschine auf der Landebahn ein, nachdem das Flughafenpersonal die letzten Zebus von der Landebahn verscheucht hat. Eine Sirene braucht’s hier nicht. Die Angestellten des Flughafens schieben eine Art Tritthocker vor das winzige Flugzeug, und immerhin 12 Leute steigen aus. Ich stoße mir beim Einsteigen erstmal den Kopf, was bei 1,65 m schon etwas heißen will. Die Sitzreihen sehen aus wie 60er-Jahre-Campingstühle mit Lederpolster, sind zusammenklappbar – und reichlich eng. Über meinem Kopf hängen zwei rostige Schrauben aus der Decke und ich sitze direkt am Notausgang neben zwei dicken Metallringen, die das Sitzen nicht bequemer machen. Die Tür zum Piloten direkt vor mir hat aus unerfindlichen Gründen die Form eines Sarges.
Schließlich startet die Maschine – Sicherheitseinweisungen gibt es nicht, der Pilot schaut kurz nach hinten, versichert sich, dass die Tür zu ist und es geht los. Keine 100 Meter braucht die Twin Otter auf der Buckelpiste, dann ist sie schon in der Luft. Kaum sind wir über den Bäumen, endet der schräge Flug. Ist das schon die Endflughöhe? Etwas ungläubig gucke ich aus dem Fenster. Naja, falls wir abstürzen, kann man so einfach auf den nächsten Baum springen. Letztendlich verläuft der Flug prima und die Landung ist sanfter als jede auf Madagaskar zuvor. Der Flughafen in Toamasina ist deutlich größer. Immerhin gibt es hier wieder ein Band für die Koffer, und bei den paar Gästen muss auch niemand die Gepäcknummern kontrollieren.
Christian, Rapha und Dimby warten schon auf uns. Das Gepäck wird auf dem Dach unseres dunkelroten Hyundai-Bus geladen, und los geht die Reise. Bevor wir zum 90 km entfernten Manambato aufbrechen, machen wir noch einen kurzen Zwischenstopp in einem Supermarkt in Tamatave. Am riesigen Hafen der Stadt vorbei geht es Richtung Innenstadt. Wir passieren eine schier endlose Reihe von Lkws mit Containern, die vor den Toren des Hafens warten. An einer großen Straße, eine Gruppe Palmen teilt die Fahrbahnen, halten wir an. Sofort sind wir umringt von Bettlern und Verkäufern, die Valihas (ein madagassisches Musikinstrument) und Bilder anbieten. Bettler habe ich bisher nur in Tana gesehen, aber Tamatave ist eine ähnlich arme Großstadt mit sehr ähnlichen Problemen und ebenfalls hoher Armut.
Der Weg nach Manambato dauert eine gute Stunde auf einer sehr gut asphaltierten Straße namens RN2 mit nur wenigen Löchern. Viele Lkws und Taxibrousse sind unterwegs auf dem Weg nach Tana und nach Tamatave. Irgendwo halten wir an einem riesigen Obststand zwischen zwei Hüttendörfern, und ich erstehe einen großen geflochtenen Bastkorb, in dessen grünen Bananenblättern jede Menge Rambutan liegen. Kostenpunkt: 2500 Ariary. Björn erstehe eine Bananenstaude. Eine Jackfruit nehme ich am Ende doch nicht mit, einfach weil sie groß und schwer ist. Sieben Kilometer vor Manambato biegen wir links Richtung See der Könige ein. Und hier beginnt die Katastrophe. Mit einem Bus auf nicht-asphaltierten Wegen zu fahren ist eine Sache, aber dieser Weg ist einfach komplett offroad. Immer wieder setzt der Bus auf, rutscht weg, bleibt in Löchern hängen und nimmt Gebüsch und Äste am Rand des Weges mit. Christian, unser Fahrer, behält jedoch eine Seelenruhe: Er ist hier schon oft gefahren und will uns soweit wie möglich bringen. Jeden Meter, den der Bus nicht schafft, müssen wir inklusive ALLEM Gepäck laufen. Sogar durch einen kleinen Fluss führt der Weg, aber der Hyundai-Bus ist wirklich haltbar. Nicht nur einmal halte ich die Luft an.
Endlich erreichen wir Manambato, ein winziges, langgezogenes Dorf direkt am See der Könige, das nur aus Holzhütten besteht. Wir sind fast da! Im Acasias, einem Hotel direkt am Strand, steigt die ganze Gruppe in ein langes, großes Boot mit Sonnendach um. Wir werden dabei etwas argwöhnisch von einer Gruppe halbnackter, weißhäutiger Damen beäugt, die sich offensichtlich beim Sonnenbaden gestört fühlen. Wir fahren direkt los, denn es liegen noch 26 km auf dem Wasser vor uns und bald geht die Sonne unter. Doch kaum ist das Boot im Wasser, müssen wir nochmal zurück: Dimbys Wasser steht noch am Strand. Mit Vollspeed fahren wir über den See und durch Reusen-ähnliche Anlagen in den Canal des Pangalanes. Die Sonne geht langsam unter und es ist einfach wunderschön. Das Wasser liegt vollkommen ruhig da, und der dichte Urwald am Ufer spiegelt sich darin. Die Sonne malt orange-rote Schatten in den Himmel. Außer uns ist keine Menschenseele unterwegs. Nach einer guten Stunde erreichen wir den Lac Ampitabe, an dem das Palmarium liegt. Nun zeigt sich, dass wir gerade so noch in der Zeit liegen – die letzten fünf Minuten bis zum Bootssteg fahren wir im Dunkeln.
Am Steg stehen eine Menge Leute, die uns beim Tragen des Gepäcks helfen und jeden herzlich willkommen heißen. Über den Steg laufe ich an den weißen Sandstrand und dann eine steile Treppe nach oben. Oben angekommen, geht es erstmal ins wenige Meter entfernte Restaurant, ein schönes Gebäude aus dunklen Holzpfählen und Palmblattdach. Auf dem Tisch brennen Kerzen und sogar Strom gibt es. An der Bar werden wir schon erwartet und Sylvain drückt mir ein Glas Begrüßungsdrink mit Zuckerrand in die Hand. Mmh, so kann es weitergehen. Tut es dann auch: Die Bungalows sind luxuriös, mit Hängematte auf der Veranda, einem tollen Bad und großem, bequemen Bett. Als ich mein Gepäck öffne und hineingreife, gibt es dann noch eine unschöne Überraschung: Ich habe einen blinden Passagier mitgebracht, die große Fauchschabe springt mir direkt in die Hand. Ich tröste mich damit, dass eine Schabe immer noch besser als der große Achtbeiner aus Maroantsetra ist.
Nach einer kleinen Pause zum Frischmachen laufe ich zurück zum Restaurant. Auf dem Weg durch den alten botanischen Garten, um den die Bungalows angelegt wurden, schaue ich in den Himmel – ein wunderschöner Sternenhimmel zieht sich das Hotel und den Regenwald dahinter. In vielleicht zehn Minuten sehe ich vier Sternschnuppen. Mein Hunger hält mich davon ab, noch weiter in den Himmel zu starren. Direkt vor dem Restaurant leuchte ich – nur um mal zu schauen, ob es vielleicht schon irgendwo ein Chamäleon gibt – in einen Baum. Ein grummeliges Brummen ist die Antwort, denn ich habe direkt auf einen großen schwarz-weißen Vari geleuchtet. Und der ist über die Ruhestörung nicht besonders erfreut. Einen kleinen Moment grunzt er vor sich hin, dann sucht er sich einen neuen Schlafplatz.
Das Abendessen ist grandios, es gibt Brochettes mit Pommes und zum Nachtisch flambierte Bananen, alles gekocht und serviert von Küchenchef Rémis. Aber damit ist der Tag dann auch lange genug gewesen – wenig später liege ich schon im Bett und schlafe den Schlaf der Gerechten.