Ich bin zum Frühstück gerade so aus dem Bett gekommen. Die Nacht hatte trotz rosa Moskitonetz einige Mückenstiche parat, die jetzt prima jucken. Aber mit Mückenstichen muss man sich auf Madagaskar einfach abfinden, ganz ohne bin ich trotz bemerkenswert dicker Antibrumm-Schichten nie. Zum Frühstück bekomme ich eine weiß-braune, wässrige Brühe vorgesetzt. Ich vermute fast, das dürfte die gestern heiß angepriesene „Schokolade“ sein. Na gut, das mit der Milch ist ja so eine Sache auf Madagaskar. Und ohne Milch kriegt man eben keine gute Schokolade. Man kann nur hoffen, dass Tiko irgendwann wieder an den Markt kommt (die waren früher mal für Milchprodukte auf der Insel zuständig).
Um halb Acht verlassen wir mit dem Bus das Hotel, und fahren einmal quer durch die Stadt zurück auf die RN7. Die führt nämlich direkt zum Anja Community Reserve, unserem Ziel für heute. Das Gelände soll auch als „Rocky Park“ bekannt sein, wegen seiner vielen zu bekletternden Felsen. Ich bin sehr gespannt – und übrigens nicht schwindelfrei, und Höhenangst habe ich leider auch, was Klettern noch spannender macht. Das Reservat liegt rund zwölf Kilometer außerhalb von Ambalavao. Man folgt einfach der Straße, die zwischen grünen Reisfeldern und felsigen Hügeln in den Süden führt. Von Weitem kann man das Anja Reserve bereits sehen, es sieht winzig aus. Ein sehr kleiner Wald, durchsetzt von riesigen Felsen, schmiegt sich in eine Art kleines Gebirge. Weit und breit um den Wald sind keine Bäume, nur dieses letzte Stück ist hier im Hochland erhalten geblieben.
Irgendwann biegen wir auf eine rote Piste ab. Unser Bus hält zwischen zwei, drei kleinen, weißen Gebäuden auf einer Art Parkplatz. Ein Stein weist auf den Gründungstag des Reservats hin. Wir warten, anscheinend begleicht man hier lediglich die Besuchsgebühr. Dimby und Tanala steigen wieder ein, dann fahren wir einige Hundert Meter weiter und halten auf einem sandigen Platz, von dem ein schmaler Trampelpfad wegführt. Zwei Tische und dazugehörige Bänke stehen unter einem Dach aus Bananenblättern. Dimby stellt mir Victor vor, und einen barfüßigen zweiten Mann, der als (einer von vielen) Spotter nach Tieren sucht und vorausgeht. Einen richtigen Eingang hat das Reservat gar nicht, denn wir starten genau hier. Ich folge einfach der Gruppe, es geht den Trampelpfad im Gras entlang und an einigen Bäumen vorbei. Schon nach wenigen Metern finden wir ein weibliches Furcifer lateralis, ein Furcifer oustaleti des gleichen Geschlechts und mehrere Thamnosophis lateralis – hübsche, kleine, gestreifte Schlangen, die sich toll fotografieren lassen und äußerst harmlos sind. Das Chamäleonweibchen dagegen ist sehr ungehalten über die ungebetene Störung und faucht sofort. Genauso garstig ist eine Madagascarophis colubrinus, die allerdings gerade in der Häutung steckt und daher allen Grund hat, Besucher nicht toll zu finden. Wir lassen sie in Ruhe – weißlich trübe Augen machen sich auf Fotos eh nicht so gut. Mitten auf dem Weg findet Thomas ein schwarzes, langes, wurmartiges Ding: Eine harmlose Planarie, sieht aber aus wie ein riesiger Blutegel.
Auf dem Trampelpfad sind noch etliche andere Gruppen außer unseren unterwegs, aber trotz der kleinen Ausmaße des Waldes verlaufen sich die vielen Menschen schnell. Nach nur wenigen Stopps für Fotos ist keiner mehr da außer mir, den Guides und meiner Gruppe. Ich laufe weiter den Pfad entlang, bis rechts eine Menge Tilapia-Teiche auftauchen. Sie sollen bei der nachhaltigen Bewirtschaftung helfen. Laut Adrian schwimmen allerdings inzwischen sechs Nilkrokodile darin. Eines davon döst gerade auf einer Sandbank. Woher die Krokodile kamen, ist nicht so klar – aber zumindest gehen sie nicht mehr weg und fühlen sich offenbar in den Fischteichen ganz wohl. Blöd nur für die, die die Fische ernten wollen.
Am Ufer wartet einer der Spotter auf uns – er hat direkt am felsigen Rand zu den Teichen ein Brookesia brunoi-Weibchen gefunden. Das kleine Erdchamäleon ist extrem fotogen und schaut immer brav in die Kamera. Auf dem Kopf trägt es einen hübschen Helm, weshalb ich es erstmal „Lord Helmchen“ taufe. Plötzlich wackeln die Bäume über meinem Kopf. Kattas sind aufgetaucht! Die neugierigen Lemuren turnen bereits über den Boden und schauen, was wir da so treiben. Teils laufen sie nur zwei Meter an mir vorbei. Mehrere Jungtiere, vielleicht sechs Monate alt, quaken aus den Bäumen. Sie trauen sich offenbar noch nicht nach unten. Kattas sind sehr spannende Lemuren, denn es sind die einzigen, die so freiwillig über den Boden laufen, anstatt durch die Bäume zu turnen. Mir sind sie allerdings weniger sympathisch als die sanften Indris oder die zauberhaften Seidensifakas. Vielleicht auch deshalb, weil es Kattas in hunderten Zoos weltweit gibt. Sie sind eben fast zu „gewöhnlich“. Trotzdem ist es beeindruckend, sie in freier Natur so nahe zu erleben.
Schließlich geht es weiter in den Wald hinein. Es ist ein Trockenwald. Laub und Äste liegen überall auf dem Boden, und überall sind Felsen und große Steine auf dem Weg. Plötzlich sind wieder barfüßige Spotter vor uns, und sie haben noch mehr Tiere gefunden: Zwei Jungtiere und ein Männchen von Brookesia brunoi. Trotz ihrer winzigen Größe tragen sogar schon die Kleinen ihre „Helme“. Ich bin ganz verzaubert von den braunen, eher unscheinbaren Winzlingen. Wir klettern über einige größere Felsen nach oben, bis wir auf unter einer schrägen, enorm steilen Felswand stehen. Adrian lacht und deutet hinauf: „Da wollen wir hin!“ Oha. Ein Seil hängt vom Felsen, daran soll man sich festhalten. Zu meinem Erstaunen klappt das Klettern aber einwandfrei, und macht irre Spaß. Die Felsen sind rau wie Schmirgelpapier, dadurch hat man mit den dicken Schuhen wunderbar Halt, selbst auf der steilen Wand. Oben vom Felsen aus ist die Aussicht gigantisch. Ich kann über das gesamte Reservat schauen, und bis weit über die Reisfelder hinaus. Hier nehmen wir uns Zeit, um ein paar Kekse zu essen und etwas zu trinken. Der Wind weht mir durch die Haare, und ich genieße die Sonne im Gesicht.
Irgendwann rutsche ich – auf dem Hintern sitzend natürlich – bis zur Felskante. Es geht steil in die Tiefe, Absperrungen gibt es hier nicht. Auf einem benachbarten Felsen entdecke ich eine kleine Gruppe Kattas, die sich entlang eines Felsgrates bewegen. Schließlich springen sie auf eine große Felsplatte, auf der sich durch den Regen der letzten Tage eine große Pfütze gebildet hat. Nach und nach trinkt jeder der Kattas vom aufgewärmten Wasser, dann springen sie wieder davon.
Nach der Pause geht es hinten am Felsen wieder nach unten, zum Glück weniger steil. Der Weg führt eher über riesige, zu einer natürlichen Treppe aneinander gereihte Findlinge. Schließlich seile ich mich hinter den anderen an einer Schräge bis in eine Höhle hinab, durch die es schließlich wieder nach draußen in den Wald geht. Und hier wartet noch eine Überraschung, bevor wir schon zum Ende unserer Wanderung kommen: Eine kleine Gruppe Kattas sitzt hoch in den Bäumen, es sind bestimmt zehn oder 15 Tiere. Mehrere Jungtiere sind dabei, die uns neugierig aus den Baumkronen beobachten und miteinander herum tollen.
Ein schmaler Betongrat führt entlang eines Bachs – oder nein, eigentlich ist es eher eine vor sich hin dümpelnde Wasserrinne. Unmengen Moskitos schwirren mir um den Kopf. Im Reisfeld direkt daneben ernten in bunte Tücher und Shirts gekleidete Frauen gerade Reis. Sie grüßen freundlich, ich grüße zurück. Ein paar Meter weiter führt der Weg wieder zurück in den Trockenwald. Schließlich führt der Pfad wieder etwas nach oben auf einen Hügel, und ich erkenne, dass wir wieder zu dem Parkplatz von heute Morgen kommen, von dem man so eine gute Aussicht auf das Reservat hat. In einem Baum direkt vor dem Platz findet Adrian noch knallbunte Raupen und ein Fröschchen.
Es ist schon spät, als wir das Anja Reserve hinter uns lassen und die Straße zurück nach Ambalavao nehmen. Endlos viele Zebuherden kreuzen unseren Weg. Sie sind alle auf dem Weg zum Viehmarkt, der der größte in Madagaskar ist. Zebus aller Größen werden in kleineren und größeren Herden vor uns hergetrieben. Immer wieder muss Christian anhalten, und sich mit dem Bus in Schrittgeschwindigkeit durch die vielen Rinder drängeln. Wenn die Männer, die die Zebus hüten, es früh genug sehen, versuchen sie, die Tiere von der Straße zu treiben – nur klappt das eben nicht immer.
Das Abendessen gibt es heute auf den Straßen von Ambalavao. Die Stadt gefällt mir gut: Voller freundlicher, lächelnder Menschen, überall ist was los. Wir schlendern vom Hotel aus an einer Kirche vorbei und Richtung Markt. Am Straßenrand finden sich am späten Nachmittag viele kleine Stände, an denen Frauen und Männer Snacks für wenig Geld anbieten. Bei einer freundlichen Frau kaufe ich kleine, frittierte Teignupsis mit Kassava drin, dem Grünzeug der Maniokwurzel. Es schmeckt sehr lecker, und die Frau bietet geschäftstüchtig an, dass sie gleich noch mehr machen kann. Sie frittiert die Teiglinge in einer Wok-ähnlichen Pfanne in brodelndem Öl, und das Ganze steht auf einem kleinen Holzkohlegrill. Nur ein paar Meter weiter gibt es noch Kartoffeltaler mit winzigen Fleischstückchen drin, und wieder zehn Meter weiter eine Art Frühlingsrollen mit Fleisch und Gemüse. Ich schlemme mich genüsslich am Straßenrand entlang. Mein Highlight sind frittierte, kleine Bananen für 50 Ariary das Stück – das sind mit viel Wohlwollen ein, zwei Cent pro Stück. Ein Genuss!
Schließlich führt Tanala uns nach links in Richtung des großen Marktes von Ambalavao, wo auch der berühmte Kräutermarkt liegt. Da es schon spät ist, sind viele Verkäufer bereits verschwunden. Die Gerüche des Marktes sind, nunja, eigen. Brutal stinkender Fisch auf Spießen raubt mir fast den Atem. Es gibt jede Menge Gemüse, darunter Tomaten, Ingwer, Karotten, aber auch Obst wie Äpfel. Hinter der Kräuterecke schlendern wir weiter zu den Metzgerei-Hütten, die für europäische Ansichten schon sehr gewöhnungsbedürftig sind. Auf uralten, schmutzigen Holzplanken, in den besseren Hütten auf Fliesen, liegen alle erdenklichen Stücke Rindfleisch. Ein Verkäufer zeigt stolz auf einen blauen Stempel, der auf seinem Fleisch prangt: Das ist der Stempel, dass das Fleisch von heute und frisch ist. Frisch ist allerdings wohl Definitionssache bei 25°C ohne Kühlung. Wir gehen weiter und kommen zu einem großen Platz voller Stände, die meisten bereits verwaist. Überall rennen kleine Kinder herum, es ist endlos dreckig, der Boden ist überall mit Müll versehen. Enten, Hühner und tschilpende Küken flitzen dazwischen umher. Ein kleines Mädchen mit großen Augen schleicht sich an Tanala heran, berührt ihn dann am Arm und rennt dann zu ihren Freundinnen zurück, um sich wie ein Schnitzel zu freuen, einen Vazaha angefasst zu haben. Hier kommen offenbar wenige Reisende vorbei.
Auf dem Rückweg erstehe ich noch eine Flasche Wein von Soavita, einer Winzergemeinschaft der Gegend. Sie kostet immerhin 9500 Ariary und ist, da das ein für Madagassen sehr hoher Preis ist, auch schon reichlich angestaubt. Aber das Etikett ziert ein Chamäleon! Jahreszahl steht allerdings keine darauf. Ob das am mangelnden Absatz liegt oder man hier grundsätzlich Jahrgänge nicht so wichtig findet, weiß ich nicht. Außerdem hat kurz vor dem Hotel noch ein winziger Grill eröffnet: Ein Mann gart auf einem gerade mal DIN A 4 Blatt großem, selbst gebauten Grillrost über offenem Feuer kleine Fleischspieße. Neben ihm auf der kleinen Holzbank ist für gerade eine weitere Person Platz. Drei Sorten Brochettes gibt es bei ihm: Zebufleisch, Zebuherz und Zebuhoden. Ich probiere alles mal – Herz ist lecker, Hoden schmeckt mir zuviel nach Innereien, geht aber. Mit einem eiskalten THB aus dem kleinen Geschäft direkt nebenan kann man es jedenfalls gut runterspülen. Inzwischen ist es dunkel geworden, und es ist Zeit, zurück zum Hotel zu gehen.