Nordosten 2015

Der Tag der blauen Couas

Seidensifakas
Seidensifakas

Es ist früh am Morgen, die Sonne ist gerade aufgegangen. Ich ziehe den Reißverschluss des Zeltes auf, und schnuppere die kühle Luft des Regenwaldes. Dann döse ich noch ein bisschen bei offenem Zelt, während Tanala schonmal Zähne putzen geht. Kurz nach Sechs sitze ich schon beim Frühstück mit Baguette und Rührei in der Gemeinschaftshütte.

Nestor, der kleine, drahtige Kerl mit dem Fußballtrikot, ist schon wieder seit zwei Stunden unterwegs. Er sucht die Sifaka-Gruppe, die er gestern am späten Nachmittag verlassen hat. Wenn einer die Tiere findet, dann Nestor. Er hat ein unglaubliches Gespür für die Sifakas und kennt sich im Wald aus wie kein anderer. Heute versuchen wir, Nestor  – und damit die Seidensifakas – in den Tiefen des Urwaldes zu finden. Mosesy geht voran. Ich überquere hinter ihm den Fluss und schlage die Richtung zu Camp Simpona ein. Der „Teufelsrücken“ wartet. Im Trockenen ist das Wurzelwerk mit den monströs großen „Stufen“ zwar auch sehr anstrengend, aber wie schon der Weg zu Camp 2 gut machbar. Als ich zwischen den Wurzeln eines Urwaldriesen eine Verschnaufpause einlege, fliegt direkt vor mir ein blauer Coua durchs Geäst. Schon wieder! Dieser schöne blaue Vogel ist doch angeblich so selten! Manche Vogelkundler kommen nur wegen dieses Vogels nach Madagaskar. Ich habe zwar immer noch kein Foto von diesem Tier gemacht, aber es immer wieder gesehen.

Marojejy
Marojejy

Diesmal muss ich nicht den ganzen Teufelsrücken nach oben. Nach gerade einmal zehn Metern geht es querfeldein weiter. Guy hat gerade noch irgendeinen Boophis in einem Pandanus gezeigt. Ich hangele mich – diesmal übrigens mit Handschuhen – von Baum zu Baum. Der Hang, an dem ich gerade klettere, ist enorm steil, es geht sicher fünfzig Meter einfach in die Tiefe. Nach ein paar Minuten gelange ich an einen riesigen, grün bemoosten Baumstamm, der quer über den „Weg“ liegt. Die Madagassen hüpfen behände darüber, ich bin allerdings zu klein dafür. Wie eine Rutsche liegt der Baum mit den Wurzeln nach oben und mit dem Stamm meterweit in die Tiefe ragend da. Ich hänge mich also bäuchlings auf den Stamm und klammere mich am feuchten Moos fest, während ich versuche, mit dem rechten Fuß den Kontakt zum Boden wiederherzustellen, den ich gerade mit dem linken verloren habe. Dahinter geht es weiter entlang eines kleinen Bachs, steil nach oben und ebenso steil wieder nach unten. Man könnte hier eigentlich prächtig seine Höhenangst ausleben, aber praktischerweise bin ich völlig vertieft darin, meine Hände und Füße voreinander zu setzen und mein Gleichgewicht zu halten. Ohne Regen läuft es sich selbst querfeldein besser, trotzdem es immer noch sehr rutschig ist – und weniger steil werden die Schluchten auch nicht. Guy, Mosesy und die anderen Madagassen halten über Rufe Kontakt zu Nestor. Wie sie feststellen, woher die lauten „Huuuuh“-Rufe von Nestor kommen? Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls antworten sie mit „Huuuuh huuuuuuuh“ Rufen, und so arbeiten wir uns begleitet von diesen eulenähnlichen Rufen durch den Regenwald. Irgendwann, ich habe längst die Orientierung verloren (falls ich denn je eine hatte in diesem undurchdringlichen Wald), komme ich an eine steile Felswand. Ein kleiner Ast läuft darüber. Entlang einer armdicken Liane soll ich mich hinüber hangeln. Ich traue der Sache nicht. Nur weil die Liane einen kleinen Nestor aushält, trägt die mich noch lange nicht. Schließlich setze ich einen Fuß auf die Liane, es knarzt bedrohlich. Dann drücke ich mich an den Felsen und schiebe mich einfach zentimeterweise weiter nach vorne. Es muss recht lustig aussehen, denn der ein oder andere Madagasse grinst in sich hinein. Aber zumindest komme ich heil auf der anderen Seite an.

Kurz dahinter entdecke ich endlich Nestor. Er strahlt, und das ist bei ihm relativ selten. Ein weißer Schatten huscht in 30 Metern Entfernung durch die Baumwipfel. Ich klettere den Engeln des Waldes hinterher – deutlich weniger engelsgleich, eher plump und unbeholfen. Die Sifakas müssen gefühlt denken, dass gerade unter ihnen der Wald abgerissen wird. Schließlich stehe ich direkt unter einer kleinen Gruppe von sechs Tieren. Eine Mutter mit ihrem neunmonatigen Jungtier springt etwas weiter nach hinten. Dimby, Gerd, Martin und ich folgend den beiden. Wenig später stehen wir nur drei Meter von diesen seltenen Tieren entfernt an einem Hang, und Mutter und Sohn sitzen einträchtig nebeneinander auf einem niedrigen Ast. Sie beobachten uns, nehmen uns aber offensichtlich nicht als Bedrohung wahr. Ich wage kaum zu atmen. Das Muttertier legt einen Arm um das Jungtier, flaust ihm durch das Fell und der Sohnemann kuschelt sich näher an sie heran. Traumhafte Tiere – es ist der Wahnsinn, sie aus dieser Nähe beobachten zu können. Der zauberhafte Moment wird gestört, als der Rest der Gruppe sich nähert. Die beiden Seidensifakas bewegen sich ein bisschen tiefer in den Wald, und wir folgen mora mora. Nach einer Weile sehe ich sie nur noch weit oben in den Baumkronen ruhen, ab und zu springt eine weiße Gestalt von Baum zu Baum. Es ist Zeit, die Sifakas wieder alleine zu lassen.

Tausendfüßler
Tausendfüßler auf meinem Fuß

Wir gehen zurück, oder zumindest irgendwohin, von dem Mosesy sagt, es sei Camp Marojejya. Tatsächlich sind es kaum 200 Meter bis zum Teufelsrückenweg zwischen Camp 2 und 3. So nah waren die Sifakas also am Camp! Nestor lacht und freut sich wie irre, uns die Seidensifakas so nahe gezeigt zu haben. Er hat seine Mission mehr als erfüllt. Dieses Jahr haben wir wirklich unglaubliches Glück, und die richtigen Guides natürlich.

Kaum überqueren wir die Felsen am Fluss, liegt schon der erste Schweizer in der natürlichen „Badewanne“. Ich setze mich dazu, und nach und nach trudeln alle halbnackt im Wasser ein. Biltong in der einen Hand, eine Flasche Cola in der anderen, die Sonne im Rücken, die Füße im kühlen Wasser und den Regenwald vor einem ausgebreitet – besser geht es kaum. Während ich so da sitze, krabbelt links auf einem Felsen auf einmal ein riesiger Tausendfüßler vorbei. Und riesig trifft es noch gar nicht so richtig, das Tier hat gut die Länge meines ganzen Unterarms inklusive Hand! Es ist dicker als mein Daumen, und dabei völlig harmlos und freundlich. Bereitwillig läuft es über meinen Fuß. Die Hunderte kleinen Beinpaare kitzeln auf der Haut. Ein Madagaskarbussard zieht seine Kreise und beobachtet uns beim Baden.

Währenddessen bereiten die Köche in der weit über uns thronenden Hütte das Mittagessen zu. Ich beschränke mich heute auf den erfrischenden Gurken-Karottensalat mit Zwiebeln und danach ein paar Ananasstücke. Als ich gerade so vor mich hin kaue, stupst Dimby mich an und zeigt auf ein dünnes Bäumchen direkt hinter der Holzplattform unserer Gemeinschaftshütte: Ein Calumma cf. radamanus krabbelt gerade daran hoch, und durch die Wärme und die Sonne ist es fast schneeweiß. Ich tapse barfuß auf die wackeligen Stufen zwischen den beiden Hüttenteilen, und versuche von dort aus das Tier zu fotografieren. Leider übersehe ich einen rostigen Nagel, und reiße mir daran ein ordentliches Loch zwischen zwei Zehen. Scheiße, das tut mal ordentlich weh. Ich nehme ein Stück rote Plastiktüte und binde sie als Warnung um den hochstehenden Nagel – wenigstens ist der jetzt weithin sichtbar markiert. Als Entschädigung flitzt ein wunderschöner, knallbunter Phelsuma quadriocellata über die Holzbalken direkt neben mir.

In Flip-Flops rutsche ich nach unten zu den Zelten. Es gibt noch eine Runde Fotos, diesmal mit einer Paroedura gracilis, die sich äußerst fotogen in Position wirft bzw. setzt. Direkt gegenüber meines Zeltes liegt ein zusammengerolltes Ei-Paket eines Giraffenhalskäfers. Nur den kleinen Käfer dazu finde ich partout nicht, er ist einfach zu winzig. Stattdessen finde ich jedoch eine kleine, marmorierte Gottesanbeterin.  Und einen Uroplatus finaritra, der erst ein paar Jahre später beschriebenwird. Marojejy hat einfach noch so viele Geheimnisse, dass man hier noch Jahrzehnte lang forschen könnte.

Uroplatus cf. ebenaui
Uroplatus finaritra

Danach heißt es wieder „Entspannung auf den Felsen“ – von dieser traumhaften Kulisse kann man sich auch nur schwer losreißen. Auf einmal wackeln die Baumwipfel links des Flusses – es sind die Seidensifakas! Kaum zu glauben, dass sie sich so nah ans Camp wagen. Eine kleine Gruppe hupft durchs Geäst, bleibt kurz sitzen, und zieht dann weiter. Ich kann sie in rund 50 Metern Entfernung noch ausmachen. Alle sitzen noch ganz gebannt von den Simponas auf den Felsen, als plötzlich ein blauer Coua von einer Seite des Flusses zur anderen fliegt. Und dann noch einer. Und noch einer. Da muss doch irgendeiner im Regenwald stehen und die an einer Leine entlang ziehen, das gibt es ja gar nicht. Aber es ist wirklich so. Insgesamt habe ich heute damit fünf blaue Couas gesehen, an einem einzigen Tag. Mit den Couas verzieht sich auch der blaue Himmel. Nebel zieht auf, Regenwolken kommen auf. Es wird merklich kühler.

Phelsuma quadriocellata
Phelsuma quadriocellata

Beim Abendessen finde ich alle Teile eines Huhns in meinem Essen wieder. Auch die Bürzeldrüse, einen Magen und eine Leber. Die Sauce ist aber gut. Spät am Abend tauchen Mosesy und Guy wieder im Camp auf. Mit geliehenen Stirnlampen haben sie nach Tieren gesucht, und wollen sie uns morgen dann zeigen (vorausgesetzt, die Tierchen sind dann noch an Ort und Stelle). Ich bin todmüde. Es ist Zeit, an der Matratze zu horchen.

Veröffentlicht von Alex

Alex ist 35 Jahre alt, wohnt in der Nähe von Mainz und ist im echten Leben fernab des Urlaubs Tierarzt mit Faible für Reptilien. Sie fotografiert und reist gerne - so entstand auch dieser Blog. Nebenbei hält sie selbst Chamäleons zu Hause, schreibt an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, betreibt ein kostenloses OnlineMagazin und erstellt Malbücher für madagassische Kinder.

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