Es ist drei Uhr nachts, als ich das erste Mal aufstehe. Ich muss mal ganz dringend zum Klohäuschen… Ich erwarte, das ganze Camp schlafend vorzufinden. Doch von unten sehe ich in der Gemeinschaftshütte Licht: Die Köche sind schon wach, packen Töpfe ein und bereiten das Frühstück vor. Um fünf Uhr stehe ich dann „richtig“ auf. Vielleicht ist es auch kurz vor oder kurz nach, keine Ahnung, ich bin nur physisch anwesend. Mir ist das viel zu früh. Obwohl es gefühlt gerade mitten in der Nacht ist, haben alle schon gefrühstückt, und ich bin mal wieder der Nachzügler. Trotzdem haben die Jungs noch Omelette, Ananas und Brot übrig. Der Camp-Mungo huscht eifrig hin und her, und versucht, die letzten Stücke abzubekommen.
Um kurz nach Sechs ist schon Abmarsch. Mosesy, Tanala und ich sind die letzten, die die inzwischen leer gefegte Gemeinschaftshütte verlassen. Alle anderen sind schon unterwegs, irgendwie ist das an mir vorbeigegangen. Also gehen wir los, verabschieden uns von der Wahnsinn-Regenwaldkulisse und treten den Rückweg von Camp Marojejya an. Ein letzter Blick zurück zu dem tollen Wasserfall, dann verdecken Büsche und Bäume die Sicht. Ziemlich fix schon sind wir in Camp Mantella, wo es eine kurze Pause zum Verschnaufen und Wassertrinken gibt. Direkt über dem Schild, dass zum Humbert-Wasserfall weist, sitzt ein großes, hübsches Pantherchamäleon-Männchen. Es ist rot und grün, fast wie die Tiere von Nosy Mangabe, nur mit mehr Streifen.
Schließlich geht es weiter nach unten. Direkt am Wegesrand finden wir noch zwei Uroplatus giganteus, ohne dass wir danach gesucht hätten. Aber sie sitzen so perfekt in Blickhöhe, dass ich an ihnen nicht vorbeikomme. Mosesy läuft mit ein paar Jungs aus der Küche hinter uns. Er findet den Weg überhaupt nicht anstrengend und plappert die ganze Zeit vor sich hin. Wahrscheinlich findet er nebenher noch viel mehr Blattschwanzgeckos. Bei dem Dialekt versteht man von seinem Kauderwelsch einfach gar nichts, aber es ist recht lustig, ihm zuzuhören. Vor allem, wenn wenige Meter vor einem schwer angestrengte Deutsche sich abplagen und hinter einem Mosesy, der über 60 sein dürfte, munter einher schlendert. Gegen zehn Uhr erreichen wir den Parkeingang.
In der kleinen Hütte wimmelt es nur so von Stechmücken, deshalb geht es zügig weiter. Zwei Köche mit großen Reissäcken auf dem Kopf, voll mit Kochutensilien, gesellen sich zu unserer kleinen Gruppe aus Tanala, mir, Brisco und den zwei Dimbys. Die ursprüngliche Gruppe verliert sich in Marojejy auf Grund des unterschiedlichen Lauftempos sehr schnell, so dass quasi jeder für sich oder zu zweit, oder dritt, läuft. Nur am Schluss geht immer ein Guide, um die „Reste einzusammeln“, falls es jemand nicht packt.
Eine armdicke Leioheterodon madagascariensis kreuzt den lehmigen Weg. Die Luft in der Ebene ist erträglich. Naja gut, als das Thermomter über 32°C steigt, gucke ich einfach nicht mehr drauf. Mein Mini-Ventilator bewährt sich einmal mehr. Auf einem jungen Tamarindenbaum entdecke ich ein weiteres Furcifer pardalis, das gerade gemächlich im Wind wackelnd über einen dünnen Ast klettert. Es hat ähnliche Farben wie das von Camp 1, rot und grün. Ich laufe gerade an einem Reisfeld entlang, als ich direkt auf einem Zaun aus Bambusstäben ein Wahnsinns-Pantherchamäleon entdecke. Das Tier ist von der Sonne aufgewärmt und zeigt leuchtende orangerote und gelbe Farben. Ein Wahnsinnsmännchen! Es hat schon einige Narben am Körper, die von vielen Kämpfen mit anderen Chamäleons zeugen. Das Leben ist nicht leicht in der Wildnis. Die anderen scheinen an dem tollen Tier einfach vorbeigelaufen zu sein. Wenig später rasten wir unter einem großen Mangobaum. Annika ist gestolpert, und dann leider wie ein Baum auf das Gesicht gefallen. Huiuiui… zum Glück ist nicht viel passiert, und nach einer kleinen Stärkungspause laufen wir weiter.
Die letzten beiden Kilometer – das sagte zumindest das Schild, vielleicht sind es aber auch mehr – ziehen sich wie Kaugummi. Kaum ein Windchen geht mehr, die Luft liegt dick und bleiern über mir und den anderen. Der Ventilator nutzt nichts mehr. Die Mittagshitze wabert aus den Reisfeldern nach oben und scheint direkt auf den Wegen zu stehen. Rechts und links des Weges stehen einzelne, niedrige Kaffeebäume, an denen sich Vanillepflanzen emporranken. Eine Mischplantage ohne Plantagencharakter sozusagen.
Endlich sehe ich die ersten Hütten von Mandena, einem der beiden kleinen Hüttendörfchen bei Marojejy. Tanala und ich verteilen Luftballons an die Kinder des Dorfes. Zwischen den Hütten liegen ein paar müde Schweine herum, rosa Ferkel quietschen zwischen den Kindern herum. Das „Kino“ von Mandena, eine staubige Bretterbude mit uralten Kinoplakaten, hat heute Mad Max I im Angebot. Ein paar Hütten weiter ist die Nummer des nächsten Tierarztes über eine Tür auf die Holzbalken einer Hütte gekritzelt. Ich frage nach, wie das hier mit dem Tierarzt funktioniert: Es ist ganz einfach. Benötigt jemand einen Tierarzt, so ruft er die Nummer an, und der kommt dann aus Sambava hierher. Das kostet natürlich und deshalb wird er in den meisten Fällen erst dann gerufen, wenn es wirklich dringend ist – oder es sich um ein wertvolles Zebu handelt.
Hinter Mandena stelle ich erschöpft fest, dass Tanalas geratene zwei Kilometer wohl stimmen. Irgendwie ist mir der Weg zwischen den beiden Dörfern völlig entgangen. Ein kleiner, geschlängelter Pfad führt durch hüfthohes Gras, und geht dann wieder in den breiteren, aber umso kaputteren Feldweg über. Der Weg zieht und zieht sich ewig dahin… Dann erreiche ich Manantenina doch noch. Am Straßenrand stehen ausgebrannte und ausgeschlachtete Busskelette. Nur noch durch das Dorf durch, dann bin ich gleich da! An der Hauptstraße biegen wir links ab. Ein THB-Laster rattert und rumpelt in Windeseile an uns vorbei. Zwei Taxibrousse überholen uns, eine Menge Madagassen hängen johlend und winkend aus den Fenstern. Der letzte Hügel führt direkt zum Park Office. Endlich angekommen! Ich lasse mich auf eine kleine Holzbank neben dem Office fallen und bleibe erstmal eine ganze Weile sitzen. Dann ziehe ich die Schuhe aus, und wechsle wieder auf Flip-Flops. Meine Füße sind unschön angeschwollen, anscheinend haben sich die diversen Maularschlochfliegen-Bisse an den Knöcheln infiziert. Die eitern nämlich seit heute morgen, und sind von den Schuhen noch ganz wunderbar aufgescheuert worden.
Aber es gibt Wichtigeres zu tun: Ich zahle Brisco aus, und er freut sich sehr über das ziemlich anständige Trinkgeld. Aber er hat es verdient, schließlich wurde mir der Fotorucksack überall hingetragen und selbst meine Getränke musste er oft genug festhalten. Die Träger des Gepäcks werden diesmal im Office bezahlt, was mir nicht gefällt – nicht dass sich da jemand noch Geld abzweigt, der gar nichts gemacht hat? Nach langem, nervigen Nachbohren steht fest: Nein, alle haben ihr Geld bekommen. Nachdem der finanzielle Teil geklärt ist, versammeln sich alle zur großen Kabary. Auch viele aus dem Dorf sind gekommen. Martin bedankt sich für die vielen Abenteuer, die fantastischen Tierfunde, die entstandenen Freundschaften. Es war ein großartiges Erlebnis. Trinkgelder werden verteilt, ganze Geldbündel wechseln den Besitzer. Wer in Marojejy war, weiß die Hilfe der Madagassen zu schätzen. Mosesy spricht für das Dorf, die Köche und die Träger. Auch er bedankt sich überschwänglich, und hofft sehr, dass wir bald wiederkommen. Zum Abschied werden unendlich viele Hände geschüttelt.
Der weiße Bus steht schon bereit. Mosesy steigt mit ein, er fährt mit uns nach Sambava. Der Busfahrer fährt ganz schön flott, ist wohl früher mal Taxibrousse gefahren. Die 65 km bis Sambava döse ich mehrheitlich vor mich hin. Die meisten sind eingeschlafen. Marojejy ist einfach anstrengender als man denkt. Ich schwelge ein bisschen in Erinnerungen, während wir die grünen Hänge des heiligen Gebirges hinter uns lassen.
Gegen 14 Uhr erreichen wir Hotel Mimi. Der erste Weg führt diesmal ins Restaurant, denn wie wir von letztem Jahr wissen, schließt es um drei. Ungeduscht, verschwitzt und mit dreckigen Schuhen sitzen wir also an der langen Tafel des Hotels, und ich verdrücke eine große Portion Spaghetti Bolognese und zwei große Flaschen Cola. Bruno begrüßt uns, er schmunzelt beim Anblick der verschwitzten Gruppe. Gut riechen wir bestimmt auch nicht mehr. Nein, eigentlich stinken wir alle wie die Frettchen. Nach dem Essen springe ich direkt unter die Dusche, Tanala und ich haben wieder das Zimmer im ersten Stock. Sobald man sich wieder in „frischer“ Gesellschaft befindet, merkt man erst den Gestank, den die Klamotten von Marojejy abgeben. Ich shampooniere meine Haare gleich doppelt zur Sicherheit. Zähneputzen, rasieren, da fühlt man sich fast wie neu geboren. Meine kaputten Füße versorge ich provisorisch mit Pflastern, damit wenigstens die ganzen Fliegen nicht dauernd an die Wunden gehen.
Den Nachmittag ruhe ich einfach aus und beobachte wunderschöne, große Phelsuma laticauda überall an den Wänden der Bungalows. Am Abend trifft sich unsere Gruppe im Restaurant, auch die hier gebliebenen sind erschienen –und vielleicht ein bisschen traurig, dass sie sich nicht nach Marojejy gewagt haben. Das Wifi im Restaurant geht natürlich nicht, warum sollte es auch? Diesmal nutzt auch den Router aus- und wieder einzuschalten nichts. Mist. Vor fünf Tagen funktionierte das Wifi angeblich prächtig, da habe ich es aber nicht genutzt. Jetzt wollte ich mal ein Lebenszeichen nach Hause schicken. Dimby hat inzwischen die kompletten Aufgaben der angestellten Bedienung übernommen – mit mehr als zwei Gästen ist sie einfach überfordert. Deshalb nimmt Dimby jetzt Bestellungen auf, reicht sie an die Küche weiter, kontrolliert, dass das Essen auch ankommt und trägt Getränke zum Tisch. So ist das auf Madagaskar.