Zeit, aus Ambilobe heraus zu kommen!
Ich geselle mich heute zu Gris und Tanala ins Auto. Dimby ist mit Eric und Andry auf dem Markt unterwegs, um Proviant für das Camping im Montagne d’Ambre einzukaufen. Gris fährt deutlich anders als Dimby. Während Dimbys Fahrstil immer ruhig und gediegen ist, fährt Gris… naja, wie eine gesenkte Sau. Das mag auch daran liegen, dass die umher gondelnden Taxibrousse ständig und überall im Weg sind. Slalom fahren muss man hier schon können. Aber bei Schlaglöchern, in die ein kompletter Fiat Panda reinpassen würde, ist Gris‘ Fahrstil schon etwas zackig. Es geht im Schuss raus aus Ambilobe, und vorbei an Wiesen und träge einher wandernden Zebus einen Hügel in gewundenem Weg nach oben. Irgendwo dahinter biegen wir in eine Schottereinfahrt. Das Dorf auf der anderen Straßenseite – oder vielmehr die paar Holzhütten – heißt Mahamasina. Wir halten neben einem weißen Steinhäuschen mit rotem Satteldach. Direkt am Zaun des Park Office wartet bereits ein riesiger, knallgrün leuchtender Taggecko auf uns. Wir haben ein wenig Zeit, uns umzusehen, und so sind schnell die ersten Reptilien des Tages außer dem Gecko gefunden. Nur wenige Meter weiter am Zaun und in einem kleinen Baum finden sich insgesamt drei Furcifer oustaleti in unterschiedlichen Größen- und Altersstufen.
Mit Jocelyn und Florent geht es los in den Wald. Bis zu einem kleinen Parkplatz, der von Bäumen und einer alten Steinfassade umgeben ist, fahren wir mit den Landcruisern. Dann geht es zu Fuß durch hüfthohes, ausgedorrtes Gras einen roten Sandpfad entlang nach Ankarana. Es geht eine Treppe nach unten und ein ausgetretenes, matschiges Flussbett entlang, dann stehen wir schon vor der Pèrte des rivières, einem riesigen steinernen Loch, in das die Flüsse Ankaranas münden. Ankarana hat das größte unterirdische verlaufende Flussnetzwerk Afrikas. Direkt über der Wand neben dem Loch steht ein riesiger, schlanker Baobab. Kaum zu glauben, dass der in der Regenzeit mit den Wurzeln im Wasser steht – jetzt ragen die Wurzeln etliche Meter über uns in die Höhe. Doch die Regenzeit ist gerade erst zu Ende, alles ist noch nass. Große Pfützen stehen noch zwischen den Steinen. Im feuchten Lehm zwischen den Steinstufen suchen kleine, orangefarbene und große, schwarz-blaue Schmetterlinge nach Mineralien. Oder nach irgendwas anderem, jedenfalls fliegen sie sehr geschäftig umher und sehen sehr hübsch aus.
Wir klettern die steinernen Stufen auf der anderen Seite der Pérte des rivières nach oben und gelangen wieder in den Trockenwald. Das Flussbett, dass wir überqueren, steht noch teils voll Wasser. Ein seltener Anblick – sonst sind die riesigen Findlinge um diese Jahreszeit bereits staubtrocken.
Was Tiere angeht, scheint heute ein Glückstag zu sein. In Ankarana kann es recht schwierig sein, Tiere zu finden. Das liegt zum einen am Trockenwald selbst, der eben – wie der Name es schon vermuten lässt – sehr trocken ist. Das findet das Durchschnittsreptil eher blöd. Zum anderen liegt das an der sehr schnell heraufziehenden, enormen Hitze tagsüber. Wer hier aktiv ist, ist das morgens und macht den Rest des Tages gar nichts mehr. Nicht so wir. Wir laufen mittags immer noch herum. Wir haben jedoch wie schon gesagt Glück, denn es hat erst geregnet, so sind viele Tiere noch äußerst aktiv. Hier flitzt ein Taggecko über einen Baumstamm, dort lugt ein Wieselmaki verschlafen aus seinem Astloch heraus. Apropos Wieselmaki. Ganze fünf dieser wundersamen Geschöpfe entdecken wir auf dem Weg zu den Tsingys, den Nadelsteinfelsen Ankaranas. Wieselmakis sind sehr neugierige Gesellen, die eigentlich tagsüber schlafen, aber doch nachgucken müssen, was da unter ihnen soviele Geräusche macht.
Jocelyn macht sich einen Spaß daraus, uns die Tiere selbst suchen zu lassen, und alle sind eifrig dabei. Der eine ist ein bisschen erfolgreicher als der andere, und mancher sieht auch einfach gar nichts zwischen den vielen dünnen Ästchen und Blättchen. Steffi entdeckt einen wunderschönen, riesigen Gecko an einem Baumstamm, der sich geduldig fotografieren lässt: Blaesodactylus boivini. Gegenüber meint Jocelyn, dass dort auch noch etwas säße. Es weiß nur niemand so genau, was er meint. Schließlich löst er das Rätsel auf und deutet auf einen kleinen, fast unmerklichen Hubbel in Kniehöhe: Ein Blattschwanzgecko schmiegt sich eng an einen schmalen Baumstamm. Seine bizarren Hautanhängsel lassen seinen Körperumriss mit der Rinde vollständig verschmelzen. Uroplatus henkeli, die hier vorkommende Art, ist leicht an seinem „Bärtchen“ zu erkennen: Der gesamte Unterkiefer ist mit fransigen Hautanhängseln versehen. Und Uroplatus henkeli finden wir heute einige! Einer der Blattschwanzgeckos wird aktiv, als er die Fotografen um sich herum bemerkt – und springt sogar direkt auf eine der Kameras (eine Canon, nur so am Rande).
Irgendwo auf dem Weg zu den Tsingys ruft jemand plötzlich „Ha, da! Guckt mal!“ Eine kleine, gestreifte Schlange liegt im Laub. Und sie ist schwer beschäftigt damit, einen gerade erbeuteten Gecko aufzufressen. Bis ich da bin, ist der Gecko heruntergeschluckt und nur ein winziges Stück Schwanz schaut noch heraus, während sich die Schlange schon eilig davon macht.
Und die Reptilien-Glückssträhne reißt nicht ab. An einem quer liegenden, umgefallenen Baumstamm sitzt eine Mahafalynatter. Ihr Kopf ragt wie ein Stöckchen in die Höhe, und starr wie ein Stock bleibt sie in der Position, als ich mich nähere. Sie hält die skurrile Position auch noch, als ich das ein oder andere Foto schieße. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit bewegt sich sich, und in Zeitlupentempo schiebt die Natter sich Stück für Stück über den Baumstamm. Ich tapere also wieder den anderen hinterher, die inzwischen 50 Meter weiter auf dem Boden herumkriechen. Es ist gar nicht mehr so weit zu den Tsingys, nur noch ein paar Stufen herunter. Im Laub, zwischen rotbraunem Lehmboden und trockenen Blättern, wackelt ein kleines Erdchamäleon herum.
Irgendwann erreichen wir doch noch die Tsingys. Ein graues Meer aus scharfen Felsen liegt vor mir. Wir folgen dem Weg entlang der Tsingys. Irgendwann sind alle weg, weil ich zwischendurch Fotos mache und mich mehr von Schattenfleck zu Schattenfleck bewege als stetig zu laufen. Der Weg ist aber auch so ganz gut sichtbar: Wo genug Schuhe gelaufen sind, haben die Felsen eine schwarz-rote Färbung angenommen. Es ist inzwischen längst Mittag. Flirrende Hitze steht über den Tsingys. Ich spüre die Hitze der Felsen durch meine Schuhe. Wegen der Regenzeit blüht und grünt es zwischen den Felsen – auch wenn die meisten Pflanzen dicke, knorrige Äste und nur winzige, dickfleischige Blättchen haben.
Auf Dreiviertel der Strecke zum Aussichtspunkt setze ich mich in den Schatten, genieße die Stille, mampfe ein paar Kekse und leere meine Wasserflasche. Die anderen werden schon noch merken, dass sie den Weg auch wieder zurücklaufen müssen. Gut, die Aussicht von oben ist etwas besser. Ich finde das Felsenmeer auch schon von hier beeindruckend. Wenn auch sehr grau.
Nach ein paar Minuten kommt eine fremde Gruppe vorbei, alles ältere Herrschaften, grauhaarig, teils mit Wanderstöcken. Als eine dickere Dame im pinken T-Shirt und ein Herr mit Khakihosen und bis auf die Nase reichendem Schlapphut vorbeilauft, höre ich ein schwäbisches „Guad dass mea de Steckle dabei hen…“ Nicht mal auf Madagaskar ist man vor Schwaben sicher. Ich oute mich vorsichtshalber nicht als Deutsche und schaue sinnierend in die Ferne.
Nach einer ganzen Weile kommt meine Gruppe wieder zurück, und ich trotte wie die anderen über die vielen Steine wieder dahin, wo wir herkamen. Langsam steigen wir die Treppenstufen am Rande des Trockenwaldes wieder nach oben. Auf dem Weg entdecken wir die andere Gruppe, die gespannt in der Hocke um einen Busch sitzt. Wir entdecken schnell, was ihre Aufmerksamkeit so fesselt: Ein Kronenmaki-Weibchen sitzt nur ein, zwei Meter entfernt auf dem Boden, und sammelt heruntergefallene Früchte auf. Mit großen Augen schaut sie die Menschen gegenüber an, und bewegt sich nur ganz vorsichtig. Als jemand der anderen Gruppe mit Schwung einen Reißverschluss schließt, schreckt das Weibchen leider davon und springt wieder ins Gebüsch.
Jocelyn mahnt zur Eile, wir sind spät dran und wollen noch zum späten Mittagessen ins Camp rüber. Der Rückweg verläuft entsprechend etwas zügiger als der Hinweg und mit weniger Aufenthalten zum Fotografieren. Das ein oder andere Tierchen läuft natürlich trotzdem über den Weg. Ich laufe vorbei an meterhohen Baumriesen, durch Tore aus Gebüsch, durch das große Flussbett durch und ein Stück parallel dazu. Irgendwann bin ich wieder auf dem roten Pfad, der zum Parkplatz zurückführt. Von dort geht es mit den Geländewägen in einen Waldweg hinein und bis zu einem weiteren, größeren Parkplatz, der von einem niedrigen Holzzaun gesäumt wird. Einige kleine überdachte Bänke und Tische sowie eine Kochstelle finden sich im „Camp des Princes“: Und eine Unmenge Stechmücken. Riesige Bäume spenden Schatten, es ist fast schon duster unter dem dichten Blätterdach.
Auf einem der überdachten Tische haben zwei Frauen und die Guides schon unser Nachmittagsessen vorbereitet. Es gibt Reis und Kokoshuhn. Besucher haben sich auch schon eingefunden: Eine Familie Kronenmakis springt durch die Bäume, wahrscheinlich in der Hoffnung, eine Orange oder Banane zu ergattern. Eine kleines, vorwitziges Kronenmaki-Baby ist auch dabei. Es klettert schon ohne seine Mama auf die Bäume, springt aber noch ziemlich unsicher. Es ist zwar unendlich neugierig, traut sich aber nicht so richtig nah heran. Zwei Weibchen seiner Familie machen es sich derweil unter dem Bananenblatt-Dach gemütlich.
Auf einem knapp über dem Boden laufenden Ästchen findet sich noch ein weiteres Brookesia stumpffi.Und als wir eine ganze Weile nach dem Essen in die Autos steigen wollen, sitzt an einem dicken Baumstamm noch ein riesiger, knallgrüner Phelsuma grandis. Ein guter Tagesabschluss. Nach dem letzten Foto des Tages steige ich in Gris‘ Auto, und wir rumpeln zurück nach Ambilobe.