Es ist früh am Morgen, als ich mich aus dem Zelt wurstele. Alles ist nass draußen, Nebel hängt über den Bäumen des Regenwaldes. Wasser tropft von den ausladenden Ästen der umliegenden Bäume auf das Zeltdach. Auf einem Bein hüpfend versuche ich, meine Hose, Socken und Trekkingschuhe anzuziehen, ohne nasse Füße zu bekommen. Dann wandere ich mit Zahnbürste und Kulturbeutel zum Wasserhahn zum Zähne putzen, und danach quer über den Campground bis zum Klohäuschen. Irgendwer scheint zu duschen, jedenfalls kommen schrille Quiektöne aus der Dusche. Das Duschwasser kommt direkt aus dem Berg, und es ist… naja, ein bisschen kühl?
Zum Frühstück haben Eric und Andry noch mehr kulinarische Köstlichkeiten als gestern auf Lager. Der Tag beginnt mit frittierten Bananen, meinem Lieblingsessen auf Madagaskar. Sogar an Zimt und Zucker und so etwas ähnliches wie Nutella haben sie gedacht. Ich frühstücke in der Küche zwischen Töpfen, Pappkartons mit Zutaten, Zewarollen, Klopapier und Bastkörben voller Reis. Sehr gemütlich hier. Der Himmel ist bedeckt, und Wind zieht auf. Nein, eigentlich eher ein kleiner Sturm. An der Ostküste wütet wohl gerade ein Zyklon, und hier gibt es die Ausläufer mit vermehrt Regen und Wind zu spüren. Die Bäume wiegen sich im Wind, und die großen, mit Nestfarnen überwucherten Baumriesen knarzen und knarren dabei laut. Die Wolken ziehen rasend schnell über den Himmel.
Meine Gruppe besteht heute aus Stefan und Steffi, Ines, José und meiner Wenigkeit. Und Angeluc, der mit seinem Zwillingsbruder Angelin schon zum Frühstück erschienen ist und wie immer gute Laune mitbringt. Wegen des Wetters entscheiden wir uns für einen gemütlichen Spaziergang zum Lac vert, dem grünen See. Zuerst aber müssen wir erstmal aus dem Camp kommen. Wir schaffen etwa zehn Meter, dann winkt Angeluc uns an den Rand des breiten Auffahrtweges und deutet auf ein Calumma amber-Weibchen. Während wir die Kameras auspacken, geht Angeluc auf die andere Seite des Weges. Um einen dicken, umgefallenen Baumstamm herum sucht er intensiv den Boden ab. Dann lacht er laut auf und freut sich über irgendetwas Winziges in seiner Hand. „Look, such a beautiful animal!“ – wohl einer der häufigsten Sätze, wenn man mit Angeluc unterwegs ist. Er hat rund um den Baumstamm eine kleine Population winziger Brookesia tuberculata aufgetan. Es sind drei, vier der kleinen Tiere, und alle aus meiner Gruppe sind schwer begeistert von den niedlichen Winzlingen. Sie sind so klein, dass jeder sich quasi ein eigenes Fotostudio samt Tier darin in der einen Hand basteln kann, während man mit der anderen fotografiert. Kleine Wunder der Natur!
Es geht so weiter wie es begann. Angeluc läuft von einem Baum zum nächsten, findet hier einen Frosch und da ein Erdchamäleon, und an einer anderen Stelle sitzt ein perfekt getarntes Calumma linotum. Selbst die kleine, blau leuchtende Nase verrät es zwischen trockenen Blättern nicht. Die zweite Gruppe ist längst an uns vorbei in Richtung des großen Wasserfalls gezogen. Wir dagegen kommen in guten zwei Stunden gerade mal 200 Meter weit. Ich mache mir nichts daraus. Der Wald ist so voller Tiere, warum soll man kilometerweit laufen, wenn man alles direkt vor den Füßen hat? Sogar die Schmetterlinge kommen auf meine Schuhspitze geflogen. Oder zumindest ein sehr großer, weißer Schmetterling mit schwarzen Flügelspitzen.
Steffi entdeckt einen Blattschwanzgecko, der perfekt grün-weiß getarnt auf einem genauso gefleckten, schmalen Baumstamm sitzt. Kopfüber. Seine Haut sieht fast aus, als wäre sie mit Moosen bewachsen. An einem großen Baum deutet Angeluc auf einen Ast über unseren Köpfen. Ein großes Calumma ambreense-Weibchen klettert gerade bedächtig über den Ast.
Irgendwann stapfen wir gerade durch das kniehohe Gras einen Hügel nach oben, als ein wunderhübscher kleiner Frosch unsere Aufmerksamkeit – mal wieder – vom Weg abbringt. Er ist weiß-schwarz gefleckt und mehr als fotogen. Aber Angeluc hat schon wieder etwas Neues gefunden. Einen Meter unter dem dritten Calumma linotum des Tages flitzt ein winziger, kaum zwei Zentimeter langer Skink durch das Erdreich. Angeluc versucht ihn vorsichtig zu erwischen, aber der kleine Skink ist schneller. Schließlich knien wir zu dritt im Schlamm, mit den Händen im Matsch herumpatschend, auf der Suche nach einem winzigen braunen Skink aus dem Madascincus melanopleura-Komplex. Muss für andere Leute sicher merkwürdig aussehen. Aber tatsächlich taucht der winzige Skink unter einem Laubblatt wieder auf. Nach ein paar Fotos beschließen wir, etwas zügiger den Hügel nach oben zu laufen. Der Himmel ist dunkel geworden. Der Weg führt in einer langen Kurve nach oben und bietet auf der einen Seite eine grandiose Aussicht in den Regenwald. Die andere Seite ist purer, dichter Wald, von Moosen und Farnen überwachsen. Ganze Bäume sind völlig von Flechten und Moos überwuchert.
Der grüne See liegt in einem kleinen Tal, denn es ist ein Vulkansee. Der Vulkan ist natürlich längst nicht mehr aktiv. Es geht durchweichte, angedeutete Treppenstufen entlang eines matschigen Weges nach unten, bis ich am grasbewachsenen Ufers eines Sees stehe. Der dichte Regenwald reicht bis direkt ans Ufer heran. Am gegenüber liegenden Ufer verschwinden die Wipfel der Bäume in Nebel oder tief hängenden Wolken. Es beginnt zu nieseln. Wassertropfen wirbeln die bis dahin völlig glatte Wasserfläche des Sees auf. Der Regenschauer hält zum Glück nur ganz kurz an.
Als ich die Stufen wieder nach oben steige, scherze ich noch mit Angeluc „Okay, we’ve seen so many animals today, what about an Uroplatus finiavana as next species?“ „Yes, yes, we will see it…“, meint Angeluc noch. Dann läuft er vielleicht zehn Meter weiter, während er immer wieder intensiv ins Gebüsch schaut und mit den Augen die Umgebung „scannt“. Plötzlich bleibt er an einem Lehmhaufen mit darauf kreuz und quer liegenden Ästen stehen und deutet mit einem siegessicheren Grinsen mitten hinein. „Ha! There it is!“ Bitte was? Ungläubig starre ich in das Gewirr aus nassem Laub, Ästen und Ranken. Angeluc klatscht lachend in die Hände. „You don’t see it?“ Ja, was denn? Die anderen sind ebenfalls stehen geblieben. Dann plötzlich ist es klar: Angeluc hat tatsächlich den gewünschten Blattschwanzgecko gefunden. Völlig unscheinbar hängt ein kleiner, brauner Kerl mit beigen Akzenten kopfüber zwischen zwei Ästen. Der Schwanz wiegt wie ein Blatt leicht im Wind, sonst bewegt sich das kleine Tier keinen Millimeter. Tja! Wie bestellt, so wurde gerade geliefert. Mitten im Regenwald. Gut, man braucht auch eine große Portion Glück. Und einen richtig guten Guide. Wir haben heute offenbar beides. Ich freue mich wie ein Schneekönig über den kleinen, zauberhaften Gecko.
Auf dem Weg zurück vom Vulkansee in Richtung des Camps entdecken unsere Gecko-Freaks noch farblich extrem gut getarnte Lygodactylus madagascariensis. Der Rückweg geht etwas schneller als hin, da wir nicht mehr jeden Zentimeter nach Tieren schauen. Alle sind hochzufrieden mit der Foto-Ausbeute des Morgens, und es beginnt wieder zu nieseln. Und das Mittagessen ruft!
Im Camp wartet bereits ein leckeres Mahl. Aber zuvor hat Florent, der früher im Camp war, noch eine besondere kleine Schönheit vorzuzeigen: Er hat ein Furcifer timoni-Weibchen gefunden. Das wunderschöne, kleine, knallgrüne Chamäleon ist relativ hektisch und bis oben hin voll mit Eiern. Wir werden gestört, als wieder ein Regenschauer hereinbricht. Und da der Sturm immer stärker wird, beschließt Tanala zusammen mit den Jungs, die Zelte, die nicht unter Dächern stehen (darunter unseres) aus der direkten Reichweite von Bäumen zu ziehen. Denn würde einer der großen, knarzenden Bäume auf eines der Zelte kippen, dürfte das nicht glimpflich ausgehen. Wir verschieben also diverse Zelte mehr in die Mitte der Lichtung und weg von den Bäumen, die eh schon Schräglage haben.
Als ich endlich zum Mittagessen komme, sind alle anderen längst schon fertig. Eigentlich ist eher schon fast Zeit zum Abendessen. Eine Ringelschwanzmungo ist ebenfalls da. „Gustl“ bekommt kleine Reste vom Hühnchen, oder vielmehr einen Rest. Denn kaum hat der Mungo den Fleischfitzel entdeckt, trägt er ihn schon wie eine Trophäe davon. Wenige Minuten später ist Gustl wieder da, und wartet in sicherer Entfernung auf einem bemoosten Baumstamm auf weitere Abfälle aus der Küche. Ich sitze gerade wieder genau dort, oder zumindest an dem Tisch und den Bänken, die wir dazu gemacht haben. Inzwischen haben sich THB-Flaschen, Wasserflaschen, Zitronen und Rum zu dem bunten Sammelsurium auf dem Tisch gesellt. Es dämmert, und in kürzester Zeit ist es stockfinster. Kein Hauch von Licht durchdringt den dichten Regenwald. Nur unsere Stirnlampen bieten ein wenig Helligkeit. Eric bereitet bereits seit Stunden Essen zu – ich glaube, er hat heute noch gar nicht damit aufgehört. Er hat Fleisch mariniert, Auberginen geschnitten und Pommes frittes kreiert. Letztere werden von Andry gerade zum zweiten Mal frittiert – für das richtige Knuspern.
Nach dem Abendessen ziehe ich, bewaffnet mit meiner Stirnlampe, nochmal am Rand des Campgrounds zur Tiersuche los. Schon direkt an der Hecke des Campgrounds werde ich fündig. Auf einem Aststumpf, der aus einem Haufen abgeschnittener Äste herausragt, sitzt ein riesiger, rötlichbrauner Frosch, Boophis entingae. In den Kiefern gegenüber dem Camp finde ich ein verschlafenes Calumma ambreense-Weibchen, und wenige Meter davon in ein paar Metern Höhe das dazu passende Männchen. Gegenüber der Toilettenhäuschen hat sich dafür gerade offenbar eine ganze Chamäleon-Sammlung niedergelassen. Etliche Calumma linotum-Pärchen und Jungtiere sitzen im Gebüsch. Ein winziges, vielleicht gerade ein, zwei Wochen altes Calumma ambreense-Jungtier sitzt auf einem dünnen Ästchen. Es ist so klein, dass ich mich nicht traue, nähere als einen halben Meter heranzugehen.
Aus Versehen scheuche ich beim langsamen Ableuchten der Bäume einen magpie robin, eine Drossel, auf. Entlang eines kleinen Weges, der leider voller Zebuscheiße ist, schlafen unendlich viele Brookesia antakarana. Langsam stapfe ich den Pfad entlang, vorsichtig darauf bedacht, weder in Zebuscheiße zu treten noch irgendwelche kleinen Chamäleons zu stören. Als der Lichtkegel meiner Stirnlampe etwas weiter nach oben ragt, entdecke ich plötzlich direkt über meinem Kopf einen Uroplatus sikorae, der gerade auf Insektenjagd ist und sich eilig über die Äste davon bewegt.
Mein Highlight des Abends kommt aber noch: Ein wunderschöner, mit beigen Flecken übersäter Uroplatus finiavana mit orangefarbenen Augen. Und dazu noch urfreundlich, denn der kleine Gecko lässt sich geduldig auf seinem bemoosten Baumstamm fotografieren. Dimby findet direkt hinter mir sogar noch ein zweites Tier der gleichen Art – nicht zu fassen. Sind die vielleicht doch eher häufig hier? Es scheint so. Das würde vielleicht auch mein „Bestellglück“ am Morgen erklären.
Spät, sehr, sehr spät, wandere ich zurück zu meinem und Tanalas Zelt. Inzwischen tobt ein ordentlicher Sturm. Der ganze Wald knarrt und ächzt, Blätter werden durch die Luft gewirbelt. Ein seliges Lächeln hat mich seit heute Morgen nicht mehr verlassen. Der Montagne d’Ambre ist wirklich der Regenwald der Träume. Wo gibt es sonst soviele Reptilien, die so leicht zu finden sind? Hier könnte ich ein paar Wochen verbringen.