Heute ist Ausschlafen angesagt – bis sieben Uhr. Würde mir das jemand zu Hause als Ausschlafen zu vermitteln versuchen, würde ich mal laut lachen. Hier in Kirindy geht das. Ich wache davon aus, dass irgendein Tier an den Wänden des Bungalows kratzt und schabt. Um genauer zu sein, es klingt so, als würde es gerade die Wände des Bungalows auffressen. Ich tippe ja inzwischen doch eher auf Ratten, denn Mausmakis sind nicht besonders nagefreudig und auch nicht dafür bekannt, Holz anzufressen. Außerdem habe ich aus sicherer Quelle gehört, dass im Studenten-Dormitory eine gut genährte Rattenpopulation des Nächtens ihre Vorräte durch die Räume trägt und zu Nager-Orgien einlädt. Egal. Ich packe meine Sachen zusammen, bugsiere alles aus dem Bungalow raus und bin irgendwie ganz froh, dass wir heute nach Morondava zurück fahren. Der Geruch im Toilettenbereich ist mangels Wasser wirklich übel.
Als ich mit Tanala in Richtung des Frühstücks schlappe, ist außer uns und unserem Gepäck mal wieder keiner da. Auf einem Ast direkt vor dem Restaurant sitzt ein großer Madagaskarsperber und lässt sich von der Sonne das Gefieder wärmen. In den Baumkronen sitzen schwarze Vasapapageien und fressen von kleinen, roten Früchten. Sie lassen sich vom Sperber unter ihnen nicht stören – der ist auch eher aus Mausmakis aus. Zur Feier des Tages gibt es heute kleine, dreieckige La Vache qui rit zum selbst gemachten Fladenbrot. Das ist der einzige Käse, den es regulär fast überall in Madagaskar zum Frühstück gibt. Die Konsistenz ist etwas gummiartig, weshalb es etwas schwierig ist, den Käse auch auf’s Brot zu bekommen. Aber es schmeckt wie Streichkäse. Bis ich meinen Käse auf dem Brot habe, sind auch alle eingetrudelt.
Nach dem Frühstück verabschieden wir uns von Christian. Er bekommt reichlich Trinkgelder, die er sich mit seinen Bemühungen auch wirklich verdient hat. Ich schenke ihm einen meiner präparierten Amphibien-und-Reptilien-Fieldguides, worüber er sich riesig freut. Hier ist der Fieldguide sicher gut aufgehoben. Dann brechen wir auf nach Morondava. Die Geländewagen fahren aus der Einfahrt des Camps, und wir sind zurück auf der roten Buckelpiste. Zwischendurch durchqueren wir einige große Wasserpfützen. Spuren von vielen Zebuklauen führen in die Wasserlöcher hinein und auf der anderen Seite wieder heraus. Plötzlich deutet Christian aus dem Auto: Eine tote Hakennasennatter liegt mitten auf dem sandigen Weg. Ihr Kopf ist abgehackt worden, Blut läuft aus den Stümpfen. Das Tier ist noch warm, es muss gerade erst passiert sein. Schlangen werden hier getötet, da die Menschen Angst vor ihnen haben. Dabei sind die Tiere weder giftig noch gefährlich oder auch nur aggressiv – sie verziehen sich, wenn man ihnen zu nahe kommt. Nachdenklich fahren wir weiter.
In Kirindy Village halten wir an. Wir wollen mal schauen, was die Kinder aus den vor ein paar Tagen verteilten Malbüchern gemacht haben. Oooh, und da gibt es einiges zu sehen! Erst denken die Kinder, wir wollten die Malbücher wieder einsammeln. Als der Irrtum aufgeklärt ist, stürmen immer mehr heran. Und Dimby muss jedes einzelne anschauen, und jede Seite will eingehend kommentiert und bewundert werden. Die Kinder sind stolz wie Bolle auf ihre Werke. Es sind wirklich tolle dabei. Leuchtende Kinderaugen, wohin ich schaue.
Einer der Jungen hat besonders naturgetreu mit den „richtigen“ Farben ausgemalt und wird nicht müde, das immer wieder zu betonen. Obwohl er einige der abgebildeten Tiere sicher noch nie gesehen hat. Mir gefallen besonders die gemalten Bilder, in denen einfach alle Farben bunt durcheinander gemischt wurden. Ich bewundere knallrote Kattas, gelb-blaue Mausmakis und so bunte Chamäleons, dass selbst die Natur nicht mehr mitkäme. Erst nachdem wirklich fast jede Seite abgelichtet und jedes Malbuch durchgeblättert ist, können wir weiterfahren. Vielleicht haben die Malbücher einen kleinen Nutzen dabei, künftig tote Schlangen, Chamäleons und Lemuren zu verhindern. Ich hoffe es sehr.
An einem unkenntlichen grauen Stein, der angeblich als Wegweiser dient, biegen wir von der roten Buckelpiste ab und folgen einem staubigen Pfad nach links. Vor einem riesigen Baobab halten wir an. Es ist der berühmte Baobab der Liebe. Es ist nur ein einziger Baum, dessen zwei Stämme jedoch so ineinander verschlungen sind, dass sie aussehen wie ein einander zugewandtes Liebespaar. Obwohl außer uns weit und breit niemand zu sehen ist, steht der Baobab in Mitten eines Halbkreises aus kleinen, teils verwaisten Holzständen. Die Stände sind aus Ästen rustikal zusammengezimmert, und alle bieten exakt die gleichen Produkte an: Geschnitzte Baobabs of love, Miniaturen des direkt davor befindlichen Baums. Ein Mann hinter einem der Stände zeigt, wie die kleinen Baobabs geschnitzt werden: Aus einem Baumstamm wird ein eine hölzerne Walze geschnitten. Die Enden werden flach abgesägt, so dass die Rolle aufrecht stehen kann. Dann wird die Grundform mit der Säge vorgeschnitzt: Der Sockel wird angedeutet und die ungefähre Form des Baobabs. Danach folgt mühselige Schnitzarbeit mit Hammer und Meißel. Jeder Millimeter Holz wird einzeln abgetragen, bis der Baobab fertig geschnitzt ist. Das geschnitzte Werk wird dann noch stundenlang poliert, bis perfekt glänzende, glatte Miniatur-Baobabs auf den Verkaufsbänkchen stehen.
Ich kaufe einen kleinen Baobab. Als ich nach dem Preis frage, schaut der Verkäufer mich unsicher an, und sagt dann „8000 Ariary, der Preis kommt ihm wohl selbst etwas hoch vor. Ich finde den Preis einen Witz. Das sind nicht mal drei Euro für stundenlange Handarbeit. Ich gebe dem Verkäufer einen 10.000 Ariary-Schein und verzichte auf das Wechselgeld. Der Verkäufer freut sich, und ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen.
Christian ist derweil schon wieder auf Tiersuche. Er hat vor einer Woche direkt hinter dem berühmten Baobab eine Madagaskarboa dabei beobachtet, wie sie gerade eine Hakennasennatter verzehrte. Da die Hakennasennatter nicht gerade klein war, müsste die Boa jetzt vollgefressen irgendwo noch in der Nähe sein. Und die Theorie geht auf: Tatsächlich lugt aus einem Laubhaufen die gut getarnte Haut einer Acrantophis dumerili hervor. Es ist ein Weibchen, und ein mächtig großes noch dazu. Sie ist jedoch – sei es wegen ihren ruhigen Charakters oder dem großen Mahl vor einer Woche – völlig entspannt und ruhig im Umgang.
Am späten Nachmittag kommen wir in brütender Hitze an der Baobab-Allee an. Wir halten nochmal an, um eine zweite Gelegenheit für einen hübschen Sonnenuntergang zu nutzen. Außerdem können unsere Fahrer, José und Dimby hier ihren verspäteten Mittags-Reis einnehmen. Ich halte nach Schieferfalken Ausschau, aber irgendwie sitzen die meisten gut versteckt in den Blätterkronen der Baobabs. Und die, die am Himmel kreisen, sind so weit oben, dass man nur kleine, schwarze Punkte fotografieren kann.
So setze ich mich zu den Madagassen gegenüber des Parkplatzes auf kleine, aus alten, sehr schmalen Brettern gezimmerte Bank an einem ebenso skurril zusammen gebastelten Tisch. Der Schatten eines großen Baumes sorgt wenigstens für einen Hauch Abkühlung. Die Bank ist vielleicht 15 cm breit, wenn überhaupt, und wackelt bedenklich. Sie ist auch nur auf zwei sehr schmalen Pfählchen befestigt. Es gibt Reis mit Ziege, und das Essen wird in irgendeiner der Hütten zubereitet, die wenige Meter entfernt stehen. Einige rohe Stücke Ziege hängen noch an einem Querbalken vor einer der Hütten. In der prallen Sonne, bei über 40°C. Das, was von der Ziege mit Reis gegessen wird, wirft man mit Knochen und allem, was sonst noch dran ist, in einen Topf und hackt dann mit einem Beil darin herum, bis eine amorphe, graue Fleisch-Knochen-Masse daraus entsteht. Die isst man dann, gut durchgekocht.
Diverse Hunde dösen im Schatten der Hütten vor sich hin, selbst denen ist es hier zu warm. Schließlich fahren wir ein Stück weiter zu ein paar fotogenen Baobab-Silhouetten, und warten bei ein paar Dosen gekühltem Bier auf den Sonnenuntergang. Und ja, der ist wirklich fotogen.
Im Dunkeln treffen wir in Morondava ein. Ich springe erstmal unter die Dusche, ohne Schöpfkelle und mit ausreichend Wasser. Danach gehen wir mit unserer kleinen Gruppe im Restaurant quer über die Straße noch etwas essen. Auf der Terrasse mit den Sonnensegeln sitzen wir auf Barhockern und genießen frisch gefangenen Thunfisch und Gemüse. Das Abenteuer Kirindy ist zu Ende.