Eigentlich will ich heute früh gar nicht aufstehen. Irgendwann zieht es mich dann aber doch noch unter die Dusche, aus der reichlich wenig Wasser kommt. Man muss schon sehr lange duschen, bis alle Körperteile mal nass geworden sind. Einfacher ist es, einfach den Kopf unter den Wasserhahn zu halten, um die Haare zu waschen.
Bisher herrschte noch ein bisschen „Kennenlern-Atmosphäre“, zumindest unter den Neuen. Die Chicken Group kennt sich ja schon länger. Das wird sich jetzt relativ schnell ändern. Wir sind auf dem Weg zurück nach Antananarivo, um dann endlich in den Norden aufzubrechen. Varinia und Gunther suchen noch nach ihrem Bungalow-Schlüssel, der spurlos verschwunden zu sein scheint. Wie von Dimby prophezeit, taucht er am Nachmittag im Rucksack wieder auf. Als endlich alle im Bus sitzen – Christian war schon mal wieder ausgestiegen, um nochmal nach Chamäleons zu gucken – kann es losgehen. Es beginnt zu regnen und hört so schnell auch nicht wieder auf. Dicke Wassertropfen prasseln auf das Dach und gegen die Scheiben des Busses.
Erst gegen Mittag erreichen wir Tana. Der Verkehr ist elend dicht, ein Stau folgt dem anderen. Eigentlich stauen wir nur vor uns hin. Wir halten kurz an der Tanke von Ambohimangakely, und das Furcifer oustaleti von letztem Sonntag sitzt fast immer noch genau da, wo Christian es gefunden hatte. Fünf Minuten später – es haben sich gerade alle wieder im Bus sortiert – muss jemand dringend aufs Klo. Sehr dringend. Nennen wir ihn Em. Da wir sowieso im Stau stehen, direkt neben einer Tanke, halten wir auch genau dort an. José holt den Schlüssel der Toilette, Em verschwindet. Eine Viertelstunde später läuft José zurück in die Tanke und kommt wieder heraus, mehrere Rollen Klopapier auf den Armen balancierend. Vom Bus aus beobachtet sich das Ganze recht amüsant, solange man nicht selbst betroffen ist.
Irgendwann später landen wir beim Jumbo Score, um uns mit Getränken für die lange Fahrt morgen einzudecken. Ich entdecke bei der Gelegenheit, dass man sogar Koba, einen traditionellen, madagassischen Kuchen aus Erdnüssen und Bananen, in Dosen kaufen kann. Ich nehme lieber noch welche von den sauren Tamarindenkugeln. Tanala kauft je fünf Liter Weiß- und Rotwein fürs Camping, und ich gönne mir mit Chrissi ein weißes, leicht angetautes Magnum. Und einen Kamm, ich möchte nämlich irgendwann demnächst meine Flechtfrisur aus Ifaty wieder aufmachen. Vielleicht.
Danach fährt Christian wie gewohnt in Richtung Talatamaty, biegt jedoch irgendwo davor in einen engen Pflasterweg ab. Der Bus passt gerade so hindurch – hoffentlich kommt uns jetzt niemand entgegen! Wir parken in einer Einfahrt, die irgendwie nach Wohnhaus mit sehr viel Vorgarten aussieht. Der grüne Rasen endet allerdings nach rechts hin und jede Menge kleiner Steinhäuser schließen sich an. Das ist das Village aux Bateaux, das Dorf der Schiffe. Die kleinen Häuser sind Werkstätten, in denen Modellschiffe gebaut werden – und nicht nur irgendwelche, sondern extrem hochwertige Modelle. Ich laufe mit ein paar anderen bis zum Beginn der Häuschenreihe. In einem der Steinhäuschen hängen Unmengen von Schiffsplänen und Schablonen an der Wand. Grobe Holzmodelle sportlicher Segelboote stapeln sich darunter. Auf einem Tisch stehen begonnene Schiffsrümpfe, die allerdings nur erahnen lassen, was aus ihnen mal wird.
Ich betrete einen größeren Raum, in dem vier Männer gleichzeitig werkeln. Leuchtstoffröhren beleuchten die Arbeitsplätze und tauchen die Werkstatt in halbhelles Licht. Direkt im Eingangsbereich arbeitet ein Mann in blauer Latzhose an einem riesigen hölzernen Schiffsrumpf. Er schneidet gerade ein weiteres Brett für das Innenleben des Schiffs zu. Der Rumpf ist bereits jetzt – obwohl im Rohzustand – unheimlich fein und detailliert gearbeitet. Jedes Fensterchen des Hecks ist sauber ausgeschnitten und nachgeschliffen, winzige Balkone sind angebaut. Ein anderer Mann sitzt, in einen blauen Arbeitskittel gehüllt, auf einem Hocker an einer Arbeitsplatte. Vor sich hat er riesige alte Schiffsbaupläne ausgebreitet. Mit einem Dremel korrigiert er winzige Kleinigkeiten an kleinen Holzteilchen, die er dann mit Kleber in ein Schiffsmodell einpasst. Den Mundschutz trägt er sinnigerweise auf dem Kopf. Um die Männer herum liegen kleine Sägen, Zangen, Messer, Holzbrettchen und vollgekritzelte Notizblöcke. Der ganze Boden ist mit feinen Sägespänen übersät. Ich staune und staune.
Im nächsten Häuschen liegen gar keine Sägespäne. Zwei jüngere Männer biegen hier Metalldrähte zurecht, verschweißen hier eine kleine Reling und da einen Aufbau. Die Modelle hier sind etwas aktueller, und einer hat sogar die Titanic in Miniaturversion vor sich stehen. Wie ich erfahre, handelt es sich bei den Schiffsplänen mehrheitlich um Originale, so dass die Modelle ganz akkurat nach ihren großen Vorbildern gefertigt werden können. Mich beeindruckt die Detailtreue der Modelle, das habe ich so noch nirgendwo auf Madagaskar gesehen.
Für genau diese Details ist ein anderes Häuschen zuständig – jeder hat hier seinen Bereich. Mit Hilfe von Dremeln und Messern schnitzen zwei Männer Beladung und Aufbauten für alle Arten von Modellschiffen. Winzige Kanonen, Fässer und Rettungsboote liegen nebeneinander, sogar eine handgeschnitzte Gallionsfigur ist dabei.
In einem der letzten Steinhäuser sind auch Frauen beschäftigt. Sie sorgen für den Feinschliff der Boote, indem sie die Bemalung und Lackierung übernehmen. Auch hier wird auf originalgetreue Farben geachtet. Alle Tische sind bunt gesprenkelt, unzählige Farbtöpfe stehen in den Regalen. Pinsel aller Größen warten in Terpentin- und Wassergläsern auf ihren Einsatz. Gegenüber werden Segel und Taue genäht bzw. gedreht und angebracht. Um Segel für die Schiffe der großen Entdecker auf alt zu trimmen, werden sie mit Tee gefärbt. Eine geniale Idee. Die wahnsinnige Arbeit bewundernd wandere ich von Haus zu Haus.
Schließlich geht es noch in den Ausstellungsraum der kleinen Manufaktur. Hier stehen zig fertige Schiffsmodelle zum Verkauf – und zum Anschauen. Eigentlich kann ich Schiffen eher wenig abgewinnen, aber diese Modelle sind einfach der Wahnsinn. Leider geben Bilder die Schönheit der Schiffe nur zu einem Bruchteil wieder.
Ein solches Modellschiff braucht etwa drei Monate, bis es fertig ist. Durch die hohe Qualität braucht man keine Angst zu haben, dass sich das Holz noch verzieht – das bleibt alles genau so, wie es ist. Sagt jedenfalls der Chef des Ladens, ein schlanker Franzose mit graumeliertem Haar. Besonders angetan hat es mir ein 60 cm langes Modell der Bounty. Leider steht ein kleines Schildchen davor, dass es sich hierbei um Ausstellungsstücke einer Privatsammlung handle. Auf Nachfrage stellt sich dann heraus, dass dem gar nicht so ist. Letztendlich kaufe ich tatsächlich – für einen hohen dreistelligen Betrag – die Bounty. Nur wie transportiere ich das gute Stück nach Hause? Ins Handgepäck passt es wohl kaum. „Keine Angst“, beruhigt mich der Franzose. „Wir verpacken es so perfekt, dass es auch den Postversand übersteht. Das kann sogar übers Kofferband fallen ohne dass etwas kaputt geht.“ Na dann. Ich bin gespannt.
Ich verlasse ohne mein neues Schiff den Laden – es wird gut verpackt in zwei Wochen ins Hotel geliefert. Zurück im Hotel ist Zeit für Käse-Samboza, THB und viele nette Gespräche. Christian und Rapha verabschieden sich von uns, sie werden nicht mit in den Norden kommen. Der Abend wird lange und lustig. Die Gruppe scheint rundherum gelungen – bis auf zwei sich selbst abtrennende Ausnahmen, die irgendwie nichts mit allen anderen zu tun haben wollen – und ich freue mich auf zwei einhalb Wochen im Norden Madagaskars.
Nachtrag: Tatsächlich wurde meine Bounty als normales Gepäck von Antananarivo über Nairobi und Amsterdam transportiert. Die Kiste kam entsprechend ramponiert in Frankfurt auf dem Kofferband an. Aber das Versprechen der Manufaktur wurde gehalten: Das Schiff im Inneren der Kiste war völlig unversehrt. Es steht inzwischen in meinem Wohnzimmer unter einer Vitrine, und sieht noch genauso aus wie als ich es gekauft habe.