Ostküste 2018

Warten im Zyklon

Rum am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen
Rum am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen

Am Morgen herrscht immer noch Sturm. Der See schlägt riesige Wellen und sieht vom Bungalow fast aus wie das Meer. Selbst die Lemuren haben sich in den Wald zurückgezogen. Der Wind weht die Hängematte auf der Terrasse spielend durch die Luft, reißt an den Bäumen und zerrt an den Blättern des Dachs. Ich packe meine Reisetasche und flitze in meine Jacke gehüllt durch den Nieselregen zum Frühstück.

Dimby verkündet beim Frühstück, dass der Bootsmann in Manambato allen Ernstes bei diesem Sturm losgefahren sei. Ich bin mir nicht so sicher, ob er auch ankommt. „Haben noch alle Wasssääääärrr?“, brüllt plötzlich eine laute Stimme vor dem Restaurant. Schreck lass nach, die deutsche Touritours-Gruppe ist wieder da. Sie sind gestern spät abends angekommen. Ökotourismus, was ist das eigentlich? Das hier sicher nicht. Schnauzbart beschwert sich laut nölend, dass er keinen Fernseher in seinem Bungalow hat, woraufhin er sich gröhlend auf die Oberschenkel schlägt für den guten Witz. Zwei sächselnde Damen kleiden sich in hellblauen Plastiktüten ein und halten es für eine glorreiche Idee, Zyklonregen mit Mülltüten zu begegnen.

Da ich dank des Zyklons heute quasi unbegrenzt Zeit zum Schreiben habe, möchte ich dem geneigten Leser die skurille Truppe im Detail nicht vorenthalten:

Zuerst in mein Blickfeld tritt ein älterer, ergrauter Herr mit Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart im Ringel-T-Shirt, der schließlich eine Pfeife herausholt und vor sich hin pafft. Dann ist da noch eine Dame mit blondem Vokuhila, der vermutlich noch aus den 90ern stammt, im rosa T-Shirt und einer silbernen Glitzerhose. Sie trägt einen Turnbeutel auf dem Rücken, dessen Bänder sich allerdings verheddert haben, und eine grüne, ärmellose Regenjacke. Wo um Gottes Willen bekommt man Regenjacken ohne Ärmel? Zwei etwas dralle Damen stechen mit extrem sächsischem Dialekt hervor. Büstenhalter tragen sie beide nicht, das Gewicht ihrer Brüste hat der Schwerkraft allerdings schon sehr nachgegeben. Eine weitere 90er-Jahre-Gedenk-Frisur trägt hinten Locken, vorne einen niedrigen Pony, dazu Hochwasser-Jeans und einen Wollpullover (kurze Erinnerung: Regenwald in den Tropen). Zu ihr gehört ein graumelierter Schnauzbart, ebenfalls in Hochwasserhosen. Zur Truppe gehört auch eine Lehrerin in Schildkrötenhaltung, auch ohne BH, aber dafür auch ohne Brüste. Und einer gruseligen, grauen Kurzhaarfrisur über einer kleinen Nickelbrille. Sie unterhält sich mit einer recht betagten Dame in Karohose, deren Haupthaar sehr dünn, aber dafür umso knalliger rot gefärbt ist. Und dann gibt es da noch eine mittelalte Frau mit schwarzen Arsch-frisst-Hose-Leggings und langen, enorm speckigen Haaren.

Schließlich verschwinden die Plastiküten, die Regenjacke ohne Ärmel und ihre ganze Gruppe im Wald. Oder auch nicht. Es dauert keine fünf Minuten, da steht die Truppe triefend und genauso laut wie vorher wieder im Restaurant. Lautstark bläst der Vokuhila zum Rückzug. Wer hätte geahnt, dass es draußen regnet? Während eines Zyklons?

So weit zu der erquicklichen deutschen Truppe, die heute in den Regenwald möchte. Auf Grund der etwas zähen Geschehnisse des Tages – und weil ich mich für meine Landsmänner und –frauen zeitweise extrem fremdschäme – habe ich diese live und leider auch auf die Minute genau festgehalten.

8:12 Der Bootsmann hat von der anderen Seite des Sees angerufen. Er hängt mit dem Boot am Ufer gegenüber fest und kann vorerst nicht weiterfahren, da der Sturm zu stark ist.

8:57 Wir verlagern unsere Gruppe auf die Sofas im Restaurant. Der Bootsmann ist doch angekommen. Er will aber nicht weiterfahren, da der Wellengang enorme Höhen erreicht hat. Außerdem ist ihm kotzübel, was er offenbar an der zum Anleger umfunktionierten Treppe hinreichend demonstriert hat.

09:40 Die 90er-Jahre-Frisur in Bermudashorts lässt sich gerade darüber aus, dass es nur eine einzige Sorte Käse zum Frühstück gibt (Spoiler: Nirgends an der Ostküste gibt es Käse. Nir-gen-ds. Hierher wird er quasi importiert.) Und keine Wurst! Auch keine Bärchenwurst! Und immer Ananas zum Frühstück, das ist doch scheiße. Herr, schmeiß‘ Hirn vom Himmel. Oder Steine. Hauptsache, du triffst.

10:02 Die Deutschen stimmen „Einer geht noch“ an. Ich entschuldige mich vorsorglich bei allen Madagassen, dass ich dieser Nationalität auch angehöre. Sie nicken nur verständnisvoll.

10:15 Die beiden Reiseleiterinnen haben beschlossen, den Deutschen jetzt mal so richtig einheimische Musik zu zeigen. Die mit Turban wedelt mit einer Rassel durch die Luft, die andere trommelt unmelodisch. Ich wusste gar nicht, dass es Madagassen ohne Rhythmusgefühl gibt. Die Deutschen klatschen und gröhlen. Bevor es die ersten Toten gibt – Guido aus Malta schlägt schon vor, seine Halbautomatik auszupacken – verlassen wir das Restaurant und finden uns einige Meter weiter unter dem Dach draußen ein. Es regnet rein. Wir stellen die Tische um. Jetzt wird nicht mehr der Tisch nass, sondern immer nur der, der gerade unter dem Loch im Blätterdach sitzt.

10:33 Die ersten THB zischen. Das Blätterdach hat mehr Löcher als gedacht, zu denen es recht ergiebig herein regnet.

10:39 Die Madagassen lösen das Problem mit den Deutschen auf ihre Art. Madagassische Musik dröhnt aus der eigentlich verwaisten Baustelle. Die Tourigruppe beginnt zu tanzen. Der Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart kann nicht klatschen. Jedenfalls nicht im Takt der Madagassen, nur im deutschen Viervierteltakt – der passt hier nur so gar nicht.

10:43 Rum steht auf dem Tisch. Guido kommt von seinem Bungalow zurück, allerdings ohne Halbautomatik. Zwei Deutsche in knappen Eierquetscher-Badehosen, sonst nackt, laufen barfuß in Richtung Wald.

10:47 Das zweite Glas Rum wird gekippt. Ho ela velona! Die Steckdose unter unserem Dach tropft vor Nässe. Aber sie lädt noch Markus‘ Handy auf. Aus offensichtlichen Gründen läuft das Stromaggregat heute deutlich länger als gewohnt.

Strom
…und die Steckdose tropft munter vor sich hin.

10:52 Ich habe den vierten Rum geleert.

11:00 Martin verlässt unser Dach mit den Worten „Falls ich nicht wiederkomme, sucht nicht nach mir.“ Lars ist irgendwie schon länger weg.

11:10 Rum Nummer Fünf. Langsam werden die Deutschen im Restaurant erträglich. Oder mir zumindest egal.

11:19 Jemand mit einer sehr knappen, roten Badehose und jemand mit einer sehr knappen und sehr engen blauen Badehose laufen vorbei, diesmal Richtung See.

11:27 Rum Nummer Sechs. Lars und Martin sind wieder aufgetaucht.

10:36 Dimby bringt Rosinen aus seinem Snackvorrat. Die Rosinen wandern in den Rum.

11:48 Der Strom ist aus.

12:02 Rum Nummer Acht, diesmal mit Rosinen. Nicht schlecht. Die Lehrerin mit der Nickelbrille, Lady Bärchenwurst und Vokuhila laufen vorbei, dicht gefolgt von der roten Unterhose. Tanala nagelt den Windschutz an der Rückseite unserer Sitzgelegenheit mit einem Holzscheit an einem Pfosten fest, weil er ständig wegfliegt.

13:09 Mittagessen. Der Windschutz ist weggeflogen. Der Bootsmann vertäut sein Boot neu. Die Wellen sind noch höher, der Sturm nimmt zu. Dafür hat der Regen aufgehört.

17:49 Ich gehe ins Bungalow. Der Sturm nimmt noch einmal an Intensität zu, das Dach ächzt bedenklich. Blätter und Blüten wehen durch den Regen über die Wege. Es regnet wieder, nur viel mehr als heute Mittag. Sturzbäche rinnen das Dach herunter, spülen über die Terrasse und nehmen Schlamm und Äste mit Richtung See. Das Wasser steht bis zur Hälfte der Treppe und steigt noch immer.

Vor unserem Bungalow werden skurrile „Notfallpläne“ erörtert. Falls auf Bungalow 2 oder 5 Bäume fallen oder das Dach wegweht, sollen die Betroffenen doch einfach zu uns, zu Bungalow 7, kommen. Da ich zufällig weiß, dass die Bungalows alle exakt gleich konstruiert sind, frage ich mich allerdings, ob wir noch ein Dach haben werden, wenn das des Nachbarbungalows davon fliegt. Naja. Warten wir’s mal ab. Ich gehe jetzt schlafen. Mehr kann man eh nicht machen.

20:36 Es ist plötzlich fast windstill. Der Regen hat aufgehört. Die Stille ist gespenstisch.

Veröffentlicht von Alex

Alex ist 35 Jahre alt, wohnt in der Nähe von Mainz und ist im echten Leben fernab des Urlaubs Tierarzt mit Faible für Reptilien. Sie fotografiert und reist gerne - so entstand auch dieser Blog. Nebenbei hält sie selbst Chamäleons zu Hause, schreibt an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, betreibt ein kostenloses OnlineMagazin und erstellt Malbücher für madagassische Kinder.

2 Gedanken zu „Warten im Zyklon“

  1. Verena Sommer sagt:

    Ehrlich… ich habe so gelacht bei dem Text.
    Hast mir total aus der Seele gesprochen.
    Für mich zudem sehr lustig, als wir im Dezember 2019 auch genau dort vor Ort waren, Bungalow 2, waren dort auch mehrere Deutsche, wobei mir 3 besonders ins Auge fielen und Männe und ich dann uns in Englisch unterhielten, was dann Dimby etwas verwunderte, aber ehrlich ich habe mich einfach geschämt. Aber ich kam noch zu meiner Antwort. Dimby und Nany saßen zu Abend mit uns gemeinsam am Tisch und ich merkte immer wieder die Blicke von Madame Seidenanzug und ihrem Göttergatten, dem Herrn, der angab, er wäre in den 70zigern hofiert worden, als er von der DDR wegen einer Entwicklungssache nach Madagaskar kam und nun immer wieder davon allen, die dort waren, ob sie es hören wollten oder nicht, davon erzählte. Als ein weiteres Ehepaar aus Deutschland sich ganz normal unterhielt und dann mitbekam, welches Lemurenbuch wir mit hatten und danach fragte, aber die Unterhaltung dann mit uns auch in Englisch war, dachten wir jetzt werden wir wohl auch in Ruhe gelassen für den Abend.
    Wir vier gingen dann zusammen weg, mit Flasche Wasser und THB zum Bungalow, dann stellte Männe fest „Bier reicht nicht“. Ich also noch mal los.
    Es saßen nur noch die 3 aus dem Osten dort, dachte sie hätten mich gar nicht mitbekommen, aber genau wie ich wieder zurück wollte stand der Angeber hinter mir und leider hatte er mitbekommen, dass ich als ich das THB nahm „Danke“ sagte. Ich wurde bombadiert und zwar sofort von allen Drei, wieso ich nicht gesagt hätte, dass wir auch aus Deutschland kommen und warum wir uns denn mit Schwarzen an einen Tisch setzen. „Also morgen früh sitzen Sie aber bei uns am Tisch und die beiden Schwarzen können hinten irgendwo für Personal sitzen“, das wollten sie nicht noch einmal erleben usw. Tja, da hatten sie sich aber gerade die Richtige ausgesucht. Ich bin dann ziemlich bestimmend geworden und habe ihnen sehr genau erklärt, das sind unsere Freunde und noch bestimme ich, mit wem ich zusammen sitze. Und Typen wie sie sind in meinen Augen Rassisten und mit denen will ich nichts zu tun haben. Und jetzt gehen sie mir bitte aus dem Weg. Was dann von Madame Seidenanzug noch kam erspare ich Dir, aber es hat nicht viel gefehlt und ich hätte ihr meine 5 Finger im Gesicht gelassen, so hat sie nur einen Kick an den Fußknöchel bekommen und ich bin gegangen, hab aber gleich noch ein weiteres THB zusätzlich mitgenommen, das brauchte ich dann. Den 3 Männern, Herbert, Dimby und Nany habe ich erst einmal nur gesagt, dass die Herrschaften sich etwas daneben benommen hatten und ich war froh als die nach dem Frühstück den nächsten Morgen abreisten.
    LG

  2. Alex sagt:

    Hi Verena,
    danke für deinen Kommentar! Schade, dass doch ein paar mehr Deutsche sich offenbar schwer daneben benehmen. :/ Mir scheint, dieses „Ich reise in andere Länder, finde andere Menschen aber eigentlich minderwertig“ scheint gerade leider mehr zu werden. Ich verstehe allerdings nicht, was solche Menschen überhaupt dazu bringt, zu verreisen. Fremde Kulturen kennenlernen kann’s ja nicht sein.

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