Im Halbdunkeln wandere ich schon das erste Mal zum Klohäuschen. Als die Sonne aufgeht, liegt der größte Teil der Bucht im Schatten. Nur am Rand der Bucht glitzert das Meer schon im Licht der Sonne. Selbst in der Küche ist noch niemand zugange, also gehe ich eine Runde am Strand spazieren. Mein Auge ist dank der Salbe auch fast wieder in Ordnung.
Zum Frühstück gibt es die letzten Bananen mit den letzten Resten Nutella, schön eingerollt in einen warmen Crêpe. Das Essen wird jäh unterbrochen, als ein Seeadler über der Bucht auftaucht und sich sogar auf einen Ast am Rand der Bucht niederlässt. Schnell werden Teleobjektive ausgepackt. Der Adler bleibt einfach sitzen. Als er sich irgendwann wieder los schwingt und quer über die Bucht über den Felsen verschwindet, bekommt nur ein Foto, wer geduldig hinter seinem Stativ ausgeharrt hat.
Philipp hat noch ein besonderes Prunkstück des Trockenwaldes gefunden. Ich finde es zwar faszinierend, aber durchaus nicht besonders prunkvoll: Es ist eine riesige, doppelt handtellergroße Spinne. Eine der wenigen Vogelspinnen, die es auf Madagaskar gibt. Wunderbar, dass es gerade auf Nosy Hara eine davon geben muss. Das Spinnentier hat so riesige Cheliceren, dass sich ausnahmsweise nicht mal jemand traut, sie anzufassen. Also wird sie von Philipp sehr vorsichtig mittels eines Asts dorthin geschoben, wo Marco sie fotografieren kann. Die Spinne findet nicht, dass sie da mitmachen müsste. Sie lässt sich erstmal von dem dicken Ast fallen, was einen Aufschrei meinerseits zur Folge hat. Außerdem flüchte ich erstmal ein paar Meter weg, wer weiß, wo das Vieh hinläuft. Philipp sammelt das Tierchen mit einer Engelsgeduld wieder ein und setzt sie zurück – erstaunlicherweise, ohne sie auch nur zu berühren.
Gegen Neun werden die Boote beladen. Zelte, Taschen und Küchenequipment wandert auf Schultern getragen durch das Wasser in die Boote. Die Bootsleute haben sie ungefähr bis auf halbe Höhe der Bucht geschoben. Es herrscht Ebbe, und die Boote liegen nicht wirklich tief im Wasser. Trotzdem winken die Bootsleute, wir sollten einsteigen. Ich wate also gemeinsam mit den anderen durch das knietiefe, brühwarme Wasser. Als ich auf dem Holzbänkchen im Boot sitze, passiert nichts. Die Sonne brennt, brütende Hitze liegt über den Booten. Nach guten zehn Minuten fragt Tanala mal den Oberbootsmann, wann er denn loszufahren gedenkt. Dem ist offenbar gerade erst aufgefallen, dass Ebbe herrscht. Also kratzt er sich am Kopf, überlegt kurz, schaut über die Bucht und meint „So in 30 Minuten!“ auf Madagassisch. Also madagassische 30 Minuten. Alles klar, dann steig ich nochmal aus. Also hieve ich mich elegant wieder aus dem Boot heraus (rein sieht auch nicht besser aus) und wate durch das warme Wasser zurück und durch den tiefen Sand bis nach oben zum verwaisten Camp. Und da sitzen wir dann und warten. Und warten. Und warten.
Während wir also im Schatten sitzen mit bester Aussicht auf die Bucht, beobachten wir, wie die Bootsleute die Boote immer weiter hinaus schieben, bis sie schließlich am Eingang der Bucht stehen. Warum genau sie das machen, weiß keiner so genau, das Wasser kommt dadurch auch nicht schneller wieder.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wird wieder gewunken. Also wieder zurück. Diesmal geht es quer durch die Bucht – zu Fuß. Erst reicht mir das Wasser nur bis zu den Knien. Dann kommen ein paar scharfkantige Korallen und Seegras, weshalb ich barfuß große Bögen durch den aufgewirbelten Sand im Wasser laufe. Als ich das Boot erreiche, steht mir das Meerwasser bis über den Hintern. Und der Bootsrand liegt etwa auf Brusthöhe. Ich ziehe mich mit den Armen nach oben und lasse mich dann mangels weiterer Kletterkünste einfach vornüber ins Boot kippen. Auch das sieht nicht besonders elegant aus. Über die Holzbohlen des Boots kraxele ich bis zu meinem Sitzplatz in zweiter Reihe. Die Bootsbesetzung ist übrigens exakt gleich wie bei der Hinfahrt.
Nach einigen weiteren Minuten des Wartens – die Sonne knallt wunderbar auf meinen Kopf – dümpeln wir los. Hinter der Bucht wird dann auch der Motor angeschaltet. Langsam, sehr langsam, tuckert das Boot links herum um die Insel. Das Meer liegt spiegelglatt vor uns, keine noch so kleine Welle bewegt die Oberfläche. Die Felsen von Nosy Hara und der Trockenwald spiegeln sich im Wasser. Gemütlich schippern wir mit unseren langsamen Booten dahin. Wieder sind fliegende Fische unterwegs und unter den Booten kann ich unzählige weiße Quallen beobachten. Das andere Boot hat offenbar eine Angel, die hinter dem Boot hergezogen wird. Denn plötzlich hängt ein riesiger Fisch an der Angel, der an Bord mangels eines Knüppels – der wäre bei uns an Bord – kurzerhand mit einem Holzbrett erschlagen wird. Langsam tuckernd gleiten die Boote weiter an der Rückseite der Insel entlang. Ich genieße die Aussicht und das glatte Meer – ich bin nicht besonders seetauglich.
Dann geht es um die Inselspitze herum und damit ändert sich das Meer schlagartig. Riesige dunkle Wolkenberge türmen sich über der Küste auf, auf die wir gerade zusteuern. Plötzlich schaukelt das Boot inmitten großer Wellen, die leider auch noch zunehmen. Jedes Mal, wenn das Boot auf eine Welle aufschlägt, kracht das Holz. Das Meerwasser spritzt über das ganze Boot. In kürzester Zeit sind alle klatschnass. Und wohl fühle ich mich auch nicht mehr. Die Küste ist noch ganz schön weit weg und wir bewegen uns gefühlt nicht einmal im Schritttempo vorwärts. Das Boot wiegt sich bedenklich weit hin und her. Das zweite Boot entfernt sich immer weiter von uns. Meine Laune wird nicht besser, als der Bootsmann plötzlich den Motor abschaltet und das Boot sich ohne weiteres Zutun seitlich zu den Wellen dreht. „Warum halten wir an?“, fragt Dimby, dann sehen wir es selbst: Das zweite Boot, gute hundert Meter von uns entfernt, hat ebenfalls angehalten und versucht gerade, etwas aus dem Wasser zu fischen. Bei dem Wellengang kein einfaches Unterfangen – und für mich völligst unverständlich. Zwischendurch sehe ich das zweite Boot nicht mehr hinter den Wellenbergen. Endlich macht der Bootsmann den Motor wieder an… und in Schneckengeschwindigkeit bewegen wir uns auf die Küste zu. Die Wellen rütteln die kleine Nussschale gründlich durch. Schaumkronen tanzen auf dem aufgewühlten Meer.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir endlich den Strand von Ampasindava. Das Meer ist hier wieder vollkommen ruhig. Ich bin einfach nur erleichtert, dass das Boot doch noch angekommen statt untergegangen ist. Durch das niedrige Wasser wate ich an den Strand. Unter der Tamarinde warten schon Léon, Christian und Gris, sie begrüßen uns herzlich zurück auf dem Festland. Das Gepäck wird von den Booten zurück in die Landcruiser geladen. Es nieselt, der Himmel ist völlig wolkenverhangen. Nachdem der ein oder andere seine nassen Klamotten noch gegen trockene getauscht hat (ich nicht), gibt es eine kleine Kabary für Michéle und die Bootsmänner. Trinkgeld wechselt seine Besitzer. Die Jungs von Nosy Hara bedanken sich sehr und hoffen darauf, dass wir anderen von dem kleinen Paradies vor Diegos Küste erzählen werden. Das machen wir, ganz bestimmt! Alle bedanken sich herzlich für die Gastfreundschaft auf der Insel und das kleine Abenteuer Nosy Hara. Hände werden geschüttelt – irgendwie viel mehr, als wir Leute auf der Insel mit hatten.
Schließlich fahren wir los. Durch das hohe Gras folgen wir dem rutschigen braunen Pfad zurück, über den wir vor ein paar Tagen kamen. Wir verlassen Ampasindava. Rechts und links stehen Zebus im Gras. Offenbar hat es heute früh auch hier stark geregnet. Der Weg ist schlammig und an vielen Stellen rutscht Gris‘ Geländewagen seitlich weg. Braune Wasserbrühe steht in den tiefen Fahrrinnen, die sich in den matschigen Weg gefressen haben. Als wir über den Hügel schlittern, an dem bei der Hinfahrt der LKW fest hing, tut sich eine schöne Aussicht über die umliegenden Hügel auf. Ein Dorf liegt in Mitten grüner Bäume, fast alles Mangos. Dahinter ist noch weit und breit kein Zipfel von Diego Suarez zu sehen, obwohl die große Stadt nur wenige Kilometer entfernt liegt. Das Auto ruckelt und rumpelt über den Weg. Schließlich schlafe ich ein.
Ich werde erst wieder wach, als wir das kleine Dorf Mangaoka erreichen. Es ist schmutzig, überall liegt Müll herum. Die wenigen Betonhäuser des Dorfes sind heruntergekommen und alt, dazwischen liegen windschiefe Holzhütten und Wellblechbuden. Zäune aus schlecht zusammengerödelten Ästen grenzen die wenigen Grundstücke gegeneinander ab, über allem wuchern Bananen und Palmen. Gris parkt direkt unter einem schmalen, kleinen Bäumchen. Christian entdeckt das erste – und leider einzige – Pantherchamäleon auch prompt direkt über dem Auto in exakt diesem Baum. Es ist ein altes Männchen mit ramponiertem Schwanz und sehr blassen Farben. Ein paar Kinder laufen zusammen und beobachten uns mit dem bunten Reptil. Wir haben kaum ein paar Fotos gemacht, als es zu regnen beginnt. Nicht so ein Nieselregen wie zuvor, sondern ein massiver Regenschutt. Schnell flüchten alle zurück zu den Autos, das Chamäleon wird zurück in seinen Baum gesetzt.
Den Rest der Fahrt verschlafe ich. Alle sind müde und geschafft von Nosy Hara. Nach mehreren Stunden erreichen wir Diego Suarez. Asphaltierte Straßen, Häuser, Menschen. Wir sind zurück in der Zivilisation! Es ist schon längst nach Mittag und das Wetter hat sich beruhigt. Die Sonne scheint zwischen den Wolken hervor, es ist warm in der Stadt. Gris wird von einem Polizisten in eine Seitenstraße gewunken. Der Polizist will Papiere kontrollieren – eigentlich auch die der Vazaha im Auto. Als er das mehrstimmige Schnarchen aus dem Auto hört, entscheidet er sich offenbar aber doch dagegen und lässt uns weiterfahren.
Auf der berühmten Rue Colbert parken wir. Mit Tanala, Gris und Markus setze ich mich auf die schmale Terrasse einer kleinen Bar. Verschwitzt – immerhin haben wir alle seit einigen Tagen nicht mehr richtig geduscht – , schmutzig vom Lateritstaub unterwegs und teils immer noch nass vom Meer. Wir schieben Alustühle und Tische zusammen, dass für alle Platz ist. Dann gibt es ein eisgekühltes THB. Wow, das tut richtig gut jetzt! Innerhalb weniger Minuten sind die großen, braunen Flaschen geleert und neue nachgeordert. Andrea, Martin und Philipp sind derweil mit José, Fitah und Dimby die Straße hinunter gelaufen, um sich nach T-Shirts und anderen Mitbringseln umzusehen. Mir fehlt dafür gerade der Schwung, ich freue mich lieber über ein kaltes Bier, das den Durst vorzüglich stillt.
Später fahren wir weiter, es geht noch ein paar Kilometer an der Küste entlang bis zu einem Fischerdorf. Am Aussichtspunkt gegenüber Diegos Zuckerhut halten wir kurz an. Zu meinem Erstaunen liegt weniger Müll herum als sonst, dafür staksen ein paar Ziegen herum. Und ein ärmlicher Hund mit einem riesigen, bereits offenem Gesäugetumor. Nach ein paar Minuten fahren wir weiter. Rechter Hand passieren wir den Montagne des Français. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages berühren gerade noch die obersten Felsen des Berges. Über den löchrigen Asphalt fahren wir bis nach Ramena, wo wir unser übliches Hotel, Casa en Falafy, beziehen. Im Hof zwischen den roten Wänden des Hotels direkt vor dem Pool gibt es dann noch eine längere Unterhaltung. Eigentlich sollten wir alle Bungalows am Pool bekommen, aber irgendwie hat der Rezeptionist da einiges verschlafen. Also ziehen einige von uns oben an den zweiten Pool. Ich will einfach nur unter eine Dusche. Schnell.
Der Abend geht – frisch geduscht und erstmals seit Tagen wohlig duftend – mit leckerem Abendessen oben unter dem Dach des Restaurants zu Ende. Es wird gelacht und getrunken, die Abenteuer auf Nosy Hara und im Montagne d’Ambre ziehen an uns vorbei. Morgen steht noch ein ganzer Tag Entspannung am Pool an. Den brauche ich auch dringend zur Erholung! Über eine Woche Camping geht doch nicht ganz spurlos vorüber. Deshalb verabschiede ich mich auch relativ früh ins Bett. Den anderen geht es ähnlich.
Barfuß laufe ich die knarzende Holztreppe nach unten und über den grünen Kunstrasen rüber zu den Bungalows. Am Pool blinkt im Dunkeln eine ganz bemerkenswerte Auswahl bunter LED-Lichter, die irgendwie in die Palmen geflochten wurden. Hübsch hässlich. Obwohl ich schlagskaputt bin, kann ich lange nicht einschlafen.