Der Tag beginnt völlig in Ruhe. Um Neun stehe ich langsam auf, frühstücke in einem abgetrennten Teil des Hotel-Restaurants – es wird gerade renoviert – und schaue kurz mal durch den Garten. Apropos renovieren, es tut sich gerade sehr viel im Raphia. Vor den sonst so gemütlichen Treppenstufen sind unzählige Säulen aus Ziegeln aufgebaut, drum herum sind niedrige Mauern gezogen. Eine dieser merkwürdigen Säulen steht direkt vor dem neuen Ausgang, weshalb ich mich zum Herauskommen seitlich daran vorbei quetschen muss. Mittels kleiner Bindfäden wird gerade der übrige Boden begradigt. Besagte Bindfäden reiße ich im Laufe des Tages zwei- oder dreimal ab, was mir sehr leid tut, aber außer mir offenbar gar keinen stört. Außerdem wird im Restaurant der hintere Bereich zu einer Bar umgebaut, der vordere soll Restaurant bleiben – wenn der Boden fertig ist.
Am Mittag kommen Dimby und José vorbei. Man quatscht und trinkt THB im Garten, das geht schon mal um Elf. Ist ja Urlaub. Frank, der schon vor uns angekommen war, huscht immer mal in den Garten und wieder zurück zu seinem Zimmer. Er hat noch am Laptop zu arbeiten. José, Chrissi und ich fahren mal schnell rüber zum Shoprite, um ein paar Utensilien zum Backen beim Camping zu besorgen. José parkt ungefähr rechts eine Handbreit neben einem riesigen Pick-Up. Links sind aber noch zwei Meter Platz, mindestens. Das üben wir vielleicht nochmal. Aber das Rangieren mit den riesigen Toyota Landcruisern ist auch gar nicht so einfach. Wir kaufen sechs Flaschen Dzama-Rum, ein paar Kilo Mehl und Alufolie. Backpapier gibt es nicht auf Madagaskar. Dafür aber Erdnüsse mit Rosinen drin. Als wir durch den chaotischen Verkehr von Tana zurück im Hotel sind, hat sich Daddy zu der illustren Runde im Garten gesellt. Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, freue mich aber sehr. Er arbeitet inzwischen vor allem für chinesische Reisegruppen – aktuell hat er einen Verdienstausfall bis mindestens Juni (Nachtrag: Was waren wir da noch optimistisch!), da China seine Grenzen geschlossen hat. Während wir reden, kommt eine kleine Frau dazu. Sie flechtet mir dankenswerterweise die Haare. Im warmen Westen Madagaskars ist eine Flechtfrisur nämlich das einzige Mittel, das eigene Gehirn vor akuter Schmelze zu bewahren.
Als es dunkel wird, machen wir uns auf zum Carnivore, einem Restaurant in der Altstadt von Antananarivo. Thorsten, Dimby und ich in einem Auto, José, Frank und Chrissi im zweiten. Ich trage zur Abwechslung – und zum ersten Mal auf Madagaskar – eine normale Jeans und Ballerinas statt der klobigen Trekkingschuhe. Habe ich extra für diesen Anlass mitgebracht. Dimbys Frau Mapy ist auch eingeladen, sie fährt gleichzeitig am anderen Ende Antananarivos los. Erstmal verlassen wir das Raphia in die gefühlt falsche Richtung. Es gibt eine nagelneue, riesige Umgehungstraße in Richtung Innenstadt. Sie führt an Hunderten überfluteter Reisfelder und gefühlten Kilometern von Brackwasser entlang. In der Ferne thront der Rova, der Königspalast der Hauptstadt, auf seinem Hügel. Der Sonnenuntergang wirft fantastische Farben an den Himmel. Hinter der schwarzen Silhouette eines Hügels mit ein paar Häusern und einer Kirche versinkt die Sonne und färbt die Wolken tiefrot und orange. Obwohl wir die neue Umgehungsstraße fahren, erreichen wir die Altstadt nicht früher als sonst. Ein schier endloser Stau zieht sich durch Tanas Straßen. Die Rue de l’Indépéndance ist offenbar gesperrt und alle Autos müssen drumherum fahren. Also biegen wir irgendwo dahinter in eine winzige Seitengasse ab und fahren querfeldein, mal hier rechts, mal da links. Ich habe nach wenigen Minuten jegliche Orientierung verloren. Dann endlich erreichen wir die steile Straße, in der das Carnivore liegt. Geparkt wird direkt vor der Tür. Durch den Stau auf der Straße liegt dicker Smog in der Luft. Wir warten auf Mapy, die von einem Verwandten vorbeigebracht wird. Auch José haben wir unterwegs abgehängt, er steht immer noch irgendwo weit weg.
Schließlich sind aber irgendwann alle da. Wir bekommen einen Tisch am Fenster. Eine skurrill blinkende, bunte LED-Lichterkette wurde auf die Fenster drapiert. Das tut dem sowieso eher bunten Ambiente keinen Abbruch, und erstaunlicherweise ignoriert man die Blinkerei nach ein paar Minuten sowieso. Im Carnivore bekommt man Beilagen wie Salate, Kartoffeln und Brot auf den Tisch gestellt, das Fleisch wird von riesigen Spießen direkt auf den Teller serviert. Es kommen so lange verschiedenste Spieße an den Tisch, bis man sein Fähnchen in der Mitte des Tisches abknickt. Wir trinken erstmal eine Runde THB. Dann fällt mir noch etwas ein – ich habe ja noch ein kleines Geschenk für Mapy. Ich hatte sie gefragt, womit man ihr eine besondere Freude machen könnte. Sonst bekommen die Kinder immer etwas mitgebracht, sie selbst aber eher weniger. Und Mapy hatte sich bestimmte Pumps einer französischen Schuhmarke ausgesucht. Tatsächlich war es in Deutschland relativ schwierig, genau diese Schuhe zu bekommen, aaaaaber ich habe sie dann doch bekommen. Aus Paris. Aus einem sehr kleinen Laden, mit dem ich auf Französisch telefoniert habe. Ich sollte dazu anmerken, dass mein Französisch nicht besonders gut ist. War es schon in der Schule nicht, und da habe ich es immerhin neun Jahre gelernt. Naja, jedenfalls bin ich jetzt super gespannt, was Mapy zu den Schuhen sagt. Trotz eigentlich völlig überfülltem Gepäck ist auch der Originalkarton der Schuhe mit nach Madagaskar gekommen, und ich habe noch ein Schleifchen drum gemacht. Ich überreiche die Schuhe direkt am Esstisch – Mapys Augen strahlen schon. Im Austausch gibt es eine riesige Tüte Mangostan für mich. Sehr guter Tausch! Andächtig faltet Mapy die Schleife auf und hebt vorsichtig den ersten Schuh aus dem weißen Seidenpapier. Dann folgen Begeisterungsstürme, freudige Umarmungen und sehr viele Dankeschöns. Offenbar habe ich die richtigen Schuhe mitgebracht – was mich auch sehr freut. Vorsichtig zieht Mapy die Schuhe an – der Rest des Tisches übt sich in bewundernden Ausrufen – und behält sie dann den Rest des Abends an. Und lugt zwischendurch immer wieder unter den Tisch, um sich an den Pumps zu erfreuen. Und vielleicht das ein oder andere Foto zu schießen und per Whatsapp direkt an Freunde und Familie zu verteilen.
Das Essen wird sehr feucht-fröhlich. Wir besprechen die geplante Tour, machen letzte Änderungen im Reiseplan und quatschen über Reptilien, Madagaskar und viele lustige Anekdoten aus vielen Jahren Madagaskarreisen. An Spießen gibt es Rinderzunge, karamellisierte Hähnchenflügel, Zebuherz, Ziegenkeule, knusprig gebratenen Schweinebauch und allerlei andere Leckereien. Auch in Stücke gesägte, halbierte Knochenstücke kommen an den Tisch. Das gesalzene Mark kann man auslöffeln. Es erinnert mich ein bisschen an das Zebuhirn, das ich auf meiner ersten Madagaskarreise in Port Bergé probiert hatte. Schmeckt ganz lecker, aber die Konsistenz ist etwas fies. Zwischendurch entdeckt José einen Gecko hinter sich an der Wand, der blitzschnell hinter die Deko – eine riesige, rote Papierblume mit Zebuhörnern – verschwindet. Frank sichert seinen Ruf als Herpetologe und schaut direkt mal hinter die Wanddekoration, um was für einen Gecko es sich handelt. Und dann bringt der Kellner einen Spieß mit merkwürdig kleinen Knochen an den Tisch. „Bibilava“ sei das, Schlange. Daraufhin fragt Tanala erstmal, ob der Kellner wüsste, dass die madagassischen Schlangen mehrheitlich unter Schutz stünden. Ijoaaaa, also da ist er sich nicht so sicher (Info: Nein, auf Madagaskar selbst haben die Tierchen leider gar keinen Schutzstaus). Die nächsten Minuten wird fröhlich im Schlangenfleisch gestochert. Das übrigens hervorragend schmeckt. Der Größe nach könnte es eine Leioheterodon oder eine Acrantophis sein. Kleinere Schlangen kommen allein auf Grund der Wirbelgröße nicht in Frage. Was es genau ist, erfahren wir vorerst nicht, aber wir werden in die Küche eingeladen. Also wandeln Frank und ich nach dem sehr leckeren Essen – und ich schon reichlich angetrunken durch diverse THB und Caipirinas – dem Kellner hinterher in die Küche. Die ist dann schon ein bisschen eindrucksvoll: An einem riesigen halbrunden Grill garen im Halbdunkeln Spieße auf Holzgestellen. Überall brutzelt und zischt es. Frank fragt, woher das Schlangenfleisch komme. „Aus Mahajanga!“, erklärt uns einer der Köche auf Malagasy. Leider hat er keine gefrorene Schlange mehr zum Anschauen da, deshalb begnügt Frank sich mit einem nur halb angegartem Stück Schlange. „Wie verhält sich die Schlange eigentlich, ist die nett oder eher aggressiv?“ fragt er dann noch auf Französisch. „Doux“, sagt der Koch, freundlich, sanft. Gut, damit ist die Hakennasennatter raus. Es wird wohl Acrantophis sein, was wir da am Spieß gegessen haben.
Angeheitert verlassen wir das Carnivore. Durch das schlafende Antananarivo geht es zurück zum Hotel. Die Straßen sind leer gefegt, niemand ist mehr unterwegs. Ein krasser Kontrast zum bunten, dicht gedrängten, chaotischen Leben, das noch vor wenigen Stunden hier herrschte. Der sehr fröhlichen Seite Madagaskars folgt gleich noch die extrem unschöne. In einem Tunnel in der Altstadt sehe ich unzählige Menschen am Boden schlafen, in helle Tücher gehüllt. Es sind dreißig, vierzig, fünfzig, eher mehr Menschen, kleine und große. Sie alle schlafen hier, weil sie keinen anderen Ort zum Schlafen haben. Es sieht gespenstisch aus – wie Leichensäcke liegen die Menschen völlig regungslos da, selbst die Gesichter haben sie als Schutz vor dem Smog in die Tücher und Fetzen gehüllt.
Zurück im Hotel ist es so spät, dass wir auch noch auf die anderen warten können. Lars, Jutta, Markus, Martin, Philipp und Katie sind gerade mit dem Flugzeug aus Paris angekommen. Es gibt ein großes Hallo, es folgen noch ein paar THB, aber die anderen können unseren Getränke-Vorsprung nicht mehr einholen. Unglaublich spät wird es, bevor ich zum Schlafen komme.
zu „‚Doux‘, sagt der Koch, freundlich, sanft.“
Vielleicht sagte/meinte er auch „do“ (Aussprache „du“, genau wie „doux“) – was ein madagassischer Name von Acrantophis madagascariensis ist?
Hi, das kann auch gut sein! Passt ja alles zu Acrantophis.