Die ganze Nacht hat es geregnet. Als ich aufstehe, befindet sich ein kleiner See im Vorzelt. Für die Menge Regen heute Nacht ist das neue Zelt aber erstaunlich trocken geblieben. José ist mal wieder weggeschwommen, Markus‘ Zelt ist obwohl nagelneu von unten innen nass geworden, samt Matratze. Der Regen hat reichlich Blätter und eine Unmenge kleiner, grüner Früchte von den Bäumen mitgerissen. Auch ein großer Ast ist abgebrochen und liegt zwischen den Zeltunterständen.
Das Wasser am Sanitärhäuschen geht immer noch nicht. Léon winkt aus der Küche. Er schüttet Wasser aus einem gelben Kanister in eine Tasse, so dass ich es zum Zähneputzen benutzen kann. Das Klo funktioniert auch nicht, aber dafür findet sich schnell eine Alternative. Die Toilette des Restaurants nahe dem Campground ist frisch geputzt, hat fließend Wasser und man kann bei der Gelegenheit schon mal ein (Trink-)Wasser für später aus dem Restaurantkühlschrank erwerben.
Pünktlich um halb Sieben gibt es Frühstück mit Crêpes, Bananen und Nutella. Ich bespreche mit den anderen, wo genau wir heute auf die Suche gehen wollen. Ein – zugegeben, sehr ambitioniertes – Ziel ist, Brookesia dentata wiederzufinden. Das ist eine winzige Erdchamäleon-Art, die seit 2009 nicht mehr und davor zuletzt im Jahr 1900 gesehen wurde. Und 2009 stammte eines der „gefundenen“ Tiere aus dem Magen einer Schlange. Toll wäre so ein Fund schon. Ich habe eine Karte des Fundortes von 2009, und Ndrema ist sich sicher, zu wissen, wo genau das Örtchen im Trockenwald liegt.
So laufen wir hochmotiviert in den Wald. Relativ zügig geht es bis zu dem gewissen Stück Wald, wo es die Erdchamäleons geben soll. Diverse Furcifer rhinoceratus und eine junge Hakennasennatter lassen wir links liegen. Das Stück Wald, in dem die Fundchancen höher liegen sollen, kommt mir sehr trocken vor. Die Laubschicht ist sehr dünn, direkt darunter liegt Sand – eigentlich keine guten Voraussetzungen für ein Erdchamäleon. Aber wenn hier der Fundort sein soll? Schließlich setze ich den Rucksack am Wegesrand ab und beginne, wie die anderen auch auf Knien durchs Unterholz zu rutschen. Stundenlang suchen wir den Boden ab. Ich stöbere eine Vielzahl Springschwänze, Schaben, Tausendfüßler und kleine Spinnen – darunter sogar eine madagassische schwarze Witwe (ja, sind hier auch giftig, aber nicht sonderlich angriffslustig) – auf. Frank (übrigens standhaft in Jeans trotz der Hitze) dreht Blatt um Blatt um, Lars stöbert gebückt zehn Meter weiter am Boden, Philipp ist längst außer Sichtweite. Futtertiere gibt es jedenfalls genug hier! Nur das kleine Erdchamäleon bleibt wie vom Boden verschluckt. Inzwischen ist es Mittag, brütend heiß und ich schwitze auf dem Boden kriechend vor mich hin. Unmengen von Stechmücken und kleinen, nervigen sweat flies sind unterwegs. Nach etlichen Stunden geben wir auf: Außer einem blassgrauen Furcifer rhinoceratus, das sich wenig fotogen hinter einen Ast drückt, gibt es hier nichts zu finden. Mir tropft der Schweiß von den Händen und vom Kinn, meine Hose ist verdreckt bis zum Bauchnabel.
Langsam trotte ich hinter Ndrema und den anderen wieder den Weg zurück, den wir gekommen sind. Ich bin ein bisschen enttäuscht, obwohl mir natürlich klar war, dass die Fundchance bereits zu Beginn unseres Ausflugs eher gering war. An einem deutlich tiefer gelegenen Waldstück verschwinden Lars, Katie und Philipp nochmal ins Gebüsch. Hier ist der Boden viel feuchter, die Laubschicht ist dicker, insgesamt sieht es vielversprechender aus. Kleine Frösche hüpfen davon. Haben wir einfach an der falschen Stelle gesucht? Ein Brookesia dentata finden wir heute jedenfalls nicht mehr.
Auf dem Rückweg entdeckt Tanala auf einem dünnen Ästchen direkt vor einem großen, roten Erdloch eine wunderschöne, große Raupe. Sie ist mit kleinen Punkten versehen, die aussehen wie Goldglitzer. Dann findet Lars doch noch ein kleines Highlight im Trockenwald: Einen jungen Uroplatus guentheri. Diese extrem gut getarnten, nahezu rindenfarbenen Blattschwanzgeckos sind super schwierig zu entdecken. Das Baby saß zum Glück auf einem Blatt und war deshalb „sichtbar“. Ndrema hat außerdem noch ein trächtiges Paroedura stumpffi Weibchen entdeckt. Es lohnt sich also doch noch, die Kamera auszupacken. Vielleicht haben wir nächstes Jahr mehr Glück, wenn wir am Morgen direkt in diesem Waldstück mit der Suche beginnen.
Erst zurück im Camp merke ich, wie anstrengend der lange Vormittag war. Ich habe wohl vergessen, unterwegs mal was zu trinken und habe jetzt Durst wie ein Fisch. Zum sehr späten Mittagessen trinke ich ein THB und direkt eine Flasche Cola hinterher. Andry übertrifft sich beim Kochen mal wieder selbst. In Teig frittierte Calamari, Tomatensalat, Nudeln in Knoblauchsauce… wirklich enorm ecker, vor allem nach einer anstrengenden Tiersuche im Wald. Während ich gerade auf meinen Nudeln kaue, kommt eine laut singende Frauengrupppe in weißen Shirts und bunten Wickelröcken auf der Straße entlang gelaufen. Es ist Weltfrauentag. Das wird auf Madagaskar sehr ausgelassen gefeiert. In Deutschland habe ich davon übrigens noch nie etwas gehört.
Am späten Nachmittag gehen Lars, Philipp, Katie und Frank mit Ndrema nochmal auf die andere Seite des Nationalparks. Sie wollen nach Brookesia decaryi suchen, in einem kleinen Waldstück, in dem man sie besonders gut finden kann. Chrissi testet ein Brotrezept im mitgebrachten Dutch Oven auf dem Feuer in der Küche aus, während Christian und Andry neugierig zuschauen. Markus und ich hängen unter dem Gemeinschaftsdach im Schatten herum und beobachten zwei Coquerel-Sifakas, die immer weiter aus den Bäumen nach unten kommen. Schließlich springen beide an die Pfosten der Hütte direkt neben dem Camp. Sie lecken an den Baumstämmen, als gäbe es dort irgendwas besonders Leckeres. Als Markus und ich für ein paar Fotos näher heran gehen, können wir nichts Spannendes am Holz entdecken. Aber die Coquerel-Sifakas bleiben freundlicherweise noch ein wenig in den Bäumen sitzen, so dass wir ein paar Fotos schießen können.
Plötzlich verdunkelt sich der Himmel. Die Sonne verschwindet innerhalb weniger Minuten hinter einer schwarzen Wolkenwand. Wind kommt auf. Tanala schickt die Jungs mit zwei Geländewagen los, um die kleine Gruppe am Rande des Nationalparks aufzusammeln. Keine Sekunde zu spät verlassen die Autos den Parkplatz. Ein Platzregen bricht los. Innerhalb weniger Minuten steht der Campground unter Wasser. Als die Decaryi-Gruppe zurückkommt, sind sie trotz des Abholens durchnässt. Aber zumindest hört der Regen wieder auf und so kommt man zumindest aus der Dusche trocken zurück zu den Zelten.
Am Abend herrscht dank des Weltfrauentages Disko in den Hütten am Rande des Campgrounds. Laute, schnelle Musik klingt aus altersschwachen Boxen bis in den Wald. Für mich klingt die Musik unmelodisch (der Durchschnittsdeutsche steht offenbar mehr auf Viervierteltakt) und jedes Lied gleicht dem anderen. Die Sakalava hier lieben diesen Musikstil. Sie tanzen, johlen und feiern bis früh in den Morgen. Dazu streiten sich zwei Gabelstreifenmakis lautstark im Wald. Es wird eine unruhige Nacht.