Viel zu früh bin ich beim Frühstück im Restaurant. Außer mir und Tanala ist mal wieder keiner da. Gut, das morgendliche Treffen war auch für halb Acht ausgemacht und irgendwie ist es erst halb Sieben. Also ist Warten angesagt. Beim Frühstück nehme ich heute nur das kleine Frühstück. Das enthält Viennoiserie, frisch gepressten Ananassaft und Tee. Ersteres bedeutet einfach nur „feine Backwaren“ und entpuppt sich als Teller voller kleiner Leckereien: Ein Mini-Schokocroissant, ein Törtchen, ein normales Minicroissant und ein Madeleine. Für den normalen Menschen reicht das völlig als Frühstück.
Dimby fragt schließlich, wo wir eigentlich bleiben? Der Bootsmann aus Mahajanga hat schon angerufen, er wartet bereits. Das ist neu. Auf Madagaskar nimmt man es sonst nicht so ernst mit der Zeit. Ich begebe mich zur Rezeption, um 293.000 Ariary für Getränke und Essen für Tanala und mich zu zahlen. Und die Wäsche, der allerdings ein BH und zwei Unterhosen fehlen. Derweil erscheint Frank auf der Bildfläche. Er bietet einen denkwürdigen Anblick: Hellblaue Jeans, ein extrem sauberes weißes Hemd, eine schwarze Sonnenbrille und ein Cowboyhut. Das sieht schon schicker als der Rest der Gruppe mit den staubigen Trekkingklamotten und schweißigen Kopftüchern. Aber Jeans bei der Hitze? Nein, danke. Die sind doch nach zehn Minuten schon durchgeschwitzt und kleben dann. Aber Frank bleibt eisern bei seinen Jeans, er macht das immerhin seit Jahrzehnten auf Madagaskar so. Als wir endlich mit den Landcruisern losfahren, sind wir schon eine gute Stunde hinter der vereinbarten Zeit. Durch die Bismarckia-Wälder rutschen und fahren wir über den nassen Lateritweg bis zu der großen, öden Savanne. Dann fällt Philipp ein, dass er seinen Zimmerschlüssel noch in der Tasche hat. Da man das Zimmer in einem solchen Fall einfach weiter zahlt, wird der Schlüssel wieder zurück gebracht.
In Mahajanga selbst ist es laut, bunt und schmutzig. Wir kurven durch diverse Straßen, bis wir in eine Seitenstraße am Hafen einbiegen. Eine Frau in einem dunkelgrünen Toyota winkt aus dem Fenster ihres Autos. Wir wenden in einem Kreisel und folgen dem Toyota weiter Richtung der Bucht von Bombetoka. Die Straße ist eher ein Wasserloch und je näher wir der Bucht kommen, desto mehr riecht es. Zwischen großen Hallen fahren wir in eine schmale Straße. Die Frau im Toyota winkt erneut aus dem Fenster und deutet mit der Hand nach vorne. Wir fahren an ihr vorbei und gelangen an eine zum Wasser hin abfallende Betonrampe, vielleicht eine Art Kaimauer, die rechts von einem hohen Zaun mit einer Wand aus gestapelten Containern begrenzt wird. Am Ende des Kais steht ein rostiges, großes Boot im Trockenen, in bedenklicher Schieflage. Wir sind offenbar im Containerhafen Mahajangas. Es stinkt bestialisch nach Fisch. Links des Kais türmen sich im Schlamm (es ist gerade Ebbe) eine Unmenge schrottreifer Schiffe und Kähne. Nebst einer Menge Müll. Darunter ist auch die ehemalige Autofähre, die längst nicht mehr fahrtüchtig ist. Ich steige aus und schaue ein wenig konsterniert in dem ganzen Dreck umher. Der ganze Boden abseits der Schräge ist voller Fischreste, Plastikmüll, Essenshinterlassenschaften, angeschwemmtem Treibholz und Seetang. Unglaublich viele Männer jeden Alters stehen herum. Die meisten tun einfach gar nichts, genau wie ich. Ein Taxibrousse steht weiter vorne. Ich quetsche mich in einen winzigen, schmalen Rest Schatten direkt vor das Taxibrousse. Inzwischen steht die Sonne hoch am Himmel und brennt ziemlich heftig herunter. José und Fitah laufen zum Wasser – oder vielmehr der roten Brühe – am Ende des Kais, um mit dem Bootsfahrer zu sprechen. Lars nutzt die Zeit, um bei einem Jungen für 30 Cent einen chinesischen Nagelknipser zu erstehen.
Ganz unten am Kai liegt ein kleines Boot mit Sonnendach. Neben zwei ähnlich kleinen Booten, die alle aneinander festgetaut zu sein scheinen. Das Wasser der Bucht von Bombetoka ist dank des hier mündenden Fluss Betsiboka eine braunrote Brühe. Unmengen Treibholz schwimmen darin herum. Dimby spricht mit einem offenbar enorm wichtigen Mann, der eine gelbe Warnweste trägt und mit einem Klemmbrett wedelt. Dann drückt er mir das Klemmbrett in die Hand: Der Hafenbeauftragte möchte unsere Namen, Geburtsdaten und Passnummern haben, in einer ordentlichen Liste. Falls wir in der Bucht untergehen, wüsste man dann immerhin, nach wem man vielleicht oder auch nicht suchen müsste… Martin zückt pflichtbewusst seinen Reisepass. Philipp weiß seine Reisepassnummer einfach auswendig – ich staune. Ein bisschen bewundernswert. Wer sonst weiß das schon? Ich jedenfalls nicht. Markus nicht. Chrissi auch nicht. Tanala nicht. Und es ist viel zu warm, hier meinen Fotorucksack auseinander zu wursteln. Mal davon abgesehen, dass einige Anwesende mir nur semi-vertrauenserweckend vorkommen. Ich beschließe, dass die Passnummern nicht so wichtig sind und zähle nach, auf wie viele Ziffern ich kommen muss. Die sehr fantasievoll ausgefüllte Liste – auch ein ominöser Dirk und ein Dr. Cowboy Joe haben darauf gefunden – gebe ich dem Hafenmann ernst dreinschauend wieder zurück. Der wirft einen Blick darauf, murmelt irgendetwas und nickt zufrieden. Gut, dann ist ja alles geklärt.
Unten am Kai winken die Bootsleute. Ich schultere meinen Fotorucksack und gehe näher heran. Das Boot, in das wir alle einsteigen sollen, liegt allerdings drei Meter weit entfernt im roten Wasser. Trockenen Fußes kann man da wohl kaum einsteigen. Und seien wir ehrlich, in dem Dreck hier will ich meine Schuhe nicht ausziehen. Ob vielleicht irgendwer ein Brett…? So eine Ein-Meter-Planke würde reichen. Nö. Nach wenigen Minuten gibt es eine Lösung: Die Hafenarbeiter wollen uns huckepack zum Boot tragen. Etwas ungläubig beobachte ich, wie ein hagerer, nicht besonders großer Mann Tanala auf seinen Rücken hievt und durch das Wasser zum Boot bugsiert. Samt Fotorucksack. Lars krabbelt über das Nachbarboot, was allerdings vom Besitzer desselben sehr grantig kommentiert wird. Da wird nämlich das Boot dreckig! Also doch huckepack… ich frage den Mann mit der großen Zahnlücke, ob wir nicht lieber doch den Fotorucksack zuerst und dann eine Holzplanke einfach… Neinein, winkt er ab. Dann sackt er unter mir ziemlich zusammen, aber schleppt doch jeden erfolgreich zum Boot. Das Boot ist übrigens reichlich voll. Der Bootsmann will gerade losfahren, da stürmen Fitah und José noch den Kai herunter. Die beiden sollten wir vielleicht noch mitnehmen! Als endlich alle 15 Mann dicht an dicht im Boot sitzen und jeder brav eine ölig riechende Schwimmweste an hat, geht es los. Das Boot tuckert quer durch die Bucht. Trotz eher mäßigen Wellengangs bin ich sehr schnell sehr nass. Als der Bootshelfer das vorne sieht, reicht er eine dicke, nach Öl riechende Plane nach hinten. Jetzt bin ich nass, habe keine Aussicht mehr, dafür Ölgeruch in der Nase und irgendein Bastbändel im Gesicht. Nach einer guten halben Stunde landen wir schon am Strand von Katsepy an. Hier ist auch gerade Ebbe, entsprechend viel Treibgut schwimmt im Wasser.
Wir sind kaum in der Nähe des Strandes, als schon diverse junge Männer auf das Boot zustürzen. Lautstark brüllend streiten sie darüber, wer welche Koffer tragen darf und wer nicht. Und überhaupt. Ich verstehe kaum ein Wort. Es scheint, als wären wir die einzigen Touristen seit Monaten hier. Auch hier wäre eine Holzplanke wieder nützlich gewesen, denn natürlich gibt es auf Katsepy keinen Anleger. Man ankert einfach irgendwo am Strand im Sand. Ich ziehe meine Schuhe aus, steige aus dem Boot ins Wasser und stapfe durch den Sand den Strand hinauf. Ich gelange auf einen großen Platz unter riesigen, schmalen Palmen, gesäumt von mehreren großen Hütten mit Palmblattdächern, zwei hell angemalten Steinhäusern und einem schrottreifen LKW neben einer Wellblechhütte. An der Hinterseite des Platzes verläuft ein hoher, alter Holzzaun.
Unten am Strand wird immer noch lautstark diskutiert. Irgendwie finden die Koffer aber alle ihren Weg vom Boot bis auf eine Ansammlung von Treibholz unter einer Palme. Ein leichter Wind weht, es ist unglaublich heiß. Ich lasse meine Flip-Flops an und binde die Trekkingschuhe an den Schnürsenkeln zusammen. Unter der Palme entbrennt in der Mittagshitze eine weitere Diskussion, diesmal mit einem gestikulierenden Dimby. Offenbar handelt er gerade Preise aus, für den Weg der Koffer in unsere Unterkunft. Mir scheint, hier wird reichlich Gras konsumiert. Ein alter Mann mit wettergegerbtem Gesicht in einem gelben, abgetragenen Hemd trägt eine bunte Rastafari-Strickmütze auf dem Kopf. Er schiebt ein Fahrrad den Strand entlang und verkauft offenbar aus seinem Rucksack Rauchbares. Da Dimby immer noch diskutiert, meint Frank: „Lasst uns doch schon mal zum Hotel gehen! Es ist gleich hier vorne.“ Ich tapere ihm also hinterher in Richtung des Holzzauns, quer durch die Müllhalde des Platzes, vorbei an dem alten LKW-Wrack bis zu einem hölzernen Tor. Dahinter liegt eine erstaunlich große Hotelanlage mit vielen Palmen, Gebüsch, Bäumen und Bungalows. Es ist einfach, aber nett. Von den wenigen Metern Laufen läuft mir der Schweiß den Rücken herunter.
Tanala und ich haben ein Bungalow am Rand des Geländes. Der Eingang ist niedrig, aber innen ist es ganz hübsch. Gut, die Metallgestelle der Betten wurden sicher schon in irgendeiner JVA zu Kolonialzeiten verwendet. Aber es gibt Moskitonetze. Mit Tanala gehe ich zurück zum Restaurant des Hotels. Das besteht eigentlich nur aus Dach. Die Eingänge am Rand sind so niedrig, dass man sich bücken muss, um hineinzugehen. Dafür ist es innen den ganzen Tag schattig (Anmerkung: aber nicht luftig). Fitah übersetzt die Speisekarte, die aus einer mit Kreide beschrifteten Tafel besteht. Ich bestelle Gemüse und Zebu. Und dann warten wir erstmal. Kühle Getränke sind innerhalb der ersten Stunde aus. Am Rande des Restaurants liegen auf einem alten Nähtischchen uralte Zeitschriften. Sie sehen aus wie aus den 60ern, sind aber tatsächlich „erst“ 15-20 Jahre alt. Die Tropenhitze lässt das Papier hier schneller altern.
Ich kaue gerade auf einem Stück Karotte, als Katie von draußen ruft. Sie hat in ein paar Nadelbäumen nur wenig entfernt Kronensifakas entdeckt. Diese wunderschönen Lemuren leben nur im Westen Madagaskars. Dass sie auch in verwilderten Gartenwäldchen und in Nachbarschaft des Dorfes vorkommen, wusste ich nicht. Ich schnappe meine Kamera und flitze direkt los. Tatsächlich sitzt eine Gruppe von vier Kronensifakas in Kopfhöhe unweit meines Bungalows. Man kann sie wunderbar beobachten. Ein Weibchen hat sogar gerade Nachwuchs – ein winzig kleiner Schwanz ringelt sich an ihrem Oberschenkel entlang. Zwischendurch lugt das Baby sogar mal kurz aus Mamas Fell hervor. Unglaublich niedlich. Mit winzigen Händen hält es sich am Bauch seiner Mama fest. Ich könnte die Kronensifakas stundenlang beobachten. Die vier Sifakas sind überhaupt nicht scheu. Obwohl ein Männchen bereits ein kaputtes Auge hat – Tanala meint, vermutlich durch Geschosse aus den Steinschleudern von Kindern. Zwei junge Männchen spielen miteinander, hängen kopfüber vom Baum, kabbeln sich, halten sich gegenseitig die Augen zu und kuscheln sich dann wieder eng aneinander. Ein anderes Männchen hält etwas Abstand, kommt dafür aber neugierig bis auf den Boden herunter, um kurz im Schneidersitz zu sonnen. Das Jungtier krabbelt sogar einmal kurz aus dem Schoß seiner Mama heraus und zeigt sich für wenige Augenblicke.
Hatte ich schon erwähnt, wie heiß es in Katsepy ist? Wirklich sehr, sehr heiß. Was ich trinke, schwitze ich gefühlt sofort wieder aus. Als die Sonne untergeht, kommt ein Hauch von Wind auf. Außerdem schlängelt sich plötzlich ein breiter Fluss quer über das Hotelgelände. Die Flut kommt zurück, und mit ihr drückt eine Menge Wasser aus der Bucht von Bombetoka in das Gelände des Hotels. Ein richtiger Wasserfall bildet sich am Zaun. Schon wieder wäre eine Holzplanke nützlich – aber nicht lange. Innerhalb kürzester Zeit ist der Fluss auf dem Hotelgelände gute zehn Meter breit.
Nach dem Abendessen will ich noch ein bisschen über das Gelände schlendern. In den Bäumen könnte es das ein oder andere schöne Chamäleon zu entdecken geben. Mit einem THB intus – was hier auf Grund der Hitze scheinbar schon für leichtes angetrunken sein reicht – laufe ich in Flip-Flops über den Sand. Das Gelände oder vielmehr der verwilderte „Garten“ ist enorm unübersichtlich. Ich dachte erst, es sei eckig. Ist es aber nicht. Es hat eher die Form eines unförmigen Kraken mit unzähligen langen Ausläufern in alle Richtungen. Unter einer Mango liegen zwei beige Hunde. Erst sind sie scheu, als ich mich kurz hinsetze, kommen sie aber wieder angelaufen und lassen sich gerne kraulen. Als ich mich umdrehe, entdecke ich im Schein meiner Stirnlampe auf Kopfhöhe einen hellen Fleck in der Mango. Ob das…? Ja, es ist tatsächlich ein Chamäleonweibchen. Und ein sehr besonderes noch dazu: Es ist Furcifer voeltzkowi, eine jahrelang für ausgestorben gehaltene Art.
Irgendwo an einem Zaun verlaufe ich mich zwischen Drachenpalmen, Spinnweben und irgendwelchem spitzblättrigen Kaktuszeug. Licht um mich herum sehe ich gar keines, also gehe ich zurück zum Zaun und arbeite mich am Rand wieder in Richtung dessen, was ich für den großen Mangobaum halte. Stattdessen komme ich an einer Reihe riesiger anderer Bäume heraus. Zwei Lichtkegel tanzen durch die stockfinstere Nacht. Ich bewege mich darauf zu und entdecke Dimby und José, die ein Furcifer oustaleti auf gut vier Metern Höhe im Baum entdeckt haben. Ich frage sie, wo der Weg zurück ist und Dimby deutet unbestimmt rechts von mir ins Dunkel. „Misaaaaooootraaa“, sage ich und folge grob der angedeuteten Richtung. Ich komme nach einer ganzen Weile irgendwo weit über dem Restaurant wieder heraus. Das Wasser auf dem Gelände hat sich wieder etwas verzogen, aber der Boden ist noch morastig nass. Das Glück ist offenbar heute mit mir: Ich entdecke noch diverse Chamäleons, eines schöner als das andere. In einer Ravenala streiten sich zwei Mausmakis lautstark.
Als ich nach einer Ewigkeit zurück zum Restaurant tapere, wird dort gerade erst das Dessert serviert. Ich verzehre schnell einen leckeren Crêpe und wandele nochmal nach draußen. Direkt vor mir ruft etwas „Schuhuuu-huhu-huuhu“. Ich leuchte neugierig in den Baum direkt vor mir. Kaum anderthalb Meter vor meiner Nase sitzt eine kleine Eule und schaut mich mit großen Augen an. Die Suche wird jäh unterbrochen, als in der Ferne Gewittergrollen zu hören ist. Wind zieht auf, rauscht durch die Bäume und lässt die Palmen schwanken. Ich folge Tanala in unser Bungalow, in dem es nahezu unaushaltbar warm ist. Obwohl draußen ein Sturm mit Regen und Gewitter tobt, bewegt sich die Luft innerhalb des Bungalows quasi nicht.