Unser Plan für heute war: Sieben Uhr Frühstück, acht Uhr am Boot. Um sieben sind alle Deutschen und Amerikaner da (zu warm zum Schlafen), nur die Madagassen sind noch nicht mal aufgestanden. Das tut der guten Laune der Gruppe keinen Abbruch. Das Frühstück dauert ja eh länger. Es gibt exakt drei Croissants und „echtes“ Brot lange nach den Omelettes. Danach geht es ans Rechnung bezahlen und auch das dauert auf Katsepy lange. Eine ganze Reihe junger Männer aus dem Dorf sind heute sehr gut gelaunt und tragen derweil schon mal Gepäck zum Boot. Dachte ich. Bis sie uns an den windschiefen Toren des Hotels fragen, wo denn eigentlich das Boot sei? Das Gepäck liegt nämlich noch im Hotel, mitten auf dem Weg vor dem Restaurant. Dimby, José und Fitah sind längst auch da, als wir schließlich in Richtung Strand loslaufen. Im Dorf scheint irgendetwas los zu sein. Vielleicht fährt bald auch die Personenfähre rüber nach Mahajanga? Immerhin drei ganze – augenscheinlich funktionstüchtige – Autos stehen neben dem schrottreifen LKW herum. Markus lächelt ein kleines Kind mit großen, braunen Augen an – das daraufhin prompt anfängt, wie am Spieß zu schreien. Ja, gut, der Vazaha an sich kann schon sehr erschreckend sein.
Am Strand herrscht allgemeines Nichtstun. Das rote Wasser trifft in Wellen auf den Sand, einige kleine Boote schaukeln auf den kräftigen Wellen. Ein ordentlicher Wind geht. Unser Motorboot mit dem kleinen Sonnendach liegt verwaist am Strand. Ein junger Mann in Shorts und Hemd sitzt mit einem Zettel in der Hand auf einem Haufen Palmreste. Er nimmt offenbar die Daten potenzieller Fährgäste auf, denn um ihn herum schart sich nach und nach eine kleine Zahl von Männern, Frauen und Kindern mit Taschen und Gepäck. Weiter unten am Strand kehrt eine Frau Treibgut zurück in die Bucht von Bombetoka. Wenige Meter hinter ihr wird das Treibgut direkt wieder angeschwemmt, denn gerade ist Flut. Das stört sie offenbar nicht. Emsig kehrt sie mit ihrem Besen weiter Blätter, Holz und Bambusteile ins Wasser. Ein Madagaskar-Wiedehopf fliegt über das Dorf und landet auf einem Steinvorsprung neben einem Wellblechdach.
Nach einer Weile taucht ein Bootsmann auf. Es ist ein anderer als auf der Hinfahrt nach Katsepy, aber er gehört zum gleichen Boot. Der eigentliche Kapitän ist gerade in Soalala weiter südlich von Katsepy. Er hat aber, obwohl selbst abwesend, sein Boot samt Kapitänsersatz geschickt. Wir sind gerade am Einsteigen, da fällt dem jungen Mann mit dem Zettel in der Hand ein, dass er noch Namen und Passnummern von uns braucht. Falls wir ertrinken und so… man kennt das ja schon. Dimby, der als einziger noch nicht im Boot sitzt, übernimmt diese Aufgabe und denkt sich kreativ fünfzehn Namen und Passnummern aus. Ich bin derweil damit beschäftigt, nicht ins Wasser zu fallen. Merke: Ein Fuß schon auf dem Boot zu haben, während das Boot sich weg bewegt, ist nicht sehr geschickt.
Der Bootsmann wirft den tuckernden Motor an. Sein Bootshelfer hat ein vertrauenswürdiges T-Shirt mit der Aufschrift „What the heck?“ an. Direkt die erste Welle klatscht genau auf meinen Sitzplatz. Meine Hose ist klatschnass. Rechts wird eifrig eine Plane hochgezogen. Tatsächlich ist der Wellengang nicht so stark, wie er vom Strand aus aussah. Jede Menge Segelboote reihen sich am Horizont auf. Gemächlich tuckern wir über die Wellen. Ein paar Fischerleute in Pirogen dümpeln in der Bucht, sie haben offenbar Netze ausgeworfen. Plötzlich winkt einer der Fischerleute. Ich denke zuerst, er wolle nur dem vorbeifahrenden Boot winken. Aber das Winken wird immer hektischer, der Mann fuchtelt wild mit den Händen in der Luft herum. Dann macht es dumpf Zrrsshchh… und unser Boot hängt in einem Fischernetz fest. Der Bootsmann hat den gelben, im Wasser schwimmenden Kanister nicht gesehen, der die Lage des Fischernetzes markieren sollte. Der Bootshelfer steigt nach hinten bis zur Schiffsschraube und fummelt mit Hilfe eines Messers das Netz vom Boot los. Dann wirft er den Motor wieder an – schnell weg, bevor die inzwischen wirklich nicht mehr freundlich dreinblickenden Fischer näherkommen. So eine Piroge kann allerdings mit einem Motorboot zum Glück nicht mithalten.
Wir sind gerade auf Sichthöhe des Hafens von Mahajanga, als der Motor ausfällt. Der Bootsmann wirft prompt erstmal den Anker aus. Derweil kommen die Pirogen mit den – nicht so gut gelaunten – Fischern näher. Der Bootsmann und sein Helfer bemühen sich redlich, den Motor wieder zum Laufen zu bekommen, während das Boot auf den Wellen dümpelt. Der Motor piept wild und säuft dann ab. Nochmal. Und nochmal. Und nochmal. Schließlich springt der Motor ganz kurz an und befördert uns vielleicht zehn Meter näher an den noch recht weit entfernten Hafen heran. Auch der Containerhafen liegt noch einen guten Kilometer entfernt. Dann ist wieder Stille.
Ein paar Möwen fliegen über unsere Köpfe hinweg, die Fischerpiroge hat die Verfolgung aufgegeben. Es ist warm, und wir sitzen wie die Ölsardinen dicht gedrängt mit unseren Rettungswesten. Sonst ist weit und breit niemand zu sehen. Leider auch kein Boot, das uns helfen könnte. Der Bootsmann beginnt zu telefonieren, was aber offenbar ohne Ergebnis bleibt. Er startet den Motor, der Motor säuft ab. Wir fahren zwei Meter und treiben dann wieder ohne Antrieb zurück. Das Spielchen geht eine gefühlte Ewigkeit so. Im Boot wird gefachsimpelt, woran es liegt. Kein Benzin, kaputter Motor durch Netzschaden oder kaputter Motor durch das zum Entfernen des Netzes genutzte Messer? Wäre hier alles möglich. Auch gleichzeitig. Naja, jedenfalls springt der Motor irgendwann doch wieder an. Ein bisschen. Der Bootsmann gibt Vollgas, das hört man bestens. Allerdings sorgt das lediglich für einen winzigen Anschub, der gerade so ausreicht, das Boot überhaupt zu bewegen. In Zeitlupe bewegt sich das kleine Boot auf den Containerhafen zu. Und schafft es schließlich doch noch um die Kurve bis zum Anleger. Klonk – schlägt es erstmal an die bereits anliegenden Boote an.
Es ist gerade Flut, so dass das Wasser an der Kaimauer wesentlich höher steht als noch vor zwei Tagen bei unserer Abfahrt nach Katsepy. Entsprechend weniger Treibgut schwimmt herum. Ich steige mit Flip-Flops direkt ins Wasser aus. Ein älterer Mann mit einer großen Zahnlücke hilft allen beim Aussteigen, denn der veralgte Beton ist wirklich glitschig. Die Landcruiser samt Christian, Nany, Mamy, Andry und Léon warten bereits aufgereiht an der Wand unter den Containern. Einer der Jungs hat offenbar ein kaputtes Bremslicht an der Heckscheibe. Da das in Mahajanga bei Polizeikontrollen unangenehm ausfallen und zu Bestechungsgeldern führen könnte, wird es kurzerhand mit einem großen Aufkleber überklebt. Was nicht da ist, kann auch nicht kontrolliert werden.
Ein Zwischenstopp gilt dem ältesten Baobab Mahajangas direkt an der Pier mit ihren vielen Palmen. Der mächtige Baum mit seinem meterdicken Stamm steht mitten auf einer Kreuzung direkt am Wasser. Von der Pier aus kann man nach Katsepy schauen. Der Baum trägt jetzt in der Regenzeit gerade Blätter und ist wirklich riesig. Sein unterer Teil ist mit weißer Farbe zum Schutz vor Termiten angepinselt. Auf der weißen Balustrade, die den Baum umringt, sitzen Leute und beobachten den Verkehr. Auf einer Seite des Baumes haben sich unzählige Menschen mit Buchstaben und Nachrichten in der Rinde des alten Baobabs verewigt. Ein paar hundert Jahre alt soll er sein. Heute kurven viele Tuk-Tuks um ihn herum. Ein paar Pousse-Pousse-Fahrer warten auf Gäste. Bevor es zurück in unser Hotel geht, halten wir außerdem zum Shoppen an einem Score. Und der hat neben Eis, was alle sich in der Hitze schmecken lassen, auch Mangostan da. Genauer 1,94 kg, die nach mir nicht mehr da sind.
Léon hat es offenbar eilig. Der Geländewagen rutscht fröhlich im regennassen Laterit herum, schlittert hier mal weg, rutscht da mal etwas über den Wegrand. Léon überholt einen dahin schleichenden Hyundai Santa Fé, dessen Fahrer etwas verängstigt die Lateritspur durch die Mangroven in Richtung der Bismarckia-Wälder beäugt. Ohne Geländeerfahrung sollte man hier wohl eher nicht fahren. Wir schlittern dem Santa Fé davon, durch Schlammsuhlen und vorbei an einigen Hütten. Der rote Weg führ durch grünes Land parallel zur Küste. Schnell haben wir die anderen hinter uns aus den Augen verloren. Dafür schafft Léon es als erster bis zum Hotel zurück. Im Dorf davor kommen uns viele Mädchen und Jungen in hellblauen Hemden entgegen. Es ist gerade Mittagspause in der Schule. Ein Kindergarten mit kleineren Kindern in gelben Hemden begegnet uns ebenfalls und die meisten winken aufgeregt. Ich winke fröhlich zurück.
Ich begebe mich mit Tanala erst unter die Dusche, dann an den Pool. Im Meer segeln ein paar kleine Boote mit von Hand zusammen genähten, ausgeblichenen Segeln. Ich genieße die Ruhe und das kühle Bier am Pool. Inzwischen ist der Chef des Hotels aufgetaucht, Thierry. Thierry ist locker über zwei Meter groß und trägt schicke Lederslipper, eine extrem bunte Shorts mit Comicmotiven und ein ebenso buntes Hemd. Der nette Franzose sticht unter den Madagassen, die die Bar am Pool umbauen, dadurch bemerkenswert ins Auge. Durch die Aufsicht des Chefs scheint das Treiben allerdings geschäftiger zu sein als noch vor drei Tagen. Betonsäcke und Schubkarren werden von A nach B getragen und geschoben.
Ein wunderschöner Sonnenuntergang breitet sich über der Bucht aus. Riesige schwarz-weiße Schmetterlinge mit roten Schwänzen segeln langsam durch die Luft. Als der Himmel in tiefes Lila getaucht wird, schweben unzählige Libellen vor dem Restaurant. Zum Abendessen gibt es panierte Calamari mit Kartoffeln. Und Ananas-Tarte mit Eis zum krönenden Abschluss. Superlecker! Markus hat derweil andere Probleme. Irgendein boshaftes Stechinsekt hat seinen Ringfinger unschön anschwellen lassen. Und der Ring an diesem Finger wird nun langsam sehr eng. Dimby weiß dafür aber eine Lösung: Irgendeine abgefahrene Wickeltechnik mit einem Bindfaden, den er aus seinem unerschöpflichen Repertoire an Bastelkram zaubert. Während Markus vor Schmerzen das Gesicht verzieht, bemerkt Dimby nur trocken „Ich habe das auch noch nie gemacht, aber ein YouTube-Video dazu gesehen!“ Aber das Ergebnis zählt: Der Ring geht schließlich doch noch runter vom malträtierten Finger. Katie und ich versuchen mit Hilfe von Thierry diverse in der Wäsche verloren gegangene Unterwäsche-Teile zurückzubekommen. Die Mission ist so lala erfolgreich.
Im Dunkeln brechen wir nochmal zum Wald auf. Unterwegs entdecken Lars, Philipp und Frank zwei kleine Jungen, die eine Pelomedusa subrufa an einem Stöckchen baumelnd herumtragen. Sie wollen sie gerade zum Abendessen mitnehmen, erklären sie fröhlich. Lars will den Jungen die Schildkröte abkaufen und handelt sie erfolgreich auf 1000 Ariary herunter. Dann jedoch stellt er fest: Keiner hat einen kleineren Schein als 5000 Ariary dabei. Aber gut, das Geld ist ihm das Tier wert. Die Jungens freuen sich ziemlich darüber und machen sich schnell vom Acker, bevor die merkwürdigen Vazaha es sich noch anders überlegen. Die Schildkröte lassen wir morgen in einem geeigneteren Lebensraum weit weg vom Dorf wieder frei. In der Dunkelheit gibt es noch einiges zu sehen in dem kleinen Wäldchen. Ein Bach schlängelt sich durchs Grün, es wimmelt von Stechmücken. Aber es gibt doch noch kleine Highlights zu sehen: Einige Brookesia decaryi, genau die wollten wir finden. Eines davon scheint mir allerdings etwas anderes zu sein und auch Frank ist sich gar nicht sicher, ob das alles die gleiche Art ist. Madagaskar hält noch Überraschungen bereit!