Heute Nacht stand die Terrassentür des Bungalows offen. Irgendetwas kleines, pelziges hat mir und Tanala prompt einen Besuch abgestattet. Ich habe im Dunkeln zum Glück nicht wirklich erkennen können, was es war. Klettern konnte es jedenfalls sehr gut. Zum Frühstück ziehen nur Frank, Tanala, Chrissi und ich mit den Jungs los zum Hafen. In Léons Landcruiser riecht es ziemlich muffig. Liegt irgendwo ein vor sich hin schmelzender Käse im aufgewärmten Kühlfach? Im Hafen von Ankify ist es gerammelt voll. Zig überladene Taxibrousse stehen auf den betonierten, schräg vom Hafen bergauf führenden Parkplätzen. Ich habe kaum die Autotür hinter mir geschlossen, als ich bereits von laut brüllenden Menschen umringt werde. Ein Boot nach Nosy Be? Eine Piroge nach Nosy Komba? Oder doch die Speedboat-Fähre? Mit dem Taxibrousse nach Ambanja? Alle rufen und quatschen durcheinander, ich verstehe nur die Hälfte. Leider wollen wir auch gar nirgendwo hin. Und so ziehen viele der Menschen etwas enttäuscht wieder ab und blasen zum akustischen Angriff auf den nächsten ankommenden Geländewagen.
Auf dem sandigen Platz vor Mama Bes verwaistem Laden schieben wir einen Holztisch in den Schatten. Die Sonne scheint von einem völlig wolkenlosen, blauen Himmel. Gegenüber verkauft ein Mann gerade Hühner, die mehr oder minder lebendig wirken. Ein Junge im lila Hemd mit buntem Muster trägt zu Bündeln geschnürtes Grünzeug auf dem Kopf spazieren. Eine Frau trägt einen Teil einer Bananenstaude auf dem Kopf, die ganz genau zu ihrer Kopfform passt. Parallel verkauft sie Avocados aus einer Schüssel. Überhaupt gibt es heute viel zu sehen in Ankify. Eine runde Frau mit einer riesigen, goldenen Brille und ebenso auffälligem Schmuck um den Hals und an den Ohren setzt sich zum Frühstück an einen zweiten Tisch. Ihr Kopf wird von einem neonfarbenen Turban geschmückt, ihr Körper ist in ein wallendes Gewand gehüllt. Sie erinnert mich total an Mama Odie aus Disneys Küss den Frosch. Ich kaue auf meinen frittierten Bananen. Frank schlägt vor, heute nach Benavony zu fahren, dort gab es mal einen Rest von Primärwald. Wir beratschlagen, dass erstmal ein kleiner Suchtrupp hinfährt, da wir weder wissen, wie gut die Straße ist, noch ob es dort noch Wald und Reptilien gibt. Der Vorschlag wird zurück im Hotel den anderen unterbreitet. Er findet Anklang.
Am Mittag geht es los. Zwei Autos starten nach Ambanja. Eine gute Stunde brauchen wir, bis wir überhaupt den Sambirano erreichen. Christian und Andry neben mir quasseln ohne Unterbrechung. Durch die Mangroven geht es noch zügig. Doch die Stadt selbst ist sehr voll und die Straße voller Schlaglöcher und abgebrochener Asphaltkanten. Tuk-Tuks drängeln sich durch den dichten Verkehr, Fahrräder und Fußgänger suchen sich ihren Weg zwischen Marktständen, Werkstätten direkt am Wegrand und Holzstapeln. An der großen Brücke über den Sambirano halten wir an. Hier sind wir zu weit, die Straße nach Benavony soll kurz vor dem Fluss abbiegen. Aber da war nichts? Léon wendet den Wagen und fährt langsam ein Stück zurück. Am Straßenrand spricht er einen jungen Mann an. „Wo geht es hier nach Benavony, bitte?“, fragt er. „Du musst zur Jovenna-Tankstelle!“, sagt der Mann im gelben T-Shirt. „Und dann immer am Fluss entlang. Du wirst aber kein Taxibrousse finden, dass da fährt.“ Léon bedankt sich und biegt nach diversen kleinen Markständen schräg auf eine Schlammpiste ab. Tatsächlich liegt etwas versetzt von der Hauptstraße eine alte Tankstelle am Rand des lehmigen Weges. Wir folgen dem Weg, rechts und links flankiert von ausgeschlachteten LKWs und riesigen Pfützen. Wir passieren eine riesige Müllhalde. An einigen Stellen raucht es. Der Weg stellt sich innerhalb der ersten hundert Meter bereits als katastrophal heraus. Tatsächlich verläuft er parallel zum Sambirano, den man immer wieder durch die Bäume erahnen kann. Dichte Kakao- und Kaffeplantagen säumen den Weg, niedrige, einfache Holzbalken bilden eine Art durchgehende Plantagenbegrenzung. Die beiden Landcruiser rumpeln über Erdspalten, rutschen durch Schlammlöcher und arbeiten sich im Schneckentempo den völlig zerfurchten, durchlöcherten Weg hinauf. Eigentlich ist es gar kein Weg, es ist eine verwüstete Landschaft aus spiegelglattem, matschigen Laterit. Der Landcruiser hängt quasi ständig völlig schief, es rumpelt und rummst. Der Wagen entgeht nur um ein paar Zentimeter einem riesigen Loch, das einfach mitten im Weg ist. Für Fußgänger liegt ein Baumstamm am Rande über dem Abgrund.
Eine gute Stunde quälen Léon und Nany die beiden Landcruiser den Weg entlang. Vor einem weiteren Loch, das deutlich größer als unser Auto ist, müssen wir schließlich anhalten. Hier geht es nicht mehr weiter. Warum hier längst kein Taxibrousse mehr durchkommt, ist mir völlig klar. Dass die anderen noch nachkommen können, erscheint bereits allein auf Grund der Zeit völlig aussichtslos. Im Dunkeln kann man den Weg auf gar keinen Fall fahren, er ist bereits im Hellen eine riesige Herausforderung. Wir beratschlagen, was wir machen wollen. Frank ist dafür, einfach zu Fuß nach Benavony zu laufen. Ich entdecke direkt neben dem Auto ein wunderschönes Pantherchamäleon-Männchen auf dem Zaun. Und packe erstmal die Kamera aus. Keine zwei Meter davon findet sich ein rosa Weibchen dazu. Wow, was Farben! Die typische Lokalform von Ambanja leuchtet hier geradezu.
Ein Mann auf einem Fahrrad kommt uns entgegen. „Wie weit ist es nach Benavony?“, fragt Christian. „Eine Viertelstunde!“, antwortet der Radfahrer. Oha, hoffentlich keine madagassische. Philipp, Lars, Katie, Frank und ich laufen los, Fitah und José kommen mit. Alle zehn Meter findet sich ein Pantherchamäleon. Leider haben wir wenig Zeit zum Fotografieren, denn wenn wir noch einen Restwald finden und vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück in Ankify sein wollen, müssen wir uns beeilen. Ich folge dem schammigen Weg, der in eine Kurve führt und danach relativ flach und sandig weitergeht. Ein Zebukarren überholt mich und Fitah gemütlich. Philipp fragt, ob sie gegen einen kleinen Obolus mitfahren dürfen. Der Mann auf dem Karren nickt und deutet hinter sich. Der hölzerne Karren wankt und wackelt bedenklich, als Lars, Katie und Frank aufsteigen.
Das Zebu trottet sehr langsam einher, ich kann den Karren zu Fuß überholen. An den üppig grünen Plantagen geht es vorbei, bis nach einer guten Viertelstunde tatsächlich ein paar Hütten auftauchen. Kaputte Zäune aus langen Ästen begrenzen den Weg, Palmen stehen am Wegesrand. Ein paar größere Wellblechhütten und viele kleinere, mit Palmblättern gedeckte Holzhütten säumen eine langgestreckte Kurve. Bunte Wäsche hängt auf einer Leine. Rechts verläuft der Sambirano, links zieht sich eine steile Hügelkette entlang des Tals, in dem das Dorf Benavony liegt. Doch die Hänge der Hügel sind recht kahl. Ravenalas wachsen, ein typisches Zeichen für Sekundärvegetation und vorangegangene Brandrodung. Ich folge den anderen vorbei an einem riesigen Mangobaum. Benavony ist klein und schmutzig. Viele Menschen sind nicht zu sehen. Ein paar Männer sitzen in kleinen Gruppen herum und kauen Kat. Auch ein paar Frauen entdecke ich mit den grünen Stängeln in der Hand. Ein paar Kinder rennen im Gebüsch herum und bestaunen uns, als hätten sie noch nie Vazaha gesehen. Ein Wald ist weit und breit nicht in Sicht. Als wir zu einer weiteren Kurve kommen, tun sich zur Seite des Flusses ein paar Reisfelder auf. Der Hügel links von uns ist von Eukalyptus, Ravenalas und Ananasfeldern bewachsen. Frank will noch um die nächste Kurve laufen, um sich zu versichern, dass auch dort kein Primärwald mehr liegt.
José geht die Sache derweil etwas praktischer an. Er geht zu der Kat kauenden Gruppe von Männern und fragt herum, wer uns zu einem Wald führen kann. Derweil entdeckt Katie an einer herunterhängenden Liane ein winziges Pantherchamäleon-Jungtier. Ein „Guide“ in Gestalt eines älteren Bob Marley taucht auf. Er trägt lange Dreadlocks, die er unter einer riesigen, ausgebeulten Strickmütze zusammen hält. In der Hand trägt er einen uralten, zerfledderten, französischen Reiseführer. Frank erzählt von einem Hügel mit einem Bach, dessen Quelle weiter oben läge. Unser Bob-Marley-Verschnitt nickt bedächtig. Er sagt, er wisse genau, wo das sei. Also folgen wir ihm.
Ich laufe auf einem sehr schmalen, gerade fußbreiten roten Pfad, der zwischen zwei Holzhütten vorbei und dann steil nach oben führt. Tatsächlich passieren wir einen kleinen Bach, der allerdings in ein Wasserauffangbecken mündet. Ich klettere nach den anderen darüber. Es ist heiß, ich schwitze schon von den paar Metern bergauf. Und der Hügel ist vielleicht doch gar nicht so klein bei der Tropenhitze. Steiler und steiler geht es bergauf, über Wurzeln und Laterittritte. Ein richtiger Weg ist das eigentlich nicht mehr, wir laufen irgendwo zwischen Laub und Gebüsch querfeldein. Nach ein paar Hundert Metern erreichen wir über weiteren, kleinen Hütten eine Graslandschaft, von der aus man eine beeindruckende Aussicht hat. Die Hütten, berichtet uns Bob Marley, seien für die Regenzeit. Dann ist das Tal von Benavony überschwemmt, der Fluss fließt quasi direkt durchs Dorf. Nach hier oben ziehen sich die Dorfbewohner zurück, damit ihr Hab und Gut nicht wegschwimmt.
Ich steige noch etwas höher – der Schweiß tropft mir inzwischen von der Nase und den Ellbogen – und entdecke ein modern eingezäuntes Wasserauffangbecken und Wassertanks auf der Spitze des Hügels. Hier ist sicher kein Wald mehr. So schön und üppig grün die Aussicht ist, so traurig ist sie auch. Alle umliegenden Hügel sind von Eukalyptus und Ravenalas bedeckt. Im Tal leuchten Reisfelder zwischen Kakaoplantagen. Ein echter Regenwald existiert hier nirgends mehr. Was wohl mit diesem letzten Stück Wald ausgestorben ist? Wie viele Arten hätte man hier noch finden können, wäre man zehn Jahre früher gekommen? Frank lässt sich nur schwer entmutigen. Obwohl er sich ziemlich sicher ist, am richtigen Ort zu sein, will er den letzten Waldrest nicht aufgeben. Mit Boby Marley, Lars und Philipp steigt er zu einem weiteren Hügel. Katie und ich bleiben nahe der Wassertanks, verschnaufen und genießen die Aussicht. Im Tal schlängelt sich der silbern glänzende Sambirano durch viele Kurven, nur an wenigen Stellen kann man ihn überhaupt sehen. Die riesigen Bäume der Plantagen verdecken ihn größtenteils.
Irgendwann kommt Frank zurück. Er hat inzwischen herausgefunden, dass Bob Marley weiß, dass hier mal Regenwald war. Er wollte uns zeigen, wo genau der Primärwald war. Aber es gibt keinen mehr, das steht nun fest. Vor rund zwei Jahren hat es, zusätzlich zu der Bebauung mit Hütten und den vielen Plantagen – gebrannt. Der Größe der mich umgebenden Ravenalas schätze ich, dass es schon viel früher gebrannt haben muss. Die „Bäume der Reisenden“ können Feuer überleben und sind deshalb stille Zeugen vorausgegangener Brandrodung. Frank ist enttäuscht und sucht trotzdem noch am Rande des Bachbettes, ob es noch Spuren von Regenwald gibt. Aber da ist wirklich nichts mehr. Außer sehr schöner Aussicht.
Schließlich beenden wir unsere erfolglose Mission. Langsam folgen wir dem schmalen Pfad nach unten, bis wir wieder auf dem Weg mitten in Benavony stehen. Eine Henne mit ihren Küken flitzt eilig ins Gebüsch. Ein Junge treibt zwei schwarze Zebus nach Hause. Die Sonne steht tief am Horizont und wirft lange Schatten. Ein paar kleine Jungs spielen Fußball mit einem alten, braunen Lederklumpen. Der älteste der Jungen hat nur einen alten, verstaubten und kaputten Fußballschuh und einen Socken an, der andere Fuß ist nackt. Die anderen haben aber nicht mal das, sondern spielen gleich barfuß. Auf dem Rückweg riecht es immer wieder intensiv nach Nelken. Ob hier auch Nelken angebaut werden? Leider weiß ich nicht mal, wie die „in grün“ aussehen. Was hier definitiv angebaut wird, ist Kat. Mehrere Büsche stehen direkt vor einer Hütte. Da ist der Weg nicht so weit vom Abendessen zum Kat.
Hinter der Kurve steht ein riesiges, dunkelbraunes Zebu am Wegesrand. Es muht aufgeregt und schnauft wütend. Anscheinend hat es sich mit seiner Leine in einem Baumstumpf verheddert. Mir ist das gerade gar nicht so unrecht, denn das Tierchen ist wirklich riesig. Im Vorbeigehen versuche ich, noch ein paar Fotos der hübschen Pantherchamäleons zu erhaschen. Als wir die Autos erreichen, dämmert es bereits.
Der Weg zurück wird noch abenteuerlicher als die Herfahrt. Wir rutschen in riesige Schlammsuhlen, schlittern Hügel herunter und rumpeln über Gestein und Löcher zwischen Bananenstauden und Kakaobäumen. An einem langgezogenen Hügel hält Léon an. Vor uns liegen mehrere tiefe, vom Wasser ausgewaschene Löcher, und keiner der sie durchziehenden Pfade ist breit genug für einen Toyota Landcruiser. Andry steigt aus und läuft vor. Aus dem einzigen schräg befahrbaren Stück Weg ragt eine Metallplanke. Andry versucht, sie mit den Händen herauszuziehen, doch sie steckt viel zu fest. Er kommt zurückgelaufen und diskutiert mit Léon. Tja, dann müssen wir wohl das Loch rechts neben, anders geht es nicht. Léon setzt den Wagen zurück und fährt los. Kaawumms… krachen wir rechts vorne in eines der tiefen Löcher. Dem Geräusch nach ist nicht mehr alles am Auto intakt. Die Reifen drehen durch, irgendwas schrappt und kracht am Auto entlang. Dann rumpelt es laut und Léon bekommt den Landcruiser wieder aus dem Loch heraus- und über die anderen Löcher drüberbugsiert. Wir halten an und warten auf das zweite Auto. Es stellt sich heraus, dass das krachende Geräusch zum Glück keine Achse, sondern nur das Trittbrecht rechts war. Es ist ab. Und der rechte Vorderreifen, den wir nun schon ein paar Mal wieder aufgepumpt haben, möchte jetzt wirklich gewechselt werden.
Nach viel Gerumpel erreichen wir Ambanja. Als wir die ersten Lichter der Stadt sehen, ist es zappenduster. Die Müllhalde scheint leider sogar Bewohner zu haben, denn an einigen glimmenden Feuern mitten im Müll sitzen Menschen und essen. Über den buckeligen Weg fahren wir an der Tankstelle vorbei und sammeln Christian ein, der sich von einem der halsbrecherisch fahrenden Motorradfahrer von Benavony zurück nach Ambanja hatte mitnehmen lassen. Im Dunkeln durchqueren wir Ambanja. Auch die Leute der Stadt kehren gerade nach Hause zurück. Zebus und Tuk-Tuks sind auf dem Heimweg, Markstände schließen gerade. Eine Fahrschule schleicht vor uns durch das Getümmel.
Zurück in Ankify bin ich wirklich müde. Wir essen alle gemeinsam im Restaurant des Hotels, schon am Mittag hatten wir vorbestellt. Es gibt Reis, ein halbes Huhn und Tomatensauce. Und zum Glück ein kaltes THB! Frank kann immer noch nicht glauben, dass der Regenwald von Benavony verschwunden ist. Abgeholzt, abgebrannt. Jedenfalls weg. Ich dusche nach dem Essen noch, dann falle ich direkt ins Bett.