Für sechs Uhr ist der Wecker gestellt. Ich bin um 5:58 Uhr wach, um selbigen auszuschalten. Eigentlich wäre heute der zweite Tag in Quarantäne. Da aber gestern ja bereits das PCR-Ergebnis kam, dürfen wir heute machen, was wir wollen. Und wir wollen raus! Ich laufe – diesmal im Hellen – in Flip-Flops über den Holzboden im Gang. Im ersten Stock vor der Treppe gibt es so etwas wie einen Loungebereich mit Sesseln und Sofas, den habe ich bei der Ankunft im Dunkeln nicht mal gesehen. Frühstück gibt es in einem riesigen Saal im Erdgeschoss, der mit einem Dutzend runder, weiß eingedeckter Tische gefüllt ist. Hinten gibt es eine kleine Bühne mit Lautsprechern und Hochzeitsdeko. Wir sind neun Leute und passen bestens an einen der runden Tische auf die rotsamtig bezogenen Stühle.
Unter dem Restaurant befindet sich ein hübscher Pool, daneben einige Sitzgelegenheiten unter Bäumen. Noch ein Stück weiter unten befindet sich offenbar der Parkplatz des Hotels. Dort steht ein weißer, großer Bus. Dimby, Christian, Fitah und der Busfahrer, Patrice, warten bereits. Durch einen engen Gang zwischen Außenwand des Hotelgeländes und einem weißen Gebäude laufe ich mit den anderen runter zum Parkplatz. Wir werden herzlich begrüßt. Um den Pandemie-Richtlinien Genüge zu tun, hat Patrice einen Desinfektionsmittel-Spender mit schwarzem Klebeband an eine Stange neben der Bustür befestigt. Das war’s dann aber auch, was ich heute noch von der Pandemie zu Gesicht bekomme. Patrice fährt den Bus aus dem Tor heraus… und über einen Hubbel fast gegen die gegenüberliegende Backsteinwand. Huiui, das ist eng hier. Zwei Versuche braucht es, bis der große Bus mit nur wenigen Zentimetern Abstand an den Seiten und vorne auf den engen, rumpeligen Lateritweg ausgeparkt hat. In Deutschland würde hier einfach niemand mit einem Bus überhaupt parken oder fahren.
Den Lateritrumpelpfad geht es nach oben, dann biegen wir links auf einen nur wenig breiteren Lateritweg ab. Der ist genauso rumpelig, aber zusätzlich noch links und rechts mit provisorischen Holzständen versehen, an denen man allerlei Krimskrams, Gemüse und diverse Schuhe kaufen kann. Dann lenkt Patrice den Bus auf die asphaltierte Straße. Es geht wieder Richtung Flughafen. Und prompt stehen wir im Stau. Aber gar nicht mal lange, denn plötzlich biegen wir auf eine riesige, neue Straße ab. Der Asphalt hat noch kein einziges Loch – oder zumindest kein großes -, es gibt blendend weiße Fahrbahnmarkierungen, die Straßenränder sind betoniert, zwischen den jeweils zwei Fahrbahnen pro Richtung verläuft ein heller Betontrenner mit Lampen darauf. Man staunt. Sogar Bushaltestellen mit eigenen Ausfahrten sind in die riesige Straße integriert. Und Beton-Wartehäuschen. Na gut, der durch 10 cm hohe Bodenschwellen von der Fahrbahn abgetrennte „Fußgänger“weg wird auch von Autos und Mopeds genutzt. Aber trotzdem. Erstaunlich zügig fährt der Bus in Richtung der RN2 und in einem großen Bogen um Antananarivo herum. Der Fahrstil um uns herum ist abenteuerlich. Einige nagelneue Kreisel werden von mehreren Polizisten mit Trillerpfeifen…ja, gesichert kann man es nicht nennen, geleitet auch nicht. Sie stehen da sehr dekorativ und jeder fährt, wie er will. Vielleicht einen Hauch sortierter als sonst. Die Mopedfahrer scheinen alle etwas lebensmüde – hier schießt einer quer vor der Windschutzscheibe des Busses vorbei, dort quetscht sich einer mit wenigen Millimetern Abstand am Kofferraum eines Taxibrousses vorbei.
Wir sind kaum an der RN2 angelangt, da holen uns die sonst üblichen Straßenverhältnisse auch schon wieder ein. Patrice umkurvt einen dunkelblauen R4, den sein Besitzer einfach mitten auf der Fahrbahn geparkt hat, und überholt etwas wagemutig einen sehr langsamen Corsa. Es ist viel los rund um Antananarivo. Autos, Radfahrer und Fußgänger sind auf der RN2 unterwegs, die erstmal durch diverse Dörfer führt. Wir schleichen einem orangefarbenen Lada Niva hinterher, der wiederum einem sehr historischen Mercedes-Lkw hinterherschleicht. Erst nach einer ganzen Weile ergibt sich eine Möglichkeit für Patrice, die beiden zu überholen. Der Himmel ist bedeckt, es nieselt.
Wir halten kurz an einer Tanke, um uns mit Getränken einzudecken. Der Nieselregen hält an, daher wird die Raucherpause eher kurz. Frank läuft mit Maske in den Kiosk, das interessiert aber genau gar keinen. Maske hält man auf Madagaskar eher nicht für notwendig. Hinter Ambohimalaza passieren wir einen umgekippten LKW-Anhänger, der einfach mitten auf der Straße liegen geblieben ist. Wie es dazu kommen konnte, ist mir schnell klar – die altersschwachen LKWs, die auf der RN2 unterwegs sind, überholen gerne auch mal rechts in der Kurve. Überhaupt sind die Überholmanöver hier sowohl bei Patrice als auch bei anderen Fahrern wirklich abenteuerlich. An einem Bahnübergang kommt uns auf den altersschwachen Bahnschienen in Richtung Tamatave eine uralte rote Dampflok entgegen. Allerdings ohne Güterwaggons, die wurden offenbar vergessen. Die Straße ist insgesamt ganz ok, aber das ein oder andere riesige Schlagloch ist natürlich vorhanden. Gut zwei Stunden brauchen die 70 km bis Saha Maintsoanala. Hinter einer Kurve biegt der Bus links auf einen geschotterten Parkplatz. Neben einer Holzhütte warten unzählige Männer und Frauen. Sie scheinen eher überrascht, dass da Menschen kommen, die den Park anschauen wollen. Unangekündigt.
Ich steige aus dem Bus und ziehe erstmal meine Regenjacke über. Es nieselt noch immer und mit 23 Grad ist es eher frisch. Dimby organisiert einen Guide. Sie heißt Eliane und trägt eine leuchtend gelbe Warnweste. Damit wir sie nicht verlieren. Ansonsten bemerkt man den Rest des Tages von Eliane eher wenig. Sie wandert mit ihren Flip-Flops mit rosa Riemchen über den matschigen Boden und eigentlich läuft sie nur mit. Tiere finden, das übernehmen die anderen. Gerade laufe ich die paar Stufen zum Parkeingang nach oben, da ruft Christian uns schon zurück. Er hat direkt vorne in einem dünnen Bäumchen ein junges, dunkel gefärbtes Calumma crypticum gefunden. Der Baum ist nass, es nieselt nach wie vor, und ich mag noch nicht die Kamera rausholen. Trotz des Wetters ist es toll, wieder im Regenwald zu sein.
Entspannt folge ich dem matschigen Weg durch den Wald, der langsam einige Stufen in einer Linkskurve nach oben, dann eine Treppe hinauf und weiter geradeaus führt. Am Wegrand halten wir in den Farnen und dem Moos Ausschau nach kleinen Erdchamäleons. In der Ebene weiter oben wächst unglaublich viel wilder Ingwer, der stark riecht.
Auf einem Farn sitzt ein weiteres kleines, schwarzes Jungtier von Calumma crypticum. Da der Regen gerade ausgesetzt hat, packe ich doch endlich die Kamera aus. Sogar ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen schaffen es durch das Blätterdach des Waldes. Zwischendurch pflücke ich einen winzigen Blutegel von der Stirn. Lars entdeckt eine „wandelnde Tannennadel“, die offenbar aber ein Lebewesen ist. Ich schlendere weiter entlang des Weges. An einer Liane sitzt ein sehr fotogenes männliches Calumma crypticum, das als erster des heutigen Tages auch etwas Farbe zeigt. Trotz des gerade erneut einsetzenden Nieselregens. Jemand fragt Eliane, ob es hier im Wald Lemuren gibt. Neinein. Nicht? Das wäre mir neu. Eulemur fulvus ist doch sogar auf den Plakaten am Eingang abgebildet…Eliane stapft tapfer weiter mit Flip-Flops durch den Wald, auch wenn der Matsch inzwischen recht tief geworden ist.
Wir pausieren kurz an einer Hütte direkt an einem Wasserfall, als es etwas stärker zu nieseln beginnt. Der Waldweg gabelt sich in einen nach rechts verlaufenden, leicht ansteigenden Pfad und einen Weg, der links über eine kleine Brücke ohne Geländer führt. Lars verschwindet direkt über die Brücke und ruft, er habe ein dickes Calumma crypticum gefunden, bestimmt ein Weibchen. Frank, der ihm folgt, meint dazu trocken „Das ist ein Calumma globifer“ und schickt sich an, ein paar mehr Fotos zu machen. Allerdings öffnet der Himmel nun seine Schleusen ganz und es regnet. Kurzerhand wandern Markus, Frank, Lars, Marko und ich – samt dem Calumma globifer-Weibchen – die paar Meter rüber zur Holzhütte am Wasserfall. Dort lässt es sich zwar immer noch feucht, aber wenigstens nicht klatschnass fotografieren. Anschließend setzen wir das Tier wieder an seinen Ast zurück. Dann folgen wir den anderen, die den matschigen Waldweg bereits längst weitergelaufen sind.
Es geht einen Hügel hinauf, an einem Meer aus Farnen vorbei und schließlich eine Treppe nach unten, bis ich vor einem kleinen See stehe. In der Mitte des Sees befindet sich eine Plattform mit einer Hütte und diverse Stege führen hin. Unter einem kleinen Dach warten die anderen schon. Eliane ist eingefallen, dass es hier ja – aaaah! – Lemuren gibt. Man kann sie am späten Vormittag hier oft finden. Eine Gruppe ist offenbar gewöhnt, bestimmte Blätter von Menschenhand gereicht zu bekommen. Wir haben allerdings zu viel Zeit mit Chamäleons vertrödelt, Lemuren gibt es daher keine zu sehen. Dafür haben die anderen noch ein weiteres, sehr hübsches Calumma crypticum-Männchen entdeckt. Leider regnet es sich ein. Da nicht alle eine Jacke dabei haben, treten wir langsam den Rückweg an. Im Regen pflücke ich weitere winzige Blutegel von meinen Händen. Die Ordnung in meinem Rucksack gefällt mir noch nicht – irgendwie fliegt alles durcheinander. Das obere Fach muss dringend festgenäht werden und die Dutzende von Akkus benötigen neue Fächer.
Das Trinkgeld fällt – nunja, der Guide-Leistung entsprechend – eher schmal aus. Einer nach dem anderen steigen wir nass in den Bus, der prompt von innen beschlägt. Patrice wischt geduldig die Windschutzscheibe sauber. Er fährt im Regen nach Marozevo, einige Kilometer die kurvige RN2 in Richtung Toamasina. Am Straßenrand halten wir an einem Restaurant zum späten Mittagessen. Ich hab echt Hunger. Da passt es gut, dass die Min Sao-Portionen riesig sind. Was die Wurststücke und die Fleischreste und sogar Crevetten im Min Sao zu suchen haben, weiß ich zwar nicht, aber es schmeckt lecker.
Draußen stehen Frauen, die runde Blechteller auf den Köpfen tragen. Darauf befinden sich winzige Bananen, diverses Gemüse und komische rote Früchte. Dimby kauft von den roten Früchten und nimmt einige Tomaten dazu. Die roten, harten Früchte heißen übrigens Makoba und sollen nach Apfel schmecken. Ich probiere – naja, sehr, sehr unreifer Apfel vielleicht. Die Bananen dagegen sind hervorragend, sie passen komplett am Stück in den Mund und sind wahnsinnig süß.
Die Rückfahrt nach Antananarivo wird lange. Wir schleichen hinter LKWs her. Einer hat auf einem Hänger noch einen Bagger geladen. Irgendwo im Regen überholt uns ein Mopedfahrer mit einem sehr riskanten Manöver. Er drängelt sich erst zwischen Patrices Bus und den LKW vor uns – dessen Rücklicht allerdings keine zwei Meter von der Windschutzscheibe unseres Busses entfernt ist, dann überholt der Mopedfahrer den LKW rechts, drückt sich zwischen einem Traktor und einem Taxibrousse links vorbei und schreddert mit herabhängenden Füßen über eine gepflasterte Einfahrt, um ein sehr langsames Auto, das die Straße blockiert, zu überholen Eine halbe Stunde später sehen wir den gleichen Mopedfahrer im Straßengraben liegen, offenbar hat ein Auto ihn erwischt. Eine Menge Schaulustiger hat sich bereits eingefunden.
Als wir Tana erreichen, dämmert es bereits. Ich hatte ganz vergessen, dass es auf Madagaskar um 18 Uhr dunkel wird. Stockdunkel. Patrice fährt beinahe einen grauhaarigen Radfahrer an, der völlig merkbefreit zwischen LKWs, Taxibrousses und Taxi Bes in den verstopften Straßen Tanas einher kurvt.
Es geht zum Abendessen heute ins Raphia. Dort durften wir unsere Quarantäne nicht verbringen, weil das Hotel nicht auf der staatlichen Liste steht. Als wir die großen Torflügel passieren und in den Hof fahren, kommt echtes Urlaubsgefühl auf. Die 2020 begonnenen Renovierungsarbeiten sind inzwischen abgeschlossen. Das Raphia verfügt nun über ein schickeres Restaurant mit einem abgetrennten Barbereich. Als THB und Samboza auf dem Tisch stehen, bin ich müde, aber glücklich. Jetzt beginnt der Urlaub.