Es regnet noch immer. In der Ferne grollt noch immer – oder schon wieder – ein Gewitter, als ich aufwache. Wie pünktliche Deutsche das so machen, stehen alle pünktlich zwischen halb und Viertel vor Sieben an der Rezeption. Da sollte die Wäsche fertig sein. Alle auf dieser Reise waren schon mehrfach auf Madagaskar. Alle wissen, dass die Uhren hier anders gehen. Mora, mora… und doch stehen wir alle heute Morgen wieder da und nehmen zur Kenntnis, dass die Wäsche natürlich nicht zur angegebenen Zeit fertig ist. Vielleicht ist das der Unterschied zu früher: Es wundert sich niemand darüber, es ärgert sich niemand. Wird schon noch kommen.
Statt Wäsche gibt es Frühstück. Auch dafür sind wir zu früh. Ich warte. Und warte. Schließlich gibt es zwei frische Schokocroissants und Tee. Danach kaufe ich noch eine Rosinenschnecke und eine Hühnchentasche, für später, als Mittagessen auf der langen Fahrt. Und dann passiert erstmal wieder nichts. Markus läuft mit José zu einem Telma-Shop in der Nähe. Irgendwie gab es ein Problem mit Markus‘ Unterschrift, da sie der in seinem Reisepass nicht genug ähnelt. Der nette Telma-Mitarbeiter übernimmt die Verifizierung gleich selbst. Im Unterschriften fälschen ist er anscheinend besser als der, dem die Unterschrift eigentlich gehört. Im Hof des Chez Mimi beladen mehreer Männer Brunos weißen Toyota offenbar für eine Art Catering. Erst werden Schüssel voller Essen eingeladen, dann diverse Töpfe. Als letztes versuchen die Herren, einen Holztisch obendrauf zu stellen. Und ein zweiter muss auch noch dazu, was zu sehr abenteuerlichen Stapelversuchen führt.
Um zehn kommt plötzlich Bewegung in die Szenerie. Dimby fährt mit seinem Landcruiser auf den Hof des Hotels. Er war bereits auf dem Markt einkaufen, zusammen mit Andry und Christian. Geschäftiges Treiben bricht aus. Die Landcruiser werden beladen. Emsig wie die Ameisen flitzen die Jungs von Auto zu Auto. Gepäck wird in Planen auf Autodächern eingeschlagen, Reis umgeladen, Gaskocher von A nach B geschoben, ein kleines Notstromaggregat taucht auf und verschwindet wieder. Unser local guide für Daraina ist auch schon da: Ein schlanker Typ in knöchelhohen Gummistiefeln, der sich ein Tuch zu einem Turban um den Kopf geschlungen hat. Er heißt Amidou. Keine halbe Stunde später steigen alle ein. Es geht los!
Tanala, Markus und ich fahren mit Mika. Amidou wurde von Mika im Kofferraum auf einem extra Sitz platziert. Mika fährt zügig. Er kann aber auch bei seinem Tempo noch problemlos nach Chamäleons Ausschau halten. Wir sind gerade ein paar Kilometer aus Sambava raus und in Richtung Vohémar abgebogen, da bremst Mika schwungvoll und hält am Straßenrand an. Neben einer Hütte zeigt er in ein hohes, schmales Bäumchen. Darin sitzt ein Pärchen Pantherchamäleons. Und die sind echt hübsch! Mika angelt die beiden mit Hilfe eines langen Stocks vom Baum. Innerhalb weniger Minuten sind wir von Schaulustigen umzingelt. Kinder, Frauen, Männer – alles schaut neugierig zu, was wir da machen. Dimby findet noch ein zweites Pantherchamäleon-Männchen keine zehn Meter weiter im Gebüsch. Es kann allerdings mit den Farben des größeren und älteren Tieres nicht mithalten. Schließlich setzen wir alle drei zurück auf die Äste, auf denen sie zuvor saßen, und fahren weiter.
Die Landschaft nahe Sambava ist noch sehr grün mit vielen Palmen und hohen Bäumen. Je weiter wir entlang der Küste fahren, desto niedriger und karger wird die Landschaft. In einem Dorf fahren wir an einem riesigen Platz vorbei, auf dem Dutzende Alutöpfe auf ebenso vielen Feuern kochen. Hunderte Menschen sitzen auf dem Boden herum. Mika erklärt, dass es sich um eine Beerdigungsfeier handelt. Die Verwandten des Verstorbenen – und auf Madagaskar hat man sehr, sehr viele Verwandte – kommen ins Dorf und üblicherweise werden sie von der Familie des Verstorbenen mit Essen versorgt. Deshalb die vielen Feuerstellen. Es wird außerdem bei sehr angesehenen Personen ein Zebu geschlachtet, dessen Fleisch dann zum Teil mit nach Hause genommen wird.
Amidou erzählt unterwegs eine Menge Zeug im Kofferraum. Markus und ich wechseln immer mal Blicke – denn nichts von dem, was er so erzählt, ergibt besonders viel Sinn. Amidou weist uns freundlich auf Reisfelder hin – Reisfelder?! Okay, kommen auf Madagaskar durchaus mal vor. Genauso freundlich deutet er auf Tanklaster mit den Worten „Das ist ein Tanklaster, da ist Diesel drin.“ Iiiijaaa. Das ist sehr schön. Ich nicke immer mal.
Um Antsirabe Nord wird die Landschaft bergiger. Immer wieder kann man weit übers Land schauen. Vereinzelt sind noch kleine Reste von Regenwäldern vorhanden, aber viel ist das nicht. Zäune aus dicken Ästen oder Bambusrohren begrenzen Vanille- und Bananenplantagen. Mika deutet mit der Hand während der Fahrt nach links – ein Pantherchamäleon-Männchen sitzt auf dem Zaun. Insgesamt vier weitere entdecke ich an den Zäunen, sie sind darauf ziemlich einfach zu entdecken. Dazwischen sitzen immer wieder mal große Phelsuma grandis an Bäumen am Straßenrand, deren sattes Grün sich hervorragend von der Baumrinde abhebt. Rund 30 km vor Vohémar bremst Mika unvermittelt scharf. Ein Pantherchamäleon-Männchen läuft gerade in gemächlichem Tempo über den Asphalt. Ich springe raus, sammle es ein und setze es am Straßenrand in einem kleinen Baum wieder ab.
Der Landcruiser biegt um eine Kurve in einem Tal, da liegt plötzlich das Meer vor uns. Und Vohémar. Die Stadt ist staubig, etwas schmutzig und kleiner als ich dachte. Tuktuks und Motorräder fahren überall. Amidou lotst uns zu einer düsteren Kneipe in einem Hinterhof. Bevor wir in den Hof fahren, kommt uns ein Pick Up entgegen. Zwei Typen sitzen darin, beide haben Unmengen von Kat, ganze Sträuße, auf dem Schoß. Tanala wirft einen sehr kurzen Blick in die von Amidou empfohlene Gargotte und kommt wieder zurück. Wir fahren noch einige sandige Wege weiter zum Baie d’Iharana. Vor einer weißen Mauer parken die Landcruiser im Schatten großer Bäume. In einer kleinen Spalte der Mauer kleben zwei kleine, weiße Eier – vermutlich die eines Geckos.
Ich steige aus und folge den anderen durch einen kleinen Vorhof in ein Restaurant direkt am Meer. Ein Torbogen weist auf eine große Terrasse, die mit Stühlen und Tischen bestellt ist. Nur ein kleiner Garten mit Wunderbäumen und zwei Mauern trennen das Restaurant vom Strand. Der ein oder andere bestellt Mittagessen, ich nur ein Fresh. An den Wänden des Restaurants flitzen unzählige Taggeckos herum, Phelsuma dorsivittata und Phelsuma laticauda. Allerdings sind sie allesamt sehr scheu. Ich habe kaum die Kamera in der Hand, da verschwindet einer schon hinter einer hölzernen Landkarte an der Wand. Ein anderer quetscht sich in die Ritze zwischen den Schiebescheiben eines Fensters. Ich laufe durch den kleinen Garten neben dem Restaurant und trete dabei versehentlich in ein Ameisennest.
Die Reise geht weiter. Wir biegen ab in Richtung Daraina. Erst auf eine holprige Piste, dann plötzlich gleicht die Straße eher einer nagelneuen Autobahn. Naja, einer Autobahn im Bau. Auf der schon Autos fahren. Die Straße ist asphaltiert, und wo sie nicht asphaltiert ist zumindest bereits geschottert und gewalzt. Gräben sind angelegt und mit Beton befestigt worden. An einigen Stellen fehlen zwanzig oder fünfzig Meter Asphalt, da war wohl gerade Mittagspause. Aber auch auf dem festen Schotter fährt es sich erstaunlich gut. Und schnell. Nur eine riesige Staubwolke hinterlässt man.
Die Landschaft ist eher flach mit kleinen Hügeln und recht grün. Viele Zebus, mehrheitlich Kühe und Kälber, weiden auf den grünen Flächen. Zwei riesige Steinbrüche liegen am Straßenrand. Je näher wir Daraina kommen, desto weniger Straße ist asphaltiert und desto mehr holpern wir über eine Schotterpiste. Mikas Fahrstil kostet fast ein Huhn das Leben – es wäre übrigens nicht sein erstes. Es gab da vor ein paar Jahren einen Riss in der Windschutzscheibe. Durch ein Huhn. Mika behauptet übrigens immer noch, es sei ihm ins Auto geflogen. Dem Huhn folgen eine fast überfahrene Ente und ein fast angefahrener Hund, die aber alle gerade noch schnell genug ausweichen. Amidou antwortet auf Mikas Fragen, wie weit es noch ist, mit sehr interessanten Antworten. Mal sind es noch 30 km, dann 15 km, dann doch 12 km und plötzlich 26. Naja, vielleicht weiß er es auch einfach nicht. Vielleicht hätte man lieber fragen sollen, wie lange wir noch brauchen?
Die Schotterpiste ist zwar im Ausbau, trotzdem wird die Straße auch von Zebus und Charettes genutzt. Ansonsten begegnen uns nur LKWs. Ein paar Männer begegnen uns am Straßenrand. Sie tragen Goldwaschpfannen auf dem Rücken. Prompt passieren wir die Goldgräberstadt Daraina, die eher ein Dorf als eine Stadt ist. Kurz dahinter wartet eine große Baustelle auf uns. Mika reiht sich geduldig in die Schlange wartender Autos ein. Wir haben beste Aussicht auf die Baustelle. Gerade wird rechts auf der Fahrbahn neuer Asphalt verteilt. Nur die linke Fahrbahn ist frei. Es fährt aber aktuell genau gar niemand. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen von der anderen Seite der Baustelle ein paar Autos. Endlich winkt ein Mann in Warnweste, dass unsere Seite fahren darf. Nur ein knallgelbes Tuktuk und ein kleiner LKW dürfen fahren, dann hebt der Mann bereits wieder die Hand und schüttelt den Kopf. Es ist schon wieder die andere Seite dran. Oh Mann. Ich entdecke links ein riesiges Schild, auf dem Werbung für das Schutzgebiet Loky Manambato gemacht wird. Da wollen wir hin! Es kann also nicht mehr weit sein. Das Schild ist allerdings so ausgeblichen, dass ich außer dem Ort und dem Umriss eines gemalten Goldkronensifakas nicht wirklich etwas erkennen kann. Mehrere LKWs kommen uns entgegen. Der letzte, ein Tanklaster, hat das mit der Baustelle allerdings nicht ganz so drauf. Kurz vor dem Ende der Baustelle zieht der Fahrer plötzlich auf die eigentlich gesperrte – frisch geteerte – Fahrbahn. Er hinterlässt eine tiefe Fahrspur im frischen, noch flüssigen Asphalt. Die Bauarbeiter starren wie paralysiert dem LKW hinterher. Tja. Da können sie wohl nochmal von vorne anfangen.
Endlich dürfen wir fahren. Mika gibt Gas. Inzwischen geht die Sonne unter. Mitten in der Baustelle biegt Mika nach rechts ab, einfach von der asphaltierten Straße herunter in den Sand zwischen mehreren Hütten. Wir warten offenbar auf die anderen. Wozu, ist mir noch nicht ganz klar. Als alle Landcruiser im Sand stehen, dämmert es mir: Hier beginnt der Weg nach Loky Manambato. Ja… also… wo denn? Der sandige Pfad führt direkt ins Gebüsch. Amidou hat zwischen den Hütten einen zweiten local guide aufgetrieben, der nun ebenfalls in unserem Kofferraum sitzt. Er heißt Salidou. Amidou… Salidou… wenn jetzt der nächste Schubidu hieße, würde es mich nicht verwundern. Die beiden erklären mäßig glaubwürdig, die Straße sei gut, man könne sie problemlos fahren. Mika zuckt mit den Schultern, steigt auf den Fahrersitz und fährt auf das Gebüsch zu. Quer durch hüfthohes Gras, dabei plättet der Landcruiser das vor ihm liegende Gebüsch einfach. Äste kratzen über den Lack. Inzwischen ist es stockdunkel. Plötzlich hält Mika an. Sind die anderen überhaupt noch hinter uns? Direkt vor dem Landcruiser geht es steil nach unten. Mika geht zu Fuß vor, um sich anzuschauen, wo er fahren kann. Mit einer Taschenlampe verschwindet er, Amidou und Salidou im Gefolge. Wenig später taucht er wieder auf. Und fährt los.
Wir durchqueren das Sandbett eines flachen Flusses. Kein Witz. Mitten im Dunklen fließt da ein Fluss. Und wir fahren einfach mitten durch. Dahinter geht es einen enorm steilen Hügel nach oben. Es rumpelt und kracht. Ein zweites Gewässer wird durchfahren. Wir halten an, weil ein Ast sich in der Hinterachse verkeilt hat. Die Nacht ist finster, nicht mal der Mond spendet Licht. Nur noch die Scheinwerfer des Landcruiser beleuchten den Weg, der nicht da ist. Aus dem Kofferraum kommt auf Madagassisch ein recht monotones „Da ist der Weg… schaut, man sieht ihn doch gut!“ Nach einer Weile fragt Mika nur noch, ob er geradeaus, rechts oder links fahren soll. Und fährt da einfach. Ansonsten murmelt er nur noch ein ständiges „Tsy mihisy lalana“ vor sich hin – da ist gar keine Straße. Keiner weiß, wo wir hier mitten im Stockdunkeln überhaupt sind. Plötzlich hält Mika an und deutet mit der Hand ins Gebüsch, was eigentlich schon zum Fenster herein hängt: Da ist ein Furcifer oustaleti Jungtier!
Schließlich erreichen wir eine Ebene mit kürzerem Gras, dafür aber unendlich vielen riesigen Steinen und Felsen, die bunt verstreut herum liegen. Ein halbes Schild taucht im Licht der Scheinwerfer auf: Vorsicht Zebus. Vielleicht war hier mal ein Weg? Ein paar hundert Meter weiter das gleiche Schild, nur schon zur Hälfte abgebrochen. Die Landcruiser bahnen sich unermüdlich ihren Weg. Plötzlich taucht ein großes Schild im Nirgendwo auf: Camp Tattersalli 1 km. Statt der Richtung, die das Schild zeigt, zu folgen, biegen wir nach recht ab. Wir erreichen auf einmal wieder Bäume, die höher werden. Dann stehen wir plötzlich auf einer riesigen Lichtung. Wir sind da!
Im Stockfinsteren bauen die Jungs unsere Zelte auf. Im Schein meiner Kopflampe erkenne ich eine offene Hütte, oder vielmehr ein Dach, unter dem einige Tische und Bänke stehen. Tanala verlost eines der großen Zelte an einen der „Einzelschläfer“. Martin gewinnt die Luxusvilla. Mit Keller und Pool, versteht sich. Christian und Andry sind unterdessen bereits zu einer Hütte weiter hinten verschwunden. Sie kümmern sich ums Abendessen, das aus Nudeln mit Hackfleischsauce bestehen wird.
Eigentlich sehe ich noch nicht so viel von Camp Tattersali. Aber das, was ich bisher sehe, gefällt mir gut. Ein angenehmer Wind geht, es ist warm, aber nicht unendlich heiß, und es gibt ein sehr hübsches, sauberes Klohäuschen. Mit zwei riesigen, wirklich riesigen, Geckos auf der Rückseite. Die zwei Blaesodactylus boivini sind locker so lang und dick wie mein Unterarm. Ein einziges Problem gibt es im Camp: Einen akuten Wassermangel. Das Problem lässt sich aber lösen. In einem niedrigen Busch vor dem Klohäuschen entdecke ich ein junges, schlafendes Furcifer oustaleti. Auf der anderen Seite der Camp-Lichtung stehen offenbar einige verfallene Hütten. Lars und Markus haben dort schon einen Phelsuma guttata anschauen wollen – und sind prompt in ein Wespennest gelaufen.
Das große neue Zelt ist übrigens ein Träumchen – wir haben für Pärchen gleich mehrere davon angeschafft. Man kann darin problemlos stehen. Und darin befindet sich die wunderbare, riesige Luxus-Luftmatratze, die ich vor drei Jahren angeschafft habe. Durch die Lüftungsflächen am Zelt weht der Wind wunderbar durchs Zelt, dazu diese fantastische Matratze. Das wird eine grandiose Nacht.