Als ich aufwache, entdecke ich als allererstes etliche Stechmücken im Moskitonetz. Nicht außendrauf. Innendrin. Mmh. Eigentlich waren da doch gar keine Löcher? Die Matratze gleicht einem kleinen Blutbad – in der Nacht wurden schon einige der Plagegeister erschlagen. Zum sperrangelweit offen stehenden Fenster scheint ein wunderschöner Sonnenaufgang herein. Ich öffne die Tür. Was zur Folge hat, dass die Stechmücken durch Schmeißfliegen ersetzt werden. Ich bin mir nicht sicher, ob das besser ist.
Nach einem eher kargen Frühstück treffen wir Jocelyn. Er stellt uns unseren zweiten local guide für heute vor: Jo oder Joaquin. Dimby sammelt die Reisepässe ein, um uns beim auf der anderen Straßenseite liegenden Park Office von Mahamasina anzumelden. Neuerdings – seit Corona – muss man sich ausweisen, wenn man in einen Nationalpark will. Der Rest fährt schon mal vor bis zu Parkplatz, von dem unsere Wanderung heute startet. Tatsächlich ist wohl noch kaum jemand seit der Öffnung der madagassischen Grenzen hier gewesen. Mikas Landcruiser mäht brusthohes Gras nieder. Der Weg ist nur deshalb erkennbar, weil drumherum Trockenwald steht. Was sich unter dem hohen Gras befindet, hören wir erst beim Darüberfahren. Pflanzen schlagen gegen die Fensterscheiben, die ein oder andere Bodensenkung nehmen wir krachend mit. Nach einer knappen Viertelstunde erreichen wir einen Parkplatz an einer Steinruine. Dort sind bereits ein anderer local guide und drei Touristinnen, die trotz der schon jetzt recht beeindruckenden Wärme sehr kurze Klamotten tragen. Ich befürchte, die viele weiße Haut wird nach dem Besuch in Ankarana einen dezenten Rotstich haben. Bei uns tragen alle lange Trekkingklamotten und Kopfbedeckungen. An mehreren Bäumen sitzen große Phelsuma grandis.
Dimby kommt nur wenige Minuten nach uns. Jocelyn führt uns aus dem Trockenwald hinaus und einen knallroten Lateritpfad entlang durch kniehohes Gras. Es ist gerade mal acht Uhr morgens und das Thermometer an meinem Rucksack zeigt bereits 29°C im Schatten. Auf einer savannenartigen Anhöhe laufen wir an einem verlassenen weißen Gebäude vorbei. Die Aussicht auf den Trockenwald und die Tsingys ist grandios. Dann geht es Stufen nach unten in den Wald. Wir durchqueren das Bachbett mit den riesigen Steinen, in dem nur noch kleine Pfützen von den letzten Ausläufern der Regenzeit zeugen. Auf einem sandigen, schmalen Weg wandere ich den anderen hinterher.
Jocelyn und Jo laufen zügig, denn wir wollen unbedingt die gestern verpassten Taggeckos sehen. An einer Weggabelung biegen wir in Richtung der Tsingys ab. An einem Baobab gibt es eine kurze Verschnaufpause, dann geht es flotten Schrittes weiter. Ich schwitze schon wieder. Egal, wieviel man vor Madagaskar an Training zu Hause macht, die Hitze kann man daheim echt nicht imitieren. Jo wartet an einigen riesigen Pandanus und winkt uns heran. „Hier gibt es Phelsuma roesleri!“ Also geht es auf die Suche. Der Weg führt auf den bewachsenen Rand der Tsingys – hier muss man darauf achten, wohin man die Füße setzt. Manche Felsen wackeln und die Felsspalten zwischen einigen Felsen sind enorm tief. Und scharfkantig.
José entdeckt als erstes etwas: Doch es ist nur ein junges, sehr kleines Furcifer oustaleti, was gerade über einen dünnen Zweig in Richtung eines Pandanus wackelt. Zwischen blühenden Pachypodien und Pandanus tauchen sie dann aber tatsächlich noch auf: Phelsuma roesleri. Zunächst ein Jungtier, dann noch weitere, adulte und juvenile. Sie sind recht scheu und lassen sich nicht ganz einfach fotografieren. Ein Exemplar sitzt zum Glück sehr günstig auf dem schlanken, stacheligen Stamm eines Flaschenbaums. Zuerst sitzt er im Schatten und ist eher schwarz gefärbt. Als dann aber die Sonne ihn erreicht, leuchtet er plötzlich in tollen Farben.
Nach diesem erfolgreichen Beginn unseres Ausflugs führt Jocelyn uns weiter entlang der Tsingys. An einer Felsspalte sitzt ein schlanker, kleiner Zonosaurus tsingy mit einem hübschen blauen Schwanz. Über die Tsingys folgen wir einem eigentlich unsichtbaren Weg, der nur wegen der durch abgenutzte Schuhe rötlichen Farbe in der Mitte zu erahnen ist. An einer Holzplattform gibt es eine kurze Pause. Oha, das ist ja noch ein bisschen zu laufen bis zum Aussichtspunkt – der liegt nämlich noch recht weit entfernt. Die Aussicht in die Tsingys ist super. Wie ein Meer aus Felsen und Steinen liegt es vor mir. Die ersten Hemden sind schon klatschnass geschwitzt. „Es ist nicht so weit, wir nehmen den Shortcut“, sagt Jo und verlässt die Holzplattform zur anderen Seite. Quer über die Tsingys geht es auf einen Waldweg zurück. Zwischendurch flitzt einer der Guides irgendwo ins Gebüsch und bittet uns zu warten. Er schaut nach einem Wieselmaki, der standorttreu meist im gleichen hohlen Baumstumpf ruht. Wir haben Glück: Der kleine Ankarana-Wieselmaki ist nicht nur dort, sondern auch wach und beobachtet neugierig, wer da gerade seinen Wald besucht.
Anschließend geht es zum Aussichtspunkt der Tsingys. Da ich schon ein paar Mal dort war – und es irgendwie halt doch nur dekorative Steine sind – spare ich mir den Weg in der sengenden Hitze und bleibe im Trockenwald. Ein riesiger, schwarzer Tausendfüßler schnürt langsam von einem Felsen auf den Waldboden. Er ist gut so lang wie mein ganzer Unterarm. Und ein Uroplatus fetsy findet sich noch – nur ohne Schwanz, den hat er leider wohl schon verloren. Wenigstens wächst der nach.
Irgendwann geht es zurück aus dem Trock enwald. Ein Uroplatus henkeli sitzt am Wegrand an einem dünnen Baumstamm – ich entdecke ihn erst, als Jocelyn direkt darauf zeigt. Der Gecko sitzt nur wenige Zentimeter über dem Boden, dort hatte ich schlicht nicht gesucht. Der Lateritpfad im kniehohen Gras ist inzwischen sehr, sehr heiß. Der Boden scheint unter meinen Schuhen zu brennen und von oben brennt die Sonne. Der 15 kg Fotorucksack wird so langsam echt schwer. Ein kleines Pantherchamäleon flitzt über den Boden und in den Schatten eines höheren Gebüschs. Ich erreiche als letztes den Schatten am Rande des Parkplatzes. Tanala schüttet gerade Jutta und Martin Wasser über den Kopf. Marco hat ein von Schweiß komplett dunkel gefärbtes Hemd. Ich fand es heute nicht so schlimm. Es war zwar enorm heiß und geschwitzt habe ich auch mal wieder extrem, aber insgesamt war das Laufen angenehm.
Wir steigen in die Landcruiser. Jocelyns stellt sich einfach hinten auf eines der Autos und hält sich am Dachgepäckträger fest. Wir fahren hinüber zum Camp des Princes. Die richtige Ausfahrt verpassen wir allerdings erstmal, weil schlicht gar keine Kreuzung zu entdecken ist im brusthohen Gras. Es ist hier zwei Jahre niemand mehr gewesen. Und gemäht hat eben niemand. Mika fährt alles an Gras platt, was ihm vor den Kühler kommt. Die Fenster sollte man dabei möglichst schließen, denn es peitscht quasi jede Pflanze am Wegrand gegen den Landcruiser. Innerhalb weniger Minuten riecht es stark nach wilder Minze.
Jo, der bei uns hinten außen am Auto hängt, klopft plötzlich aufs Dach. Ob wir ein adultes Pantherchamäleon anschauen wollen? Wir verschieben es auf später. Ein Schild, das auf eine enge Kurve hinweist, ragt gerade so noch über den überwucherten Weg. Von der Kurve selbst sieht man jedoch gar nichts mehr. Stattdessen hängt ein schmaler Baum komplett über das, was früher vermutlich mal der Weg war. José und Jo räumen das Bäumchen aus dem Weg. Direkt dahinter fährt Mika krachend über einen dicken Ast, der im Gras nicht zu erkennen war. Wir halten kurz an, damit Mika sich davon überzeugen kann, dass am Wagen alles in Ordnung ist und der Ast nicht noch festhängt. Alles mögliche Grünzeug hängt überall an Kanten und in den Ritzen des Landcruisers, aber kein Ast.
Als wir das Camp de Princes erreichen, wartet dort bereits schon ein fröhlicher Mamy mit dem Essen, das er bei Laurent abgeholt hat. Eine kleine Gruppe Kronenmakis hat ebenfalls schon gemerkt, dass wieder Menschen im Wald sind. Die kleinen, grauen Lemuren mit den spitzen Gesichtern warten gespannt auf den Nachtisch. Jocelyn und Jo wischen die überdachten Tische ab, ich setze mich zusammen mit den anderen auf die wackeligen Bänke. Es gibt Nudeln mit Gemüse und einer Art Bolognesesauce aus großen Alutöpfen. Das Dessert sind Bananen – auf diese Gelegenheit haben die Kronenmakis gewartet. Die Weibchen sind dreist, springen blitzschnell auf den Tisch, schnappen sich eine Banane und verschwinden sofort wieder. Ein kleines, schwarzköpfiges Männchen setzt sich schüchtern neben Marko und wartet geduldig, bis der ihm ein Stück seiner Banane abgibt. Das ist vielleicht die geschicktere Strategie.
Schließlich geht es zurück. Als ich die Autotür öffnen will, sitzt eine winzige Mantide auf dem Türgriff. Ich lasse sie vorsichtig auf meinen Zeigefinger laufen und setze sie ihm Gebüsch ab. Der Rückweg ist etwas besser vorausschaubar – jetzt ist das Gras ja bereits plattgewalzt von drei Geländewagen. Die Bodenwelle, die wir erneut krachend übersehen, hat das aber nicht abgefedert.
Wir sind kaum zurück in Mahamasina, da rüsten sich Marko, Frank und Markus zusammen mit Mamy nochmal für eine Fahrt zu Jorg in die Ankarana Lodge. Er hatte mit ihnen vereinbart, dass sie heute gerne nochmal nach den Phelsuma roesleri schauen könnten. Sie fahren also rüber, auch wenn es schon später Nachmittag ist und damit natürlich nicht mehr die beste Zeit zum Suchen von Taggeckos.
Tanala und ich widmen uns derweil einer etwas unangenehmeren Aufgabe. Zusammen mit Fitah und Dimby wollen wir mit Laurent wegen der unverhältnismäßigen Preissteigerungen sprechen. Nicht nur das Essen hat sich im Preis verdoppelt, auch die Bungalows wurden ohne Vorankündigung teurer. Auf Madagaskar nicht ganz ungewöhnlich, aber ärgerlich. Es wird ein sehr interessantes und sehr langes Gespräch. Fitah und Dimby sind Tanalas klare Worte sichtlich unangenehm. Laurent dagegen ist eher mäßig beeindruckt. Eine echte Begründung für seine neuen Preise hat er eigentlich auch nicht. Erst als Tanala erzählt, wie geschockt Jocelyn über die neuen Preise war („What? It’s just local food!“), kommt Laurent ein wenig ins Nachdenken. Er verspricht, bis zum nächsten Jahr eine bessere Lösung zu finden und seine Preisvorstellungen im Voraus abzusprechen.
Jocelyn hat nicht nur geschockt reagiert, sondern sich auch gleich tatkräftig gekümmert. Als es dunkel ist, fahren wir ein Stück die Straße hinunter bis zu einer kleinen Hütte am Straßenrand irgendwo im Nirgendwo. Eine kleine Gargotte wird von einer einzigen Glühbirne erleuchtet. Im engen Inneren der Hütte ist ein langer Tisch aufgebaut, der sogar mit einer langen weißen Tischdecke gedeckt wurde. Wir neun Vazaha passen gerade so hinein. Die Jungs bauen sich auf der Außenseite – drinnen passt auch echt niemand mehr rein – provisorisch eine zweite Tischreihe auf. José hängt ein LED-Panel in die dustere Hütte, damit etwas mehr Licht vorhanden ist. Und dann gibt es ein echtes madagassisches Abendessen – für übrigens 5000 Ariary pro Person. Unmengen Reis und große Schüsseln mit „allem vom Huhn“. Dabei ist es hier üblich, dass man das Huhn einfach mit einem Beil zerhackt und dann im Topf kocht. Samt Knochen. Die geben Geschmack. Man muss also beim Essen ein bisschen aufpassen, die scharfkantigen Knochensplitter wieder auszusortieren. Auch Magen, Herz und andere Innereien sind inklusive. Das Gericht schmeckt prima, und draußen wie drinnen wird gut zugelangt. Das THB ist schön gekühlt, das Abendessen hat sich gelohnt. Auf eine erfolgreiche Reise und gute Freunde!
Um die Gargotte herum ist es stockfinster. Ich setze mich nach dem Essen zu Christian draußen auf die Bank. Als Lars neben Dimby aufsteht, kippt fast die Bank weg. Drei magere, beige, struppige Hunde sind kurz am Rand des Lichtscheins zu sehen. Ich entdecke ein winziges Schild, auf dem mit Hand geschrieben Chez Harisé steht. Vielleicht heißt es auch Marisai, ich kann es nicht ganz entziffern. Langsam geht der Abend zu Ende, mit guter Stimmung unter guten Freunden.