Hui. Mein Schädel brummt ganz schön. Und ich habe furchtbar Durst. Offenbar bin ich spät dran. Als ich in meine Klamotten schlüpfe und aus dem Zelt steige, steht das Frühstück schon längst unter der kleinen Hütte auf der anderen Seite des Campgrounds auf dem Tisch. Ich bin nicht die einzige, die etwas Mühe mit dem Aufstehen hat. Die Jungs kriechen erst nach und nach, mehr oder minder lädiert, aus ihren Zelten. Manche sehe ich am Vormittag gar nicht mehr.
Angelin ist längst da und lacht nur über die lädierte Morgenrunde. Er hat auch schon gefrühstückt und wartet darauf, wer zu einer kleinen Wanderung mitkommen will. Sein Zwillingsbruder Angeluc ist schon lange mit den beiden US-Amerikanern unterwegs, sie müssen wohl superfrüh aufgestanden sein (vermutlich kurz, nachdem wir ins Bett gefallen sind). Andry, Christian und Dimby fahren nochmal nach Diego Suarez zwecks eines Einkaufs. Ich beschließe, am heutigen Tag erstmal gar nichts zu machen. Ich liege auf dem Campground auf einer der Bänke in der Sonne. Der Wächter kürzt mit einer Machete das Gras auf dem Campground. Rasenmäher und Sensen gibt’s hier nicht. Der Wasserhahn mittig auf dem Campground hat etwas Funktionsprobleme. Man kann ihn nicht mehr richtig zudrehen. Beziehungsweise schon, aber man braucht sehr viel Geduld, bis das ausgeschlagene Drehkreuz in einer Position stecken und der Hahn dicht bleibt.
Gegen Mittag bewege ich mich dann doch mal aus der Horizontalen, um ein paar Frösche rund um den Campground abzulichten. Der plumpe Boophis roseipalmatus ist sehr wenig kooperativ – entweder plustert er sich auf, sobald man die Kamera hebt, oder er springt davon. Auch ein passender Beutegreifer, eine Phisalixella variabilis, windet sich um einen dünnen Ast. Sie hat wunderschöne Farben und runde, etwas hervorstehende Augen. Wackelnde Äste direkt über dem Klo lenken mich ab. Sanford-Makis sind aufgetaucht. In einem großen Baum suchen sie nach essbaren Früchten. Der Wächter wischt vor den Klos mit einem Besen aus zusammengebundenen Ästen herum. Was er da genau wegfegt, ist mir nicht ganz klar. Mit Markus fotografiere ich dann doch noch ein paar Chamäleons. Für Calumma ambreense muss man sich nämlich hier nicht besonders weit vom Campground wegbewegen, Ein wunderschönes, junges Männchen mit tollen Türkistönen lässt sich sogar beim Schießen von Insekten ablichten.
Bis zum Abend bin ich wieder fit. Andry tischt Nudeln mit Fischsauce und Pfeffersauce auf – eine sehr interessante Kombination, aber wirklich lecker. Dazu gibt es Brot und aus riesenhaften Avocados hergestellte Guacamole. Zusammen mit Lars mache ich mich nach dem Abendessen im Dunkeln nochmal auf den Weg. Frank will später nachkommen. Zumindest ein paar Meter durch den Regenwald will ich heute noch machen – und im Dunkeln findet man eigentlich immer Tiere. Chamäleons jedenfalls. Und außerdem ist immer ein bisschen Überraschung dabei, was genau man findet oder ob zufällig etwas Besonderes dabei ist, wie vor einigen Jahren der kleine Uroplatus alluaudi direkt am Campground. Das hält die Sache spannend und wird nie langweilig. Aber eigentlich bin ich auch mit „nur viele Chamäleons“ zufrieden.
Wir schlendern mit Kopflampen und Taschenlampe am Rand des Campgrounds entlang. Schon nach wenigen Metern entdecke ich am Wegrand ein adultes Calumma linotum auf Hüfthöhe. Es hat eine wirklich lange Nase, aber die Farben sind jetzt in der Nacht eher schmutzig-braun. Aus der grünen Hecke, die den Campground vom Parkplatz trennt, ragt ein kleiner Kopf heraus – ein Calumma amber-Weibchen. Ein paar Meter weiter sitzt am Weg in Richtung Klo in Fußhöhe ein pummeliges, grünes Calumma amber-Weibchen. Es blinzelt müde, als ich schnell ein Foto schieße. Nur eins, ich will nicht stören.
In Kopfhöhe fällt das Licht meiner Kopflampe direkt vor mir auf etwas kleines, dunkles mit Federn. Ein Nektarjala! Der lange, gebogene Schnabel verrät den kleinen Vogel. Der hat sich ja einen denkbar ungünstigen Standort ausgesucht: Auf einem Ast, der in den Weg zum Klo hinein hängt. Ich wäre fast gegen ihn gelaufen. Ich gehe am Weg zum Klo vorbei – fast direkt gegenüber sitzen zwei weitere, kleine, puschelige Vögel, dicht aneiander gedrängt. Weiter schlendern wir über den breiten Weg. Links im Gebüsch sitzt ein wirklich winziges Calumma linotum, es dürfte der Größe nach kaum zwei Wochen alt sein. Seine Nase ist allerdings der Wahnsinn. Schon jetzt, bei diesem Winzling, leuchtet sie blau! Ein paar Meter weiter sitzt ein Brookesia antankarana. Ich finde faszinierend, dass diese Erdchamäleons ganz anders schlafen als die baumbewohnenden Chamäleons. Baum bewohnende Chamäleons nutzen meist die Enden von dünnen Ästchen, höchstens ein, zwei Blättchen hängen dann noch weiter außen. Erdchamäleons dagegen platzieren sich häufig einfach quer über mehrere Blätter, als wären sie im Laufen von der Dunkelheit überrascht worden.
Lars und ich laufen entlang des Hauptwegs, bis wir an einen relativ schmalen Fußpfad gelangen. Der ist deutlich überwucherter, als ich ihn in Erinnerung habe – vermutlich war hier auch zwei Jahre niemand. Am Boden wachsen diverse Gräser. Direkt am Wegrand der erste tolle Fund des Abends: Ein Jungtier von Calumma ambreense, vielleicht vier Wochen alt. Es ist wirklich winzig und schläft auf einem Grashalm. Langsam, sehr langsam suche ich Baum um Baum, Pflanze und Pflanze, auch die Gräser vor meinen Füßen mit der Kopflampe ab. Ein weiteres Calumma linotum sitzt gemütlich in einer Pflanze, ein anders hängt schlafend kopfüber an der Spitze eines von Insekten durchlöcherten Blattes. Auf der anderen Seite des schmalen Weges aus rutschigem Laterit befindet sich ein Gewirr an hellen Ästen. Ein Ast wirkt an einer Stelle irgendwie ausgebeult – als ich einen Schritt näher herangehe, erkenne ich ein weiteres, dicht an den Ast gedrücktes Calumma linotum.
Ich gehe Schritt für Schritt weiter. Auf einigen Wandelröschchen sitzt eine dunkel gefärbte Stabschrecke. Über ein paar rutschige Wuzeln führt der schmale Pfad einen sanft ansteigenden Hügel hinauf. Das Gras reicht bis zu meinen Knien, dichtes Gebüsch säumt den Wegesrand. Eine kleine Schabe schlüpft an meinen Socken vorbei in meine Trekkinghose. Super, wie krieg ich die denn jetzt da wieder raus? Ein kleines Calumma amber Weibchen hängt an einer Rankpflanze, die dünne Ausläufer an einem dünnen Bäumchen nach oben schickt. Riesige Farne stehen am Wegrand, an einem von hunderten schmalen Blättchen hängt ein Calumma linotum. Die sind hier wirklich mehr als zahlreich vertreten.
Nach ein paar Hundert Metern verändert sich der Wald plötzlich. Das Grün wirkt trockener, dicke, vertrocknete Blätter liegen am Wegesrand. Der Weg wird breiter und offener, plötzlich stehen große Bäume am Wegrand. Das dichte Gebüsch ist verschwunden. Ein paar Meter vom Weg entfernt leuchtet ein kleiner, rötlicher Punkt im Licht meiner Kopflampe. Ich gehe vorsichtig näher heran – man muss ja hier aufpassen, nicht versehentlich auf Calumma linotum zu treten, die ihre Schlafpflanze ungünstig gewählt haben. Der kleine rote Punkt ist ein weiteres Jungtier von Calumma ambreense. Das freut mich, denn sonst findet man eigentlich höchstens mal zufällig ein einzelnes. Auch dieses sitzt, wie das am Anfang des Weges, nur auf einem Grashalm vor einem großen Farn. Keine zwei Meter davon entdecke ich ein ähnlich junges Calumma ambreense, das sogar farblich sehr ähnlich aussieht. Es scheint, als sei hier in der Nähe vor einigen Wochen ein ganzes Gelege geschlüpft? Weit entfernt haben sich die Kleinen aber wohl dann nicht.
Der breitere Weg ohne viel Unterholz macht das Auffinden von Reptilien etwas schwieriger. In einem trockenen Bäumchen, dessen Blätter von weißlichem Mehltau überzogen und von irgendwelchen Insekten bis auf ein paar Gerippe fast völlig abgefressen wurden, schlummert ein Brookesia antakarana-Männchen. Den Kopf hält es direkt hinter eines der Blattgerippe, als wolle es seinen Kopf vor Regen schützen. Noch etliche weitere Erdchamäleons entdecken wir. Dann wird die Fundrate deutlich geringer und wir beschließen, umzukehren. Auf dem Rückweg fallen mir im dichter bewaldeten Teil des Weges wieder die hiesigen Kurzkopfschrecken auf. Unmengen dieser kleinen, heuschreckenähnlichen Insekten finden sich überall auf den Pflanzen. Ein perfektes Chamäleonfutter. Blattschwanzgeckos haben wir auf dem ganzen Weg heute keine entdeckt, das ist eher ungewöhnlich. Aber so ist das eben in der Natur: Man kann nicht voraussagen, was man alles findet oder nicht. Es ist abhängig davon, wieviel es zuvor geregnet hat und auch ein bisschen Glückssache.
Am Haus des Campwächters gibt es merkwürdige Dinge zu sehen – soweit man bei der Dunkelheit von Sehen sprechen kann: Ein Mann bewegt sich recht eigen tanzend im Vorgarten, ein sehr niedriges und kleines Feuer brennt auf der Veranda. Es erhellt die Szenerie nur ein kleines bisschen, richtig erkennen kann man nur wenig. Zwei Gestalten sitzen daneben, als würden sie zuschauen.
Zurück am Campground machen wir noch einen kurzen Abstecher in den Pinienwald direkt nebenan. Etwas Besonders finden wir nicht mehr, aber ich bin mit der Ausbeute an Funden durchaus zufrieden. Besonders die Calumma ambreense-Jungtiere haben es mir sehr angetan. Eine sehr kleine Runde ist noch unter dem kleinen Licht in der Küche versammelt. Frank ist wohl einigen Froschrufen nachgehechtet und dabei im Bach gelandet. Er wollte schauen, ob die Rufe von Boophis blommersae oder Boophis roseipalmatus kamen und was die da gerade machten. Naja, jedenfalls waren dann seine Schuhe und seine Hose klatschnass, weswegen er sich unserer Nachtwanderung dann doch nicht mehr anschließen wollte. Tanala trinkt gerade sein THB aus – ein guter Wink, jetzt den Weg zum Zelt zu finden.