Als es gerade dämmert, will ich mit Tanala das Bungalow verlassen. Leider geht die Tür nicht auf. Auch nicht mit viel gutem Willen. Also springt Tanala aus dem Fenster auf die kleine Veranda und sperrt die Tür von außen auf. Das klappt. Wie gut, dass gerade neue, große Schiebefenster eingesetzt wurden – durch die hier sonst üblichen Lamellenfenster hätte er nicht gepasst, wie wir spätestens seit Ankify alle wissen. Leise erollen wir die Taschen zu den Landrcuisern, die bereits im Hof stehen. In der Kirche unter den Wellblechdächern nebenan findet offenbar gerade schon ein mager besetzter Gottesdienst statt – oder nur eine kleine Morgenandacht. Das kann ich auf Madagassisch nicht unterscheiden.
Keine Viertelstunde später ist alles verstaut und die Landcruiser folgen dem schmalen Weg vom Hotel aus noch ein Stück bergab, um über einen Sandweg links wieder zurück zur Hauptstraße zu gelangen. Ein Huhn stolpert etwas schlaftrunken über die Straße, eine Frau setzt auf einem Feuer am Straßenrand Reissuppe auf. Im Sonnenaufgang fahren wir an der Bucht von Diego Suarez entlang, den Montagne de Français zur anderen Seite.
In Diego ist schon erstaunlich viel los so früh am Morgen. Wir durchqueren die aufwachende Stadt und folgen der langen Hauptstraße bis zum Flughafen. Die Schranke öffnet sich, die Landcruiser fahren auf den Parkplatz vor dem kleinen, weißen Gebäude. Auf dem Kopf der Büste von Papst Johannes Paul II. am Rande des Parkplatzes sitzt ein kleiner Vogel. Und kackt dem Papst einfach auf den Kopf.
Die Jungs helfen, das Gepäck auszuladen. Tanala ruft noch, dass wir gleich nochmal aus dem Flughafen kommen, um uns zu verabschieden – so wie immer. Erstmal stellen wir uns aber beim Check-In an. Die Schlange reicht schon bis nach draußen. Der Check-In verläuft ereignislos, gewogen wird eher semi-genau, das Handgepäck wird glücklicherweise gar nicht angeschaut. Der Sicherheitscheck für metallische Gegenstände ist aber recht ordentlich. Jeder rutscht nacheinander in der Schlange weiter nach vorne – und dann geht es zu meinem Erstaunen einfach weiter in den gefliesten Wartebereich. Ohne Durchleuchtung des Handgepäcks, das gibt’s hier noch nicht. Ein paar Ventilatoren an der Decke rotieren zwar, warm ist es aber trotzdem. Wie, raus geht nicht mehr? Das ist neu. Schade, so können wir uns gar nicht mehr richtig verabschieden. Tanala schickt ein Gruppenfoto an Dimby, es kommt ein winkendes Foto der Jungs vor dem Gebäude zurück. Wenigstens etwas.
Der Duty Free-Shop glänzt mit gähnender Leere. Ein hölzerner, kleiner Laden mit halb hochgezogenem Rollladen verkauft zumindest kalte Getränke. Eine Sirene ertönt. Dann passiert erstmal nichts. Ein Mann in Warnweste radelt einsam über die Landebahn. Um kurz vor Acht landet eine kleine Propellermaschine auf der einzigen Landebahn direkt vor dem Flughafengebäude.
Der Flug nach Antananarivo ist sehr angenehm. Tanala und ich sitzen in Reihe 2, direkt hinter dem Cockpit. Reihe 1 ist uns direkt gegenüber – ich wusste nicht mal, dass es das in so kleinen Maschinen gibt, dass man sich gegenüber sitzt. Ein französisches Pärchen kommt recht spät dazu, lächelt freundlich und schnallt sich in den Sitzen uns gegenüber an. Neben ihnen, im Gang, schnallt sich gerade eine Stewardess in schickem Tsaradia-Outfit an. Kaum ist die Maschine in der Luft, verschwinden die beiden Franzosen. Und kommen auch erstmal nicht wieder. Mit der Maskenpflicht ist es bei Tsaradia übrigens nicht sehr weit her. Ein Haufen hustender Kinder fliegt mit, so richtig über Nase und Mund haben nur wenige Leute ihre Masken. Ich schlafe ein und wache erst wieder auf, als wir schon das Hochland überfliegen. Die Franzosen gegenüber sind immer noch weg. Sie tauchen erst wenige Minuten vor der Landung wieder auf – weiß der Himmel, wo sie die ganze Zeit waren. Über eine winzige, schmale Leiter steige ich aus dem Flieger. Jetzt ist es wieder wie früher. Quer übers Flugfeld trotte ich den anderen hinterher zu dem alten, dreieckigen Flughafengebäude.
Im alten Flughafengebäude von Tana fährt ein gemächliches Kofferband zwischen Backstein-Säulen im Kreis. Recht schnell kommen Taschen und Koffer angefahren. Jeder schnappt sich seinen Kram, wir wandern nach draußen – unterwegs mache ich noch einen Schlenker zum Wechselschalter, die Trinkgelder waren recht üppig und ich brauche ein bisschen mehr Ariary für Souvenirs. Hinter der Glasscheibe des Wechselschalters sitzt ein gelangweilter Mann. Der zieht die ihm überreichten Euro-Scheine zwar durch ein Prüfgerät, dessen Schalter steht jedoch eindeutig sichtbar auf 0 statt auf I.
Es ist fast schon kühl in Tana im Gegensatz zu Diego. Patrice kommt uns schon entgegen. Er nimmt so viele Taschen ab, wie er tragen kann, und lotst uns zum Bus. Der weiße Bus steht auf dem äußersten Rande des Flughafens, noch hinter dem internationalen Terminal. Patrice bringt uns durch die Straßen Tanas in das gleiche Hotel, in dem unsere Reise begonnen hat. In der engen Lateritgasse tobt heute das Leben. Die kleinen Holzstände sind voll mit Gemüse, lebenden und geschlachteten Hühnern, Chips, Kleidung und Schuhen. Die Hinterachse des Busses ächzt bedenklich, als Patrice den Bus durch die extrem enge und steile Gasse in den noch engeren Parkplatz des Hotels manövriert. Und wieder nur um Millimeter nicht an den Torpfosten hängen bleibt.
Tanala und ich beziehen ein anderes Zimmer, das im zweiten Stock liegt, direkt unter dem Dach. Die Balkone sind etwas kleiner als darunter, aber wir sind ja sowieso nur zum Duschen und Schlafen hier. Dafür gibt es eine (unbenutzte) Minibar. Ein kleiner, knallroter Fody sitzt auf dem Balkon und trällert lautstark. Das Bett knarzt übrigens kein bisschen – das scheint zimmerabhängig zu sein. Ich springe schnell unter die Dusche – beim Anmachen schockiert mich erstmal, dass die Regendusche direkt über mir angeht – und auch noch funktioniert, anstatt des sonst in Tana eher üblichen kläglichen Wasserrinnsals aus dem normalen Duschkopf.
Am Mittag bringt Patrice die ganze Reisetruppe zu Lizy Boutique nach Tana. Wieder folgen wir der riesigen, neuen Umgehungsstraße. Dann zuckeln wir lange einem himmelblauen Renault R4 hinterher, während wir auf dem Deich zwischen den vielen Reisfeldern fahren. Zebus grasen am Straßenrand. Mehrere Taxi Be überholen uns wild hupend. Irgendwann ist es Patrice zu bunt und er überholt den gemütlichen R4 selbst. Dann biegen wir ab, um in die Stadt selbst zu fahren. Es ist viel los, aber nur an zwei Stellen stehen wir einen Moment im Stau. Für Tana ist das ein guter Schnitt. Vor dem Andenkenladen ist leider kein Parkplatz frei. Patrice löst das sehr madagassisch. Er parkt einfach kurz mitten auf der Straße. Hinter ihm wird bereits wild gehupt, das stört ihn aber gar nicht. Erst als alle ausgestiegen sind, fährt er weiter.
Lizzy Boutique ist ein sehr gefährliches Pflaster, wenn man anfällig für Souvenirs ist. Bin ich. Sehr. Ich kaufe also hier eine Holzfigur, da eine Zinn-Sammelfigur, und dort noch einen Pfefferstreuer aus Zebuhorn. Drei Mal wandere ich zur Kasse. Gegenüber decke ich mich noch mit madagassischer Schokolade ein. Schließlich wandere ich noch auf die andere Straßenseite, die ebenfalls über diverse kleinere und größere Läden verfügt. Bei einer netten, kleinen Frau entdecke ich zwei Pantherchamäleons aus Holz, die als Garderobenhaken dienen. Sie sind tatsächlich richtig schön gemalt. Ich kaufe eins, das andere nimmt Martin. Ich frage noch nach, ob es davon noch weitere gibt – nein, leider nicht.
Danach bringt Patrice uns noch zu einem großen Akory!, in dem sich auch ein Jumbo Score befindet. Auch. Das ganze mutet sehr europäisch an. Es gibt wie in einer kleinen Mall Juweliere, Parfümerien, diverse Souvenirlädchen, Apotheken, Bäckereien und diverse Fast Food-Läden. Frank verschwindet in der Apotheke, um die berüchtigte Kräuterlimo zu kaufen, die laut dem Präsidenten gegen Corona helfen soll (Spoiler: tut sie nicht). Stattdessen muss er sich jedoch mit einem Covid Organics Tee für seine Kuriositätensammlung begnügen. Tanala bewundert einen bordeauxrot lackierten Land Rover Defender auf dem Parkplatz, der in hervorragendem Zustand ist. Ich erstehe im Supermarkt diverse Sixpack Bier und Dzama Punsch Coco. Der Dzama Cuvée noir ist allerdings leer. Wird gerade nicht geliefert. In einem Anfall geistiger Erleuchtung flitze ich nochmal zurück in den Supermarkt und erstehe eine Packung Zipbeutel. Falls was im Gepäck ausläuft, werden dann wenigstens nicht die vielen Kilos Gewürze nass.
Wir biegen in den Parkplatz des Shoprite ein. Doch auch der hat keinen Cuvée noir. Zum Rum weiß Patrice eine praktische Lösung. Er ruft einen Freund an, der irgendwo mitten in Antananarivo ein kleines Getränkegeschäft kennt und dort direkt nachfragt. Und dieses Geschäft hat noch 16 Flaschen Rum! Patrice lenkt den Bus also runter vom Parkplatz und durch ein Wirrwarr an Straßen bis in eine schmale, schmutzige Gasse. Wie will er denn hier parken…? Patrice löst auch das wieder madagassisch: Er fährt den Bus rechts zwischen einen Roller und ein Fahrrad so dicht an die Wand wie möglich. Und parkt. Wer jetzt links noch vorbei will, muss trotzdem auf den Millimeter rangieren können.
Über eine schmale Betonreppe geht es – an feixenden Männern vorbei – zu Fuß in eine noch kleinere, dunkle Gasse. Abenteuerliche Strom-Verkabelungen laufen quer über die Häuser. Wir laufen bis zu einer Art offenem Lagerraum, der von zwei roten, offenen Metalltoren flankiert wird. Unzählige leere Limo-, Bier- und Rumkisten stehen stapelweise vor dem Laden, genauso gegenüber. Dutzende knallroter Cola-Kisten türmen sich meterhoch auf, genauso viele gelbe THB-Kisten. Offene Pappkartons und einzelne leere Flaschen stehen bunt verteilt herum. Scheint hier ist ein Getränkegroßhandel. Innerhalb der Garage befindet sich lediglich zwei kleine Tische und an der Rückwand ein teils vergittertes Regal mit Getränken. Cuvée noir gibt es hier noch kistenweise – und der Preis ist auch ziemlich in Ordnung. Auf dem Rückweg möchte einer der jungen Männer auf dem Betontreppchen eine Flasche Rum gegen seine Wasserflasche tauschen. Wir lehnen dankend ab.
Schließlich sind wir zurück im Hotel. Das Wlan ist grauenvoll schlecht. Ich will aber jetzt ein Crowdfunding über betterplace erstellen. Dafür braucht es heute aber richtig viel Geduld. Mora, mora… Ein altes Foto von Florent habe ich schon gefunden, der Text ist auch schon fertig. Nur dass Hochladen dauert und dauert und dauert. Genervt sitze ich auf der Steinbank draußen direkt vor der Rezeption und warte. Florents Augen haben doch keine Zeit! PayPal funktioniert schließlich doch und Betterplace auch. Just in der Minute, bevor wir wieder losfahren, ist das Crowdfunding endlich eröffnet.
Abendessen gibt es heute bei GastroPizza, bei denen man heute aus unerfindlichen Gründen nicht auf dem Parkplatz, sondern nur auf der Straße direkt vor dem Haus parken darf. Die Musik, die im Hintergrund läuft, kommt mir bekannt vor. Nach einem kurzen Moment ist auch klar, warum: Es sind die gleichen Lieder, die die Jungs im Montagne d’Ambre gesungen haben. Bei ihnen klang es schöner. Ein freundlicher Mann in schwarzem GastroPizza-Outfit und dazu passender Maske weist uns einen großen Tisch zu. Ich bestelle nur ein Sandwich. Markus und Frank testen die Burger. Tanala lädt Patrice ein, der erst etwas zu schüchtern ist eine ganze Pizza zu bestellen. Halbe gibt’s aber nicht. Er ruft prompt erstmal seine Frau an, ob es okay ist, wenn er nicht mehr beim Abendessen später mit isst (was ich ja nicht wirklich glaube – die Erfahrung sagt: Bei Madagassen geht Reis immer noch rein, egal was vorher gegessen wurde).
Aufs Essen kann ich mich nicht ganz konzentrieren. Das Wlan bei GastroPizza ist nämlich gut genug, das Crowdfunding breitflächig auf facebook und über Whatsapp zu streuen. Die Resonanz ist bemerkenswert. Ich antworte im facebook Messenger auf Rückfragen, tippe Nachrichten in Whatsapp und antworte Kommentaren bei facebook. Parallel schreibe ich Dimby ungefähr hundert Mal im Laufe des Abends, weil ich alle fünf Minuten den Spendenstand aktualisiere. Und jedes Mal ist eine neue Spende da! Wow! Der Plan geht auf. In knapp zwei Stunden kommen über 900 € zusammen. Einfach so. Weil Menschen nett sind und Florent helfen wollen. Den sie eigentlich gar nicht kennen. Ich freue mich für Florent – es ist seine einzige Chance. Ich hoffe, dass er sie auch nutzt. Ich sage Dimby Bescheid, dass wir genügend Geld beisammen haben. Einen Teil lasse ich von meinem Geld direkt in bar hier, den Rest schicke ich per WesternUnion nach. Schau bitte, dass Florent sich sofort um einen OP-Termin kümmert!, texte ich ins Handy. Dimby telefoniert direkt mit Florent, der völlig hin und weg von der großen Spendenbereitschaft in Deutschland. Damit hätte er nicht gerechnet. Er freut sich. Und verspricht, morgen früh sofort in Antananarivo bei seinem Arzt anzurufen und alles in die Wege zu leiten. Ich bin zufrieden und erleichtert. Es ist eine Chance.
Zurück im Hotel falle ich direkt ins Bett. Draußen singt ein Frauenchor, klingt eigentlich ganz schön. Nach wenigen Minuten schlafe ich tief und fest.
Nachtrag: Florent konnte in Antananarivo mit dem gespendeten Geld operiert werden (und ich habe quasi einen Livebericht direkt aus dem OP bekommen). Sein Augenlicht ist nicht das, was es früher mal war. Als local guide wird er nicht mehr arbeiten können. Aber er kann seinen Alltag gut bewältigen und sieht besser als vorher. Florents zu hoher Blutdruck hat sich als Ursache der Netzhautablösung herausgestellt. Der Blutdruck wird jetzt mit Medikamenten dauerhaft eingestellt. Da noch Geld übrig war nach der OP, hat Florent diese Ariary für Unterkunft, Fahrtkosten und Essen bekommen. Insgesamt kamen aufgerundete 1500 € zusammen. <3