Die Nacht war eher unruhig. Um zwei war ich wach, weil jemand sehr laut geschnarcht hat. Um vier läuft irgendein Vollpfosten laut quatschend um das Zelt. Und nebenbei ist die Luft komplett aus der nagelneuen Luftmatratze raus, weswegen Tanala und ich plötzlich auf Beton liegen. Super. Diverse fluchende Aufpumpversuche von Tanala später ist die Matratze wieder leer.
Um sechs stehe ich auf, Tanala ist bereits auf dem Weg zum Zähneputzen am Klo- und Duschhäuschen. Der Hahn im an den Park angrenzenden Dorf kräht schon seit einer halben Stunde. Wenigstens die Lemuren meinen es heute sehr gut mit mir: Schon vor Sieben sind Coquerel-Sifakas in den Bäumen direkt am Campground. Eigentlich wollten wir um Sieben frühstücken, das wird aber wegen akutem Lemurengucken verschoben. Mit großen Sprüngen bewegen sich die bärchenhaften Lemuren mit dem weiß-braunen Fell durch die hohen Bäume. Neugierig lugen sie durch die Blätter nach unten. Ein recht fotogener Trauerdrongo findet sich auch ein. Schließlich verschwinden die Lemuren wieder in den Wald, und wir finden doch noch Zeit zum Frühstücken.
Irgendwann sind dann auch alle fertig und es kann losgehen. Die Chicken Group ist unterwegs! Chrissi, Markus und Katja waren noch nicht hier, Ines und ich schon. Wir nehmen Mika mit, denn der hat sowas wie bionische Augen und ein Gespür für Chamäleons. Ndrema haben wir schon zum Frühstück herzlich begrüßt. Er freut sich sehr, dass wir wieder hier sind.
„Wir gehen heute ganz gemütlich zur Schlucht!“, sagt er direkt beim Losgehen. Jaja, gemütlich und Ambalabongo-Schlucht. Alles klar. Direkt hinter dem Campground führt Ndrema uns in den Trockenwald. Wir steigen ein paar flache Stufen nach oben. Mika entdeckt schon nach wenigen Metern ein weibliches Furcifer rhinoeceratus am Wegrand im Gebüsch. Es hat einen tollen orangefarbenen Schwanz und einen lila Körper. Kurz dahinter entdecken wir an einem Baumstamm auf Kopfhöhe einen riesigen Skink. Als Ndrema ihn sieht, freut er sich wie irre. Seit guten zehn Jahren hat er diese Art hier nicht mehr gesehen. Und wir entdecken so eine Seltenheit mal eben im Vorbeigehen am Baum! Es ist wohl aber nicht ganz gewöhnlich, dass der Skink so weit oben zu finden ist. Ndrema vermutet, dass irgendetwas ihn aufgescheucht hat.
Eigentlich wollten wir uns beeilen, um die Ambalabongo-Schlucht nicht erst gegen Mittag zu erreichen. Das klappt bisher eher so semi-gut. Ich lobe kurzerhand zwei THB für denjenigen aus, der heute ein Männchen von Furcifer rhinoceratus findet. Ich habe nämlich bisher nur Jungtiere und Weibchen in Ankarafantsika gesehen und würde gerne mal so einen ausgewachsenen Nasenträger in seinem natürlichen Lebensraum beobachten. Ich habe das Angebot kaum ausgesprochen, da findet Ndrema auch prompt schon das erste Männchen. Es ist noch jung, aber das zählt trotzdem. Vom Alter hatte ich ja nichts laut gesagt…
Wir tigern weiter bis an den Rand des Trockenwaldes. Etliche Hakennasennattern kreuzen den Weg. Sie sind hier blitzschnell durch die Hitze. Einer der Schlangen fehlt das rechte Auge, aber das scheint sie wenig zu stören. Sie bohrt gerade ihre Nase in den Boden, wahrscheinlich auf der Suche nach vergrabenen Eiern, die eine gute Mahlzeit abgeben würden. An einem dicken Baumstamm entdecken wir noch einen riesigen Madagaskarleguan, der gerade einen Skolopender verspeist. Leider erhasche ich kein Foto mehr. Da werden mir die Oplurus im Wald doch gleich noch sympathischer.
Schließlich zeigt sich Licht am Waldrand. Vor uns liegt die Savanne. Ein breiter Weg aus rotem Laterit führt schräg zwischen Zebugras in Richtung der Schlucht. Es ist inzwischen schon reichlich warm, und selbst der flache Weg bis hierhin bringt einen ins Schwitzen. Die Fotorucksäcke tun ihr Übriges dazu. Die Sonne steht immerhin noch nicht ganz oben am Himmel. Zu meinem Entzücken ist der Himmel völlig wolkenverhangen. Das ist hier in der Savanne ein Segen, denn bei knallender Sonne ist die Hitze im kniehohen Gras fast unerträglich. Das Laufen der paar Kilometer kann dann schnell zur Tortur werden. Heute aber nicht. Ein angenehmes Lüftchen weht sogar, und der Weg zur Ambalabongo-Schlucht ist gut erträglich. Schwitzen tun wir natürlich trotzdem alle ziemlich viel, aber keiner fällt um und keinem wird schlecht.
Ndrema zeigt uns kurz die Schlucht von oben. Wegen des unbeständigen Materials brechen immer mal wieder Teile der Schlucht während der Regenzeit ein. Genau dort, wo ich letztes Jahr Fotos gemacht habe, fehlen gute fünfzig Meter Boden. Sie sind einfach in die Schlucht gerutscht. Wir laufen weiter zu der kleinen Hütte am Waldrand, von der man in die Schlucht hinunter steigt. Bei einer kurzen Pause schaut Mika sich in den Bäumen um die Hütte um, und findet – zack! – noch ein Furcifer rhinoceratus-Männchen. Schon vier Bier weg, hui.
Der Weg runter in die Schlucht ist inzwischen nur noch ein Hang voll Sand. Die Treppenstufen, die letztes Jahr zumindest noch rudimentär vorhanden waren, sind inzwischen vollständig verschwunden. Nicht mal mehr die Holzstecken, die von den Stufen übrig geblieben waren, sind noch zu erkennen. Ich rutsche und gleite mit den Schuhen den Sand herunter, ganze Berge von Sand mitnehmend. Die anderen machen es genauso. Runter geht es leicht!
Unten in der Schlucht ist es echt warm. Zügig läuft Ndrema voran bis zu einer Wand mit einem schmalen Saum von Schatten davor. Viele kleinere und größere Erdrutsche haben die Schlucht verändert. Auch an der Wand, an der ich schon mehrfach gesessen habe, ist nur noch halb so viel Platz. Wir reihen uns im Schatten auf und verschnaufen erstmal. Die Farben der Schlucht sind der helle Wahnsinn. Rot und orange leuchten die Wände. Am Boden haben sich bizarre kleine Figuren gebildet. Ein Wunderwerk der Natur.
Ambalabongo-Schlucht im Nationalpark Ankarafantsika, Region Boeny, West-Madagaskar , April 2017 – Spherical Image – RICOH THETA
Über der Schlucht kreisen Schieferfalken. Zwei lassen sich sogar sehr fotogen in der Schlucht nieder, aber es ist einfach zu warm für Fotos. An dieser Stelle ein kleines Lob auf die Chilly’s bottle: Ich hatte noch nie eine Flasche, die Getränke so hervorragend über 48 Stunden kalt gehalten hat. Ich gebe die Flasche herum, und jeder genießt einen Schluck Cola aus der eiskalten Flasche. Das tut hier unten echt gut!
Bevor bei allen die totale Müdigkeit von der Mittagshitze einsetzt, machen wir uns wieder auf den Weg. Markus klettert am Ende der Schlucht gerade auf den brusthohen Laterithügel, hinter dem der Sandpfad nach oben beginnt, als er das vierte Furcifer rhinoceratus des Tages entdeckt. Und, wen wundert’s, es ist ebenfalls ein Männchen. Mit einer äußerst beeindruckend großen Nase. Das scheint heute ein teurer Tag für mich zu werden.
Ambalabongo-Schlucht im Nationalpark Ankarafantsika, Region Boeny, West-Madagaskar , April 2017 – Spherical Image – RICOH THETA
Da Ndrema sich mit Grauen an meinen letzten Aufstieg aus der Schlucht erinnert, übernimmt er freiweillig meinen Rucksack und stapft seelenruhig damit durch den Sand nach oben. Er ist hager und sehnig – und wiegt wahrscheinlich etliche Kilo weniger als ich, obwohl er deutlich größer ist. Nix außer ein paar Muskeln dran. Damit kommt man allerdings den Weg von der Ambalabongo-Schlucht deutlich besser nach oben. Für mich wird’s eher böse. Mit diversen Pausen, weil mein Kreislauf einfach gar keine Lust mehr hat, krabbele ich auf allen Vieren nach oben. Die 200 Meter steil den Hang hinauf ziehen sich, und im Sand rutschen meine Füße immer wieder einfach zurück. Ich habe das Gefühl, doppelt so weit zu laufen wie der Weg eigentlich ist. Mika grinst in sich Hinein und wartet geduldig, bis ich mich bis zur Hütte nach oben gearbeitet habe. Oben ist erst einmal eine lange Pause angesagt. Ich trinke mein Wasser aus und schütte mir einen Teil noch über den Kopf. Dann ist es auch wieder gut mit dem Kreislauf.
Der Weg durch die Savanne zurück in den Trockenwald ist anstrengend, aber es geht ganz gut. Eine große Gruppe Schüler kommt uns entgegen, die Hälfte in Jeans und Flip-Flops. Rot-goldene Minikleider scheinen auch gerade angesagt zu sein. Ndrema erklärt, dass die Schüler offenbar immer noch nicht gesagt bekommen, wann sie einen Ausflug machen. Entsprechend kommen sie morgens in Schulkleidung zur Schule und gehen dann auch genauso – unvorbereitet – in den Wald. Wir stapfen freundlich grüßend in unseren Trekkingklamotten an der Schulklasse vorbei.
Auf einer Holzbank am Waldrand pausieren wir gleich nochmal. Allen läuft inzwischen der Schweiß in Strömen. Ich kippe mir den letzten Rest Wasser in den Nacken. Eigentlich könnte ich meinen Rucksack auch längst wieder selbst tragen, aber irgendwie möchte Ndrema ihn nicht wieder zurückgeben. Na, mir soll es Recht sein. Der Wald lässt sich mit 15 kg weniger auf dem Rücken gleich viel besser genießen.
In Ruhe laufen wir den sandigen Waldweg zurück Richtung Campground. Hier und da sitzen Madagaskarleguane an Baumstämmen. Ndrema meint irgendwo, wir sollen kurz auf ihn warten und verschwindet zwischen den Bäumen. Wenig später holt er uns ab und führt uns durch Gestrüpp und Gebüsch bis zu einem hohen Baum. An dessen Spitze lugt ein kleines, felliges Gesicht mit großen Augen aus einem Astloch: Ein Wieselmaki oder sportive lemur.
Am Nachmittag sind wir zurück im Camp. Sechs Furcifer rhinoceratus haben wir auf unserer Wanderung entdeckt. Ich begebe mich erstmal ins Restaurant, um meine THB-Schulden bei Markus, Ndrema und Mika zu begleichen. Mir selbst spendiere ich auch eines, auch wenn ich selbst nur Weibchen gefunden habe. Erneut sind wir die letzten, die von unseren drei Grüppchen zurück ins Camp kommen. Eric und Andry spurten sogleich los, um uns noch ein spätes Mittagessen zu servieren.
Erschöpft lassen wir uns auf die Stühle der Essenshütte fallen. Es gibt kleine Schnitzel, das beste Pfefferfleisch der Welt mit Reis und Ingwer-Karotten. Ein Genuss! Hungrig leeren alle die Teller. Währenddessen erreicht auch die Schulklasse, der wir vorhin begegnet sind, den Campground. Schnatternd und quietschend besetzen die 15- und 16jährigen die Duschen. Also bilden wir eine Duschschlange, bis irgendwann mal eine Dusche wieder frei wird. Drinnen stinkt es wie im Pumakäfig und Strom gibt es noch nicht. Also dusche ich im Dustern, was allerdings dazu führt, das meine aus unerfindlichen Gründen dunkelrot verfärbten Beine nicht so richtig sauber werden. Ich vermute, der Dreck ist beim Aufstieg aus der Ambalabongo-Schlucht in meine Hosenbeine geweht. Egal. Die Dusche hat sich trotzdem gut angefühlt.
Bald schon ist es dunkel. Ich bastele im Schein der kleinen Glühbirne über dem Esstisch den Fieldguide für Ndrema fertig. Es soll eine Überraschung werden. Nach dem Abendessen merken dann doch alle, dass der Tag anstrengender war als gedacht. Früh geht es in die Zelte und auf die Luftmatratzen.