Der Tag beginnt heute „erst“ kurz vor Sieben, was dazu führt, dass ich ohne Umweg direkt vom Zelt zum Frühstück wandele. Wieder ist alles nass und feuchte Klamotten anziehen ist wirklich nicht nett, wenn man eh noch müde ist. Aber das Frühstück mit Omelette, Honigbrot und Sternfrucht-Marmelade entlohnt zumindest etwas. Direkt um acht Uhr machen wir uns auf zu Camp Marojejya. Das Wetter ist prima, aber durch die Sonne ist die Luft auch warm und stickig. Der Weg bis zu Camp 2 ist „nur“ gute zwei Kilometer lang, jedoch sehr steil und schwierig. Es geht immer wieder steil hoch und ebenso steil wieder nach unten, zwischendurch klettern wir über halbe Bäume oder riesige Wurzeln, durchqueren Brookesia valley und kämpfen uns den rutschigen Pfad entlang. Auf halbem Weg entdecken wir Weißkopfmakis in den Ästen direkt über uns. Sie sind nicht sehr ängstlich und bleiben sitzen, obwohl wir unsere Kameras auspacken und direkt unter ihnen stehen.
Am letzten Stück des Weges wartet eine große Felsplatte auf uns, die deutlich steiler ist, als es auf dem Foto rüberkommt. Ein Seil, oder vielmehr eine dünne blaue Wäscheleine, dient zum Festhalten und Entlanghangeln. Direkt vor dem Camp dann eine Überraschung: Eine sauber betonierte Treppe mit eingelegten Steinen für besseren Halt führt nach oben. Wie sie hier Betonsäcke hochgeschafft haben, wird mir wohl ein Rätsel bleiben… Okay, die Stufen sind nicht gerade EU-Norm und teilweise riesig, aber die Treppe ist so ziemlich das angenehmste, was mir hier im Regenwald bisher begegnet ist. Und Camp Marojejya ist der Wahnsinn. Es liegt direkt am Berg, so dass die untersten Hütten gut 50-100 Meter unter der Küchenhütte liegen. Unter dem Camp liegt ein Wasserfall. Da das Wasser nicht allzu schnell fließt und nicht besonders tief ist, kann man die Füße wunderbar zwischen den Felsen ins Wasser strecken. Die Aussicht dabei ist wunderschön – man schaut direkt auf den Berg und mitten hinein in den dichten, grünen Regenwald. Die Geräusche im Wald erzählen von Lemuren, Unmengen Insekten und völligem Alleinsein. Hier ist nichts um uns Herum, nur der Regenwald. Der Alltag ist Tausende von Kilometern entfernt und scheint hier völlig unwirklich. Der blaue Himmel macht das Paradies perfekt, und ein leichter Wind lässt mich auch die Sonne sehr gut vertragen. Der Himmel auf Erden…
Nur eine kurze Pause bleibt mir, denn um zehn Uhr brechen wir direkt zu den Seidensifakas auf. Oder ich formuliere es mal so: Wir hoffen, sie zu finden. Nestor, der schon viele Monate bei diesen seltenen Tieren verbracht hat, ist längst vorausgegangen. Leider halten sich die Tiere heute nicht in 200 Metern Entfernung zu Camp 2 auf wie sonst oft, sondern sind rund einen Kilometer entfernt. Klingt wenig, aber ohne richtigen Weg ist es extrem weit. Nicht zu Unrecht taufe ich den Weg, dem wir folgen, später liebevoll „Teufelsrücken“. Eigentlich ist es kein Weg. Es geht extrem steil zwischen Baumwurzeln nach oben und alle fünf Meter halte ich an, um Luft zu holen und eine Minute zu pausieren. Ich klettere von Wurzel zu Wurzel, und der Weg will einfach nicht enden. Klatschnass geschwitzt stehe ich mitten am Ende der Welt im Regenwald und quäle mich einen völlig absurden Trampelpfad hoch. Warum mache ich das eigentlich?
Dann wird es noch besser: Es geht 800 Meter querfeldein weiter. Und querfeldein meint hier, sich im wahrsten Sinne des Wortes von Baum zu Baum zu hangeln. Überall muss ich mich festhalten, um nicht auszurutschen und den steilen Hang herunterzufliegen. In was ich alles hineingreife, ist mir mittlerweile reichlich egal – und wieviele Blutegel ich heute wohl von meiner Haut pflücken kann, auch. Ich trete in knöcheltiefen Schlamm, quetsche mich unter Baumstämmen durch und sitze oft genug einfach auf dem (inzwischen klatschnassen) Hintern, um Felsen zu überqueren oder den matschigen Erdboden herunterzurutschen. Farne und Äste klatschen mir ins Gesicht, meine Gamaschen sind vollständig eingeschlammt und der Schweiß läuft in Strömen. Ich kann gar nicht soviel trinken, wie ich schwitze. Leider besteht hier oben offensichtlich alles nur aus Schluchten, und so klettern wir auf der einen Seite herunter und auf der anderen wieder herauf. Der Weg will kein Ende nehmen und es ist unglaublich anstrengend.
Endlich stehen wir irgendwann an einem steilen Hang, als Nestor die Seiden-Sifakas sichtet. Die „Engel des Waldes“ werden sie genannt – und wenn sie springen, sehen sie auch wirklich so aus. Leider springen sie von uns weg, uns so laufen wir noch eine ganze Weile hinter ihnen her. Dann endlich ruht die Gruppe kurz aus. Es sind drei junge Männchen und ein Weibchen, die rund zehn Meter von uns entfernt in den Bäumen sitzen. Die jüngeren spielen, lassen sich kopfüber von den Ästen hängen, kabbeln sich und sind völlig unbeeindruckt von den unter ihnen stehenden Menschen. Sie kennen Menschen, haben jedoch bisher zum Glück keinerlei schlechte Erfahrungen mit diesen lauten Zeitgenossen gemacht. Eine halbe Stunde, eine Stunde vergeht wie im Flug. Es kommt mir wie zehn Minuten vor, als Mosesy zum Aufbruch drängt, da es nach Regen aussieht. Schade, gerade sind die Tiere etwas näher… richtig gute Fotos habe ich nicht bekommen, aber allein diese seltenen Lemuren zu beobachten war eine einzigartige, grandiose Erfahrung.
Mosesy hat Recht – es regnet. In Strömen rauscht Wasser vom Himmel. Innerhalb von Sekunden bin ich – mal wieder – klatschnass. Der Hang wird durch den Regen noch rutschiger, als er sowieso schon ist, und ich hangele mich erneut von Baum zu Ast und Wurzel. Den Bach durchquere ich gleich im Wasser statt auf den glitschigen Steinen, denn in meinen Schuhen steht sowieso schon wieder ein See. Wer hat eigentlich irgendwann mal behauptet, runtergehen wäre anstrengender als hoch? Hier ist das definitiv nicht so, beide Strecken geben sich absolut nichts im Schwierigkeitsgrad.
Gegen 15 Uhr erreichen wir Camp Marojejya. Zu meinem Glück haben die Jungs sich in der Küche schon häuslich eingerichtet. Sie wollten heute morgen unbedingt die gesamte Ausrüstung von Camp Mantella mitnehmen, um richtig kochen zu können. Eigentlich wären wir auch mit ein paar Sandwiches schon völlig zufrieden gewesen, aber so ist es natürlich noch besser. Es gibt Hühnchen mit Reis und Gurkensalat. Nach der kleinen Stärkung steht noch ein Brookesia griveaudi für Fotos bereit, das direkt auf den Felsen neben dem Camp sitzt. Ein neugieriger Mungo schaut auch vorbei, und ist sogar dreist genug, seinen Kopf in den Küchenmüll zu stecken. Vielleicht gibt es ja noch etwas verwertbares?
Björn, Tanala und ich entscheiden uns mit Mosesy gemeinsam, später zum Camp zurückzugehen, um mehr Tiere zu sehen. Die anderen machen sich sofort auf den Rückweg. So sitzen wir im strömenden Regen zu sechst in der Küche von Camp Marojejya und warten auf besseres Wetter. Um kurz vor sechs bricht endlich die Sonne aus den Wolken hervor, was ein Glück! In der Dämmerung fangen die Frösche an zu quaken, und hier oben ist der Lärm wirklich ohrenbetäubend. Von wegen „Stille im nächtlichen Regenwald“.
Noch im Camp 2 finden wir ein wunderschönes, trächtiges grünes Chamäleonweibchen, ein Calumma marojezense. Den dazu passenden Nachwuchs gibt es wenige Meter weiter. Unmengen Frösche sind unterwegs und an fast jedem Baum kleben Paroedura. Es ist dunkel, als wir erst am Ausgang des Camps sind. Und leider setzt der Regen wieder ein. Und hört nicht wieder auf. Meine Stirnlampe hat leider ihren Geist aufgegeben, und auch die Ersatzlampe funktioniert nach wenigen Metern nicht mehr. So haben wir zu viert zwei Lampen, um den schon im hellen schwierigen Weg nach unten zu finden. Und es ist die Hölle….
Tanalas Rucksack weicht immer mehr auf, das Cover ist irgendwie nicht ganz dicht. Aus Angst um die Kamera-Ausrüstung schicken wir Dimby samt einer Lampe los, er ist alleine viel schneller unterwegs. Sakilée, Tanala und ich stolpern und fallen die zwei Kilometer in strömenden Regen nur noch mit einer Stirnlampe. Immer wieder geht einer von uns mit Lampe vor und muss dann den anderen den Weg leuchten. Die kleinen Bäche, die wir heute morgen noch leicht überqueren konnten, sind inzwischen zu reißenden Gewässern angeschwollen. Durch einige ist alleine eigentlich kein Durchkommen, ohne im Wasser zu landen. Bis über die Knöchel stecke ich immer wieder im Schlamm, denn der Boden sieht überall gleich aus im Stockfinsteren. Außerhalb des Kegels der Stirnlampe sehe ich meine eigenen Hände nicht mehr. Der Regen tropft mir in Strömen von Nase und Kinn und läuft an den Beinen entlang in die Schuhe. Zwei Stunden stolpern und kriechen wir so durch den Regenwald (woraus sich schließen lässt, dass wir mit glorreichen 1 km pro Stunde laufen konnten). Achja, Paroedura und Frösche sind bei strömendem Regen übrigens Unmengen unterwegs. Und „Atomgrillen“, die ohne Übertreibung die Größe meines halben Schuhs hatten. Leider war es zu nass, um auf dem Weg Fotos zu machen. Schade, aber was nutzen drei tolle Fotos, wenn danach die Kamera hinüber ist?
Irgendwann kommen wir tatsächlich im Camp Marojejya an. Kurz vor dem Camp kriecht eine Madagascarophis über unsere Füße, aber blitzschnell verzieht sie sich vor unseren Händen ins Gebüsch. Wie begossene Pudel erreichen wir die Hütte. Die meisten sind längst schlafen gegangen. Ich ziehe erstmal alle nassen Klamotten aus und suche mir zwischen Küche und Tisch meine Handtücher und eine Unterhose zusammen. Im schummrigen Licht von Kerzen und Stirnlampen stelle ich dann fest, dass rund fünfzehn Blutegel an meinem Körper kleben – und nicht nur an netten Stellen wie Füßen und Händen. Nicht, dass ich unterwegs keine Egel von meinen Händen entfernt hätte, aber offensichtlich habe ich etliche übersehen. Einige sind schon zehnmal so dick wie die „frischen“ kleinen dünnen Würmchen. Nach ein paar Minuten ist der Holzboden des Camps von Blutflecken übersät – zertreten ist die einzige Möglichkeit, sicherzugehen, dass die Tierchen nicht direkt wieder andocken. Dann gibt es erst einmal Abendessen. Obwohl wir Stunden später als die anderen angekommen sind, hat unsere Küchencrew noch Essen warmgehalten. Die Jungs sind wirklich ein Segen!
Etwas später kommen Mosesy und Björn ins Camp. Mosesy nutzt eine blaue, riesige Plastikplane als Regencape, ist aber trotzdem wie wir auch reichlich nass geworden. Schnell sammelt er noch zwei Paroedura von umliegenden Ästen, und so bekommen wir doch noch das ein oder andere Foto, bevor wir die Tierchen wieder an ihre Fundorte zurücksetzen.