Um halb Zwei bin ich wach. Alles ist nass. Meine rechte Hand hat schon aufgeweichte Fingerschwielen vom Liegen auf der nassen Luftmatratze. Ich rutsche also zu Tanala auf die mit 80 cm für zwei Personen reichlich schmale Luftmatratze. Von den 80 cm sind allerdings 20 auch schon nass, aber noch gering trockener als bei mir. Wir quetschen uns also zu zweit auf den verbliebenen trockenen Teil. Ich drücke auf das Messgerät an meinem Rucksack. Das Display leuchtet kurz blau auf. 96% Luftfeuchtigkeit. Wie angenehm.
Memo an mich selbst: Stundenlanges Liegen auf einer Seite ist extrem unbequem und macht enorme Rückenschmerzen. Nächstes Mal doch in die Gemeinschaftshütte umziehen, auch wenn die keinen Schutz vor Stechmücken bietet.
Um halb drei Uhr morgens kehrt Desirée ins Camp zurück. Er hat in der Nacht nach Chamäleons gesucht. Man findet sie nachts leichter und kann dann tagsüber die gleichen Stellen aufsuchen, an denen sie nachts saßen. Dann braucht man allerdings trotzdem noch Glück und gute Augen, um die Tiere wiederzufinden. Irgendwann stehe ich auf, es wird ja eh gerade hell. Ich laufe runter zu den Felsen am Wasserfall und setze mich auf die Steine. Mit Blick in den Regenwald, über dem gerade die Sonne aufgeht. Ein paar Nebelwölkchen ziehen aus der Schlucht nach oben, der Himmel ist von Wolken verhangen. Nestor kommt vorbei. Er war bei den Seidensifakas, geht jetzt nur schnell im Camp frühstücken und flitzt dann schon wieder los. Mit seiner Machete. Und ohne sein Gebiss, dass er offenbar nur sonntags trägt. Wenn ich Nestor noch treffe, muss es noch sehr früh am Morgen sein.
Eine ganze Weile später gibt es Frühstück. Primo präsentiert stolz fein säuberlich gefaltete Crêpes. Dazu gibt es deftige Bolognesessauce in einer riesigen Glasschüssel. Auf Baguette und mit Spiegeleiern. Ich lasse Sauce auf mein Baguette tropfen, versuche das ganze möglichst tropfarm zu essen und verzehre als Nachtisch noch einen Crêpe mit bitterer Orangenmarmelade. So lässt es sich doch sehr gut aushalten hier im Regenwald.
Nach dem Frühstück geht es los. Schuhe fest schnüren, Trekkinghosen an den Schuhen befestigen (dafür sind übrigens die kleinen Metallhaken unten an den Hosenbeinen gedacht). Elioda schultert den Fotorucksack. Wir wandern in Richtung Camp Simpona. Wandern trifft es allerdings nicht, und leider ist mir das auch schon vor Beginn sehr klar. Im Gänsemarsch queren wir die Felsen am Wasserfall, um einem Trampelpfad auf der anderen Seite durch nassen Bambus und lehmigen Boden zu folgen. Schon nach wenigen Metern führt der Pfad steil nach oben. Der „Teufelsrücken“ hat es in sich. Die Wurzeln, die es zu erklimmen gilt, reichen mir teils bis zum Bauchnabel. Es ist also eher eine Kletterpartie als Wandern. Nach nur wenigen Metern stehe ich auf einer Art Bergkamm, auf dem sich mehrere Wege kreuzen. Wir nehmen den – wer hätte es gedacht – nach oben. Weiter und weiter geht es. Schweiß tropft, es ist wahnsinnig warm und feucht. Irgendwo geht es querfeldein weiter – Desirée ist irgendwo weiter vorne, ich habe ihn schon länger aus dem Blick verloren. Rauf, runter, rauf, runter… dass Marojejy nur aus Schluchten und Hängen besteht, war mir zwar schon klar, aber es ist jedes Mal wieder anstrengend. Die Rucksackträger erweisen sich als überaus hilfreich. Im Camp sind nicht alle so aufmerksam, hier aber schon: Hände werden angereicht, Vazaha werden über Wurzeln und Baumstämme geschoben und gezogen.
Schließlich erreichen wir ein kleines Tal direkt unter einem sehr steilen Hang. Der Boden ist voller dichter Farne. Desirée hat hier gestern ganz besondere Tiere gefunden, die er jetzt wiederzuentdecken hofft. Ich setze mich erstmal auf einen umgestürzten Baumstamm und atme. Und damit bin ich nicht allein.
Tatsächlich haben wir unverschämtes Glück. Desirée hat hier nicht irgendetwas gefunden, sondern eine ganz besondere, spezielle Chamäleonart: Brookesia betschi. Diese kleinen Erdchamäleons mit den faszinierenden Hörnchen über den Augen wurden bisher nur wenige Male fotografiert. Man findet bisher nur ein oder zwei Fotos, die Frank vor vielen Jahrzehnten mal geschossen hat. Und hier sind sie, diese kleinen, seltenen Erdchamäleons. Gleich mehrere Männchen und Weibchen lassen sich zwischen Moos, Laub und feuchtem Erdboden finden. Die Männchen tragen leuchtende, kleine, grüne und gelbe Akzente an den Hörnchen und auf dem Rücken. Sie sind extrem fotogen und ich verliere mich ein bisschen darin, die kleinen Schönheiten abzulichten. Bei dieser Art sind die Weibchen wirklich leicht von den Männchen zu unterscheiden: Sie haben viel kleinere Hörnchen über den Augen. Ich bin hin und weg von den kleinen Chamäleons. Dafür hat sich Marojejy wirklich gelohnt.
Eine weitere, mir noch unbekannte Chamäleonart findet sich nur unweit davon: Calumma guillaumeti. Sieht ein bisschen aus wie Calumma gastrotaenia oder Calumma marojezense, aber nur fast. Charackterlich ähneln sich die Arten allerdings gar nicht: Während solche kleinen, grünen Chamäleons anderswo hektisch umherlaufen und quasi nicht für ein einziges Foto zu stoppen sind, erweisen sich die Calumma guillaumeti als überaus fotogen. Völlig entspannt sitzen sie auf ihren dünnen Ästchen im Gebüsch, weder Fotos noch Menschen scheinen sie zu stören. Entsprechend toll kann man sie fotografieren!
Der Rückweg ist nicht ganz so krass wie gedacht. Und es gibt noch eine Überraschung auf halber Strecke, die den Weg im Rückblick direkt um ein Vielfaches verbessert: Coco hat Brookesia vadoni ausfindig gemacht. Diese wunderlichen, kleinen Erdchamäleons sind wohl die buntesten Vetreter ihrer Art. Außerdem tragen sie eine Vielzahl an Stacheln am Körper. Das löst ihren Körperumriss am Boden ziemlich auf – entsprechend schwierig ist es, sie zu finden. Das Weibchen ist diesmal fast hübscher als die Herren, die eine eher dunkle Färbung tragen. Eigentlich ist Brookesia vadoni eines der Chamäleon-Highlights in Marojejy. Ich gebe aber zu, dass sie heute nach den wesentlich weniger bunteren, aber irgendwie trotzdem sympathischeren Brookesia betschi ein wenig untergehen. Irgendwann, ich habe keine Ahnung wie lange wir im Wald verbracht haben, geht es ganz zurück zum Camp.
Ich lasse mich auf die schmale Bank vor der Hütte neben unserem Zelt fallen. Und bleibe da erstmal sitzen. Während ich atme und in den Regenwald starre, macht es plötzlich ein lautes PFUMP direkt vor meinen Füßen. Erschrocken schaue ich auf den Boden: Ein grünes Furcifer willsii sitzt wie erstarrt und heftig pumpend auf dem Boden, dann fängt es hastig an davon zu laufen. Offenbar ist es gerade mit Schwung vom Baum gestürzt! Etwas ungläubig schaue ich nach oben und brauche einen Moment, bis ich realisiere: Die nächste Baumkrone ist gute fünf, sechs Meter über mir. Und dieses Chamäleon ist gerade von da oben heruntergefallen. Einfach so. Ich sammle das etwas ramponierte Männchen vom Boden auf. Den Bissabdrücken auf der Haut nach zu urteilen, könnte das Männchen gerade während eines Kampfes mit einem anderen Chamäleon vom Baum gestürzt – oder gesprungen – sein. Ich wusste gar nicht, dass es hier auch Furcifer willsii gibt. Spannend! Das Männchen hat zum Glück dank seiner aufblasbaren Luftsäcke im Körper offenbar keinen größeren Schaden davon getragen. Nach ein paar Fotos darf es im Gebüsch verschwinden. Tatsächlich klettert es direkt wieder in schwindelnde Höhen. Viel Glück, kleiner Freund! Vielleicht triffst du diesmal auf nettere Artgenossen.
Das sehr späte Mittagessen, das eigentlich auch als frühes Abendessen durchgeht, verschlinge ich wie ausgehungert. Es gibt Unmengen – wirklich Unmengen – Nudeln mit Thunfisch aus der Dose, reichlich Ingwer und getrockneten Fleischstücken. Und einem Haufen Essiggurken, die ich aussortiere. Während ich kaue, berichtet José gerade, dass einer der Jungs aus der Küche heute Morgen mal eben in Mandena Öl holen war. Das war irgendwie ausgegangen. 16 km den Berg runter und wieder rauf. Mit Steigung, Luftfeuchtigkeit und Hitze. Wegen Öl. Ich schwanke zwischen Erstaunen, Entsetzen und Verwunderung.
An der Kochhütte taucht die kleine Nase einer Ringelschwanzmanguste auf. Sie huscht kurz um die Kochhütte herum, dann stibitzt sie einen Hühnerfüß und verschwindet wieder im Wald. Wenig später taucht die Manguste – diesmal mit Verstärkung – hinter der Gemeinschaftshütte auf. Offenbar riecht es hier gut nach Essen. Ein hübscher Taggecko flitzt über das Geländer der Hütte. Markus springt auf, um die hübsche Phelsuma quadriocellata zu fotografieren. Aber der Taggecko ist sehr schnell. Über Boden, Bänke und Tisch verschwindet der Gecko schließlich am Betonsockel unter der Gemeinschaftshütte.
Tanala hat am Morgen die nasse Luftmatratze und die triefenden Handtücher in der Gemeinschaftshütte in die Sonne zum Trocknen gelegt. Inzwischen ist alles trocken. Tanala räumt das Zelt wieder ein und schließt die Lüftungen. Ich hänge meine Füße in den Wasserlauf an den Felsen unter Camp Marojejya. Plötzlich laute Rufe und Geheule weiter unten am Waldrand. Nestor und Fabien haben die Seidensifakas gefunden. Nestor ist glücklich – dann kann er sie uns morgen zeigen! Mit stolz geschwellter Brust stolziert er durchs Camp. Fabien hatte wohl nicht mehr gedacht, die kleine Gruppe Seidensifakas zu finden – er ist allerdings auch weniger erfahren als Nestor, der schon Monate mit den Sifakas im Regenwald verbracht hat. Umso schöner, dass sie sie doch noch entdeckt haben.
Plötzlich ziehen Wolken über den Himmel. Es beginnt zu tröpfeln. Fluchtartig springe ich auf, flitze zum Zelt und kontrolliere Türen und Seitenteile. Alles zu. Schauen wir mal, ob es diesmal dichter ist.