Das Feon’ny Ala hat immer noch bleischwere Decken, die viel dünner aussehen als sie sind. Ich wühle mich aus den Decken und dem Moskitonetz, und wenig später sitze ich bei einem Zebu-Sandwich (was sonst) auf der Terrasse des Restaurants.
Heute führt uns der Weg in den Regenwald von Analamazaotra, dessen Eingang knapp zwei Kilometer vom Feon’ny Ala entfernt liegt. Kaum sind wir am Park Office angekommen, fällt mir auch hier einiges Neues auf: Die Gebäude sind in einem leuchtenden Orange gestrichen, der Weg in den Park ist mit einem breiten Tor verschlossen und vor dem Office muss man nun durch eine Art Kuhgitter laufen, um dann durch das kleine Museum und zur Hintertür hinaus in den Park zu gelagen. Sogar der Zaun entlang der Straße ist repariert. Ich staune. Und ein neues Schild gibt es auch: Man darf jetzt hier nicht mehr barfuß laufen. Oder so. Nur ein paar Meter vor dem Office-Gebäude sitzen einige Calumma brevicorne in den Bäumen, zwei Männchen mit orangenen Punkten und ein hübsches Weibchen mit grellgelben Schuppen am Kopf. Ein drittes Männchen entdeckt Dimby über unseren Köpfen, aber das Tier sitzt zu weit oben.
Nestor, unser heutiger Guide, führt uns im Eiltempo quer durch den Park, durch den Wald ins offene Gelände, vorbei an den alten, von der Natur längst überwucherten Betonresten der Fischzucht, entlang des Rundwegs und schließlich verschlägt es uns irgendwo ins Gebüsch. Zwischendurch gibt es eine ausgewachsene Hundskopfboa zu bestaunen. War der Regenwald im letzten Jahr noch dicht und das Durchkommen schwierig, sind die Trampelpfade quer durch den Wald heute sehr ausgetreten. An einem kleinen Bach sehen wir sie dann – Diademsifakas. Leider sind sie rund 20 Meter entfernt und bewegen sich von uns weg.
Immer wieder begegnet uns eine kleine andere Gruppe, geführt von Marie, die ebenfalls nach den Sifakas sucht. Plötzlich winkt Nestor und zeigt irgendwo ins Gebüsch – ein blauer Coua oder Seidenkuckuck. Der große blaue Vogel ist auf einem kopfhohen Asthaufen gelandet. Langsam und so leise, wie es eben möglich ist, näheren wir uns dem seltenen Tier – manche Ornithologen kommen nur wegen ihm hierher. Es ist wirklich ein schönes Tier, für ein Foto aber zu weit weg. Trotzdem eine schöne Begegnung. Der blaue Coua fliegt noch einmal auf, und setzt sich auf einen Ast etwas näher, bevor er sich wieder in die Lüfte erhebt und über die Baumwipfel davon fliegt. Nestor bittet uns, einen Moment zu warten – er will schauen, wohin die Sifakas ziehen und ob sie vielleicht eine Pause einlegen, bei der wir sie beobachten können. Eine ganze Zeit stehen wir also zu fünft irgendwo an einer kleinen Kreuzung zweier matschiger Trampelpfade und warten. Als Nestor zurückkommt, ist er enttäuscht – die Sifakas sind weit weg, bewegen sich immernoch weiter und befinden sich inzwischen auf reichlich unwegsamen Gelände. Er entscheidet deshalb, dass wir vor dem Mittag lieber die üblichen Aufenthaltsorte der Indris aufsuchen, bevor sie sich zu ihrem mittäglichen Schläfchen etwas ferner der Touristen zurückziehen.
Ich laufe also Nestor erneut hinterher, durch den Wald wieder zurück auf den steinernen Rundweg, und schließlich eine Treppe aus Waldboden und Holz nach oben. Ich bin heute sehr enttäuscht von Analamazaotra – schon die vierte oder fünfte Gruppe trampelt an uns vorbei, und nicht wenige laufen in engen Jeans, Chucks und Iphone durch den Regenwald, ohne jeden Sinn für Natur oder die Einzigartigkeit dieses Waldes. Und aktuell ist nicht einmal Hochsaison! Der Weg zu den Indris, den schwarz-weißen Riesen unter den Lemuren, führt wieder quer durch den Wald – aber anscheinend scheint das jeden Tag der Fall zu sein, denn der Waldboden ist unglaublich plattgetrampelt. Totholz oder Unterholz gibt es auf dem vorderen Hügel überhaupt nicht mehr – letztes Jahr ist mir das nicht so aufgefallen. Leider begegnen wir auch mehrere ebenfalls querfeldein laufende andere Gruppen, die mit deutlich weniger Rücksicht auf Pflanzen und Tiere durch den Wald rennen. Und das, obwohl die Indris letztlich nicht einmal in Bewegung sind und es gar nicht nötig wäre, außerhalb der angelegten Wege zu laufen. Die Indris sitzen gemütlich rund 30 Meter hoch in den Bäumen und lassen sich Früchte schmecken. Es ist eine Gruppe von fünf Tieren, und von einer freien Schräge lassen sie sich prima beobachten.
Leider wird das Erlebnis getrübt von einer der etwas merkwürdigen Touristengruppen. Darunter einige modische Ausfälle mit schwarzen Michelin-Männchen-Daunenjacken, und meine persönliche Krönung ist ein kleiner, vielleicht achtjähriger Junge, der während dem Spaziergang durch den Wald mit der einen Hand in eine Chipstüte greift. Kino-Vorstellung mit Popcorn? Man könnte es meinen. Von Ökotourismus scheint dieses Szenario meilenweit entfernt… Seit letztem Jahr hat sich die Touristenzahl in diesem Waldgebiet stark erhöht, wobei „hoch“ immernoch eine sehr moderate Zahl ist – und trotzdem sieht man die Auswirkungen dieses Tourismus schon jetzt so deutlich. Andasibe-Mantadia ist wegen seiner recht guten Erreichbarkeit von Tana aus der Nationalpark, in den jeder dritte Madagaskar-Reisende mit Sicherheit fährt. So, wie aktuell mit den Leuten und der Natur umgegangen wird, stellt sich mir allerdings die Frage, wie lange das gut gehen kann. Ich hoffe sehr, dass die Situation nur die vorderen, leicht begehbaren Regionen des Nationalparks betrifft.
Mit sehr nachdenklichen Gedanken laufe ich den flachen Weg zurück zum Park Office. Unser Bus holt uns ab, und wir fahren zurück ins Hotel. Dort angekommen geht es direkt weiter – auf der Terrasse des Restaurants hat sich ein riesiger Seniorentreff angesammelt. Die Terrasse ist komplett voll, und über 90% der Anwesenden sind weit über 60. Nicht, dass man mit 60 nicht mehr in Nationalparks dürfte oder gar könnte – aber das wirkliche Interesse an Natur und der Bevölkerung hier kann ich nicht ganz nachvollziehen, wenn man inmitten des Regenwalds grell geschminkt, mit dickem Schmuck, weißem Lederjäckchen, Pumps und Dauerwelle beim Kaffee sitzt. Ich verkneife mir das Mittagessen und frage stattdessen Rakoto, ob er mir ein Schälchen Honig organisieren kann. Er kommt mit Honig und Löffel zurück – und ich betupfe die Ravenalas neben der Terasse mit kleinen, süßen, klebrigen Flecken davon. Ich hoffe, damit die hier sonst zahllos vorkommenden Phelsumen anlocken zu können. Zwar erscheinen einige Geckos, aber durch die überfüllte Terasse und das damit verbundene Personenaufkommen auf den Wegen trauen sie sich nicht bis zu einer fotografierbaren Höhe. Das bewölkte Wetter mag hier auch seinen Teil beitragen. Stattdessen fliegt mir ein Gecko beim Vorbeilaufen am Restaurant regelrecht entgegen – es ist schon das zweite Tier an diesem Tag. Die Geckos fliegen wohl tief heute.
Ich gehe lieber noch eine Runde draußen spazieren. Rapha spielt mit ein paar Jungs aus der Umgebung Fußball an der Straße, und ich und Tanala fragen ein paar Einheimische, ob sie in den letzten Tagen Chamäleons gesehen haben. Ja, haben sie, und eines sitze sogar nur ein paar Meter weiter im Avocado-Baum. Den finden wir – zugegeben, mit etwas Hilfe – inklusive einem sehr schönen Calumma parsonii cristifer-Männchen. Allerdings sitzt das Tier in gut vier Metern Höhe, und gerade hat niemand eine Leiter zu Hand.
Direkt gegenüber des Hotels liegt Maries Haus. Sie betreibt einen kleinen Souvenirshop nebenan, hat einige Zimmer für Trucker und ist local guide im Nationalpark. Im Souvenirladen kann man Hüte in allen möglichen Farben und Formen kaufen, Postkarten reihen sich an halbe Kokosnüsse mit Stillleben darin, Bast-Tiere, Papier der Antaimoro und und und. Auch ein paar Bücher lassen sich hier günstig erwerben, z.B. Lemurs of Madagascar. In den ersten Stock von Maries Haus befinden sich ein paar Zimmer und ein schmaler Balkon mit zwei winzigen Tischen und dazu passenden Stühlen. Als ich zurückkomme, sitzen Björn, Stefan, Dimby und noch ein paar andere bereits oben. Warum? Ganz einfach, hier gibt es funktionierendes WLAN, französisch Wifi (wird genauso ausgesprochen wie geschrieben). Für kleines Geld erhält man ein Passwort. Nachdem es seit Sambava kein wirkliches Wifi mehr gab, sitzen alle mit ihren Handys und Tablets herum und versuchen, trotz der niedrigen Übertragungsrate Fotos und Nachrichten zu versenden. Nachdem fünf, sechs Leute gleichzeitig offensichtlich das Netz überlasten und jeweils nur einer tatsächlich Wlan hat, bittet Marie uns kurzerhand aufs Dach des Hauses. Dort oben gibt es eine kleine Klo-Kabine, ein Waschbecken und mitten in der Sonne hängt ein Router an der Wand. Ich folge ihr und den anderen die enge Treppe nach oben, stoße mir bei der Gelegenheit den Kopf – und dann sitzen wir zusammen auf dem Dach unter dem Router.
Später trifft man sich zum Abendessen wieder im Feon’ny Ala. Da es noch recht früh ist, laufen Tanala und ich im Dunkeln noch einmal die Straße entlang. Leider ist es sehr trocken und dadurch nicht gerade Froschwetter. Oft hüpfen die Tierchen einem hier über die Füße, wenn man entlang der Straße in Richtung Andasibe läuft. Heute leider nicht. Nichtsdestotrotz finden wir ein Calumma emelinae, das müde auf einem Blatt sitzt, und ein paar winzige Frösche, deren Art sich nicht so genau bestimmen lässt. Es sind wohl noch Jungtiere, und einige Arten haben als solches eine komplett andere Färbung als ausgewachsen. Im Gebüsch finden sich eine Menge Stabschrecken, mit und ohne bunt gefärbte Beine. Irgendwann verschlägt uns der Weg wieder zurück zu den Bungalows, vielleicht sind wir in den nächsten Tagen erfolgreicher.