Ich habe bestens geschlafen. Die Nacht war angenehm kühl und es ist bis auf den leichten Nieselregen am Abend recht trocken geblieben. Tanala will schon um sechs Uhr aufstehen. Aber selbst um Sieben ist in der Gemeinschaftshütte außer den Guides und ein paar Köchen noch keine Menschenseele zu sehen. Ich setze mich auf einer schmalen Bank in die Küchenrunde, und bekomme prompt schon eine Tasse Tee vor die Nase gestellt. Dankbar lächelnd trinke ich einen Schluck. Die Sonne scheint auf den Berg, der heute ausnahmsweise nicht in Wolken gehüllt daliegt. Einer der Köche tippt mich plötzlich an und zeigt in den Wald: Ein blauer Coua sitzt inmitten der fantastischen Regenwaldkulisse. Was ein traumhafter Morgen.
Nestor, Mosesy und etliche andere sind schon seit fünf Uhr unterwegs im Wald. Sie suchen Chamäleons. Gestern habe ich mit Mosesy beim Abendessen in meinem Fieldguide gestöbert, und er hat mir voller Freude jede Menge Tiere gezeigt, die hier vorkommen und die er zu finden hofft. Als ich sagte, dass er das Buch haben kann, wenn wir genug Brookesia vadoni finden, hält er das offenbar für einen Scherz und lacht. Ich frühstücke erstmal. Es gibt auf dem Feuer angeröstetes Baguette mit Palisanderhonig (ein Genuss), Litschi-, Papaya- und Mangomarmelade und einer Mischung aus Rühr- und Spiegelei, alle einzeln zubereitet.
Nach dem Frühstück klettere ich nach unten Richtung Wasserfall, und setze mich erstmal in die „natürlichen Badewannen“ vor der Felskante. Die Sonne scheint warm auf meine Haut, meine von Muskelkater geplagten Beine baden im kühlen Wasser, und ich genieße die Wahnsinnsaussicht mitten in den unberührten Regenwald. Farne wiegen sich in der Brise, Vögel rufen durch den Wald, kleine Orchideen leuchten vor grünem Moos, große, bunte Libellen schweben vorbei, Schmetterlinge flattern von einer Seite des Wasserfalls zur anderen. Ein Diademfalter landet auf meinem Schuh, der neben mir auf dem Felsen steht. Das ist die pure Entspannung.
Gegen Mittag schaue ich ein wenig nach Tieren, und in direkter Umgebung des Camps lässt sich immerhin schonmal ein kleines Nasentier, ein Calumma cf. radamanus, finden. Es hat recht außergewöhnliche Farben mit leuchtenden, hellblauen und grünen Punkten. Bei Calumma radamanus ist aber noch sehr viel ungeklärt, daher handelt es sich auch bei diesem Tier wahrscheinlich um eine noch unbeschriebene Art. Plötzlich ertönt hinter dem Wasserfall lautes Gejohle und Geklatsche. Klatschend und rufend kommen die Guides und etliche Helferlein zwischen den Bäumen hervor. Sie haben ein Pärchen von Brookesia vadoni gefunden, und sind zu Recht irre stolz darauf. Wahnsinn. Die Tiere sind unglaublich hübsch, die reinsten Meisterwerke der Natur. Das Weibchen hat kleine gelbe Pfeile auf ihrem Körper, die nach hinten weisen. Das Männchen ist etwas weniger blau als das vom letzten Jahr, trägt aber genausoviele Stacheln und hat einen genauso hübsch grünen Kopf.
Nachdem unsere Meistersucher wieder in der Nähe sind, werden die Funde zahlreicher: Ein junges Calumma marojezense sitzt an einem Busch, und einige Brookesia griveaudi sitzen im Laub. Man muss sie eben nur finden! Und auch wissen, wo genau man eigentlich suchen soll. Unsere Rucksackträger und auch alle anderen Madagassen im Camp, egal ob Beikoch oder Guide-Anwärter, haben schnell raus, dass die Vazaha sich tatsächlich über alles freuen. Uns so sind schnell alle auf den Beinen und auf der Suche nach Tieren. Hier findet sich noch eine winzige Mantide, da eine bunte Mantella nigricans. Sogar Brookesia karchei, die Winzlinge unter den Chamäleons Marojejys, gibt es in unmittelbarer Nähe zu Camp Marojejya. Das kleine Tier, was ich auf dem Finger halte, sieht irgendwie ganz unproportioniert aus. Als könnten die winzigen Streichholzbeinchen den plumpen Körper gar nicht tragen. Es wird später als Brookesia tedi beschrieben. Während ich das kleine Chamäleon fotografiere, sitzt über mir ein Paradiesschnäpper. Es ist ein Männchen mit einem tollen, langen Federschwanz, der neugierig zuschaut und zwitschert. So bilden sich überall im und rund ums Camp kleine Grüppchen da, wo es etwas Besonderes zu fotografieren gibt. Alle sind im Fotofieber.
Zum Mittagessen kommen alle wieder langsam zusammen. Alle sind schwer beeindruckt von der Artenvielfalt des heiligen Berges. Die Jungs tischen Gemüse auf, mühevoll dekoriert, und Tanala bekommt extra für ihn gekochtes Zebu. Danach gibt es die leckeren, kleinen Bananen, die es nur an der Ostküste gibt und die so herrlich intensiv und süß schmecken. Derweil geht mein Fieldguide durch alle Hände, die Guides schauen die gefundenen Tiere von heute nach und überlegen, was sie noch suchen wollen. Nestor kommt kurz zum Mittagessen aus dem Wald, schaufelt ein bisschen Reis rein und verschwindet gleich wieder. Er hat die Seidensifakas noch nicht gefunden.
Ich widme mich wieder der Fotografie – und dem Entspannen auf den Felsen. Erst kurz vor Sonnenuntergang kommt Nestor mit einem Lächeln aus dem Wald zurück. Er hat die Sifakas gefunden! Leider ist es heute zu spät, um sie noch zu besuchen. Aber sie verschlafen die Nacht nun sowieso an ihrem Ruheplatz, und Nestor wird sie morgen in der Nähe wiederfinden können.
Zum Sonnenuntergang finden sich nach und nach fast alle wieder auf den Felsen ein. Der Blick in den Regenwald ist einfach atemberaubend, der Wasserfall fließt neben einem in die Tiefe. Ich genieße die Natur, und so geht es wohl allen. Schweigend starren mindestens zehn Erwachsene in den Regenwald. Auch die Madagassen können sich dem Zauber nicht entziehen, und der ein oder andere gesellt sich zu uns. Und es ist wirklich toll. Langsam verschwindet die Sonne, und Schattenspiele zeichnen sich in den Bäumen ab. Marojejy hat seine ganz eigene Magie.
Obwohl es bereits beim Abendessen stockfinster ist, ist der Tag noch nicht zu Ende. Mosesy findet an einem Baumstamm einen adulten Uroplatus giganteus und ein total niedliches, weißes Baby der gleichen Art. Ich habe noch nie ein Jungtier dieser riesigen Blattschwanzgeckos gesehen. Es ist völlig ruhig und schon genauso entspannt wie das viel größere Adulttier. Wenige Bäume weiter, kurz unter dem Aufstieg zur Gemeinschaftshütte, findet sich außerdem noch ein Uroplatus sikorae. Selbst ein Geckolepis, ein Fischschuppengecko, findet sich direkt neben meinem Zelt. Und Paroedura gracilis. Es scheint, die Nacht ist erst die richtige Zeit für Geckos.
Später sitzen Lore, Stefan, Martin und ich noch zum Rommé spielen im oberen Teil der Gemeinschaftshütte. Im Kerzenschein und mit Stirnlampen wandern Karten vom Stapel auf Hände und auf den Tisch. Es ist kühl geworden, ich habe meine Fleecejacke angezogen. Plötzlich fliegt etwas in Richtung des Lichts. Es ist klein, grün – und eine Enicophlebia! Ich hüpfe aufgeregt um den Tisch, um das seltene Tierchen einzufangen. Denn genauso schnell wie es kam, so schnell kann es auch wieder wegfliegen. Als ich es vorsichtig auf ein Blatt bugsiert habe, erweisen sich meine Sorgen aber als eher unbegründet. Die kleine Gottesanbeterin mit der wunderschönen Flügelzeichnung bleibt noch länger als eine Stunde sitzen. Die faszinierende Architektur ihrer Flügel erkennt man erst bei näherem Hinschauen, und sie ist grandios. Nur Antippen sollte man sie nicht – dann wird die kleine Mantide sehr flink. Um halb zehn wollen die Jungs so langsam schlafen gehen im unteren Bereich der Hütte, also verlassen auch wir unseren Posten. Ich wandere zurück zu meinem Zelt, und falle sehr schnell in einen tiefen, zufriedenen Schlaf.