In der Nacht hat es reichlich gestürmt und geregnet. Tatsächlich war es gut, die Zelte verschoben zu haben. Etliche große Äste sind abgebrochen und auf die Lichtung gestürzt. Angeluc und Angelin bestätigen, dass auch im übrigen Wald einige Bäume dem Wind nicht standhalten konnten. Überall liegen Äste und Blätter kreuz und quer. Der Campground-Wächter ist bereits mit einer Machete bewaffnet unterwegs, sammelt hier Äste auf und hackt dort einen Ast klein.
Zum Frühstück gibt es leckere Crêpes und Makasoaka. Das Glas, was ich gestern beim Mittagessen übrigens für Sakay gehalten habe, entpuppt sich stattdessen als Erdbeermarmelade. Wo auch immer sie die herbekommen haben. Wahrscheinlich fahren wir die schon seit Tana spazieren.
Heute geht es bei bedecktem Himmel, aber ohne Regen zum großen Wasserfall, der Grande Cascade. Wir folgen dem breiten Fahrweg zu Fuß den Berg hinunter, bleiben aber schon nach wenigen Metern stehen. Auf dem Boden sitzt eine junge Leioheterodon madagascariensis, ein richtiger Schnürsenkel. Ein größeres Exemplar findet sich nur einige Meter weiter, und das ist schon fast armdick. Überhaupt ist heute Tag der Hakennasennattern. Immer wieder begegnen uns auf dem Weg kleine und große Tiere der Art. Sie sind wohl auf der Suche nach Beute, die vom Regen aufgeschreckt wurde. Eine Leioheterodon beobachten wir dabei, wie sie mit ihrer namensgebenden aufgeworfenen Nase gerade den Boden durchpflügt und offenbar sehr intensiv nach einem Beutetier sucht. Sie lässt sich durch uns vorbeigehende Neugierige kaum stören. Unsere Phelsumenfreaks löchern derweil Angeluc, ob man hier wohl Phelsuma dorsivittata sehen kann. Und wo die eigentlich ihre Eier legen? „Under bark“, meint Angeluc, und tritt zu einem Baum mit groben Rindenplatten. Geschickt löst er ein Stück Rinde, und direkt darunter finden sich zwei an den Baumstamm geklebte Taggecko-Eier. Ich bin verblüfft. Woher wusste Angeluc, dass genau an dieser Stelle zwei Eier kleben? Nur Glück? Ich grübele ein bisschen darüber nach, während ich weiter schlendere.
Ich folge dem Weg, bis wir an einer Kreuzung abbiegen. Direkt an der Abzweigung klettert gerade ein grünes Calumma amber-Weibchen eine gewundene Liane nach oben. Sie ist vom Fotografieren so empört, dass sie ihre Occipitallappen abspreizt und wütend faucht. Wir lassen sie schnell wieder in Ruhe. Gegenüber gibt es noch ein Erdchamäleon zu entdecken, das langsam in Richtung eines umgefallenen Baumstammes wackelt. Apropos umgefallener Baumstamm. Hinter einer Kurve versperrt ein umgefallener Baumstamm den Weg. Der mächtige, riesige Baum hat Unmengen Farne, darunter auch einige kiloschwere Nestfarne, mit auf den Boden gerissen. Bei einigen davon, die gute drei Meter im Durchmesser haben, hatte ich mich schon immer gewundert, wie die Bäume das Gewicht aushalten. Tun sie offenbar nicht, wenn noch Sturm dazu kommt. Am Wegesrand hat jemand schon mit einer Axt einen winzigen Weg gehackt. Ich klettere also durch die querliegende Krone des Baumes auf die andere Seite. José entdeckt plötlzich einen riesigen Frosch, eher eine Kröte. Angeluc freut sich über den Fund, denn die Art Platypelis grandis sieht er selten. Das dicke Tier ist wohl mit einem der riesigen Farne vom Baum gefallen. Es plustert sich auf und sitzt mit aufgeblasenen Backen und plötzlich riesigem Bauch auf der Erde. Kommt man einen Schritt näher, ertönen skurrile Quäklaute.
Unsere Glückssträhne von gestern hält auch heute Vormittag an. Blattschwanzgeckos und Erdchamäleons können wir bewundern, auch ein Phelsuma dorsivittata lässt sich blicken. Langsam wird der Weg nach unten etwas steiler, aber es ist trotz des Regens in der Nacht relativ trocken. Die dunklen Steine, auf denen man wie auf Schmierseife ausrutschen kann, sind einigermaßen begehbar. Dann geht der Weg irgendwo nach links, und führt auf eine kleine, betonierte Plattform. Von hier hat man freien Blick auf den großen Wasserfall, der eingebettet mitten im Regenwald liegt. Eine tolle Aussicht. Leider muss ich gerade jetzt auf Toilette. Steffi auch, und so suchen wir uns ein kleines Stück Gebüsch und hoffen auf wenig Blutegel. Weniger geplant ist, dass genau in diesem Augenblick ein junger Mann vorbeiläuft – wo um Gottes Willen kommt der denn jetzt her? Mitten im Regenwald, seit Stunden sind wir niemandem begegnet. Aber kaum sitzt man mit blankem Hintern im Wald… naja, egal.
Nach der kleinen Pause treten wir den Rückweg an. Ging der Weg bisher nur nach unten, müssen wir jetzt alles wieder hinauf. Und das zieht sich! Aber es ist angenehm kühl, ich habe eine relativ dünne Hose an, und dadurch wird der Marsch zurück zum Campground sehr erträglich, wenn auch verschwitzt. Der Weg besteht praktisch nur aus Baumwurzeln, die sich aneinander reihen. Und die gehen einfach endlos bergauf. Aber keiner will zugeben, dass das schon irgendwie anstrengend ist, für uns untrainierte Couchpotatoes. Wer eine Verschnaufpause braucht, steht also wichtig ins Gebüsch schauend am Wegesrand und „guckt nach Tieren“. Tatsächlich gibt es irgendwo noch eines zu sehen: Ein perfekt getarnter Uroplatus sikorae sitzt an einem Stamm, und ich erkenne ihn erst auf den zehnten Blick. Oder den elften. Und bin froh, dass ihn überhaupt jemand entdeckt hat. Schließlich verschafft mir das eine weitere Verschnaufpause…
Als wir ins Camp zurück kommen, ist schon später Nachmittag. Ich verbringe die übrigen hellen Stunden in der Küche und helfe beim Kochen. Wenn man das Helfen nennen kann.
Als es dunkel wird, ziehe ich nochmal zur Chamäleonsuche los. Wieder sind sehr viele Calumma linotum im niedrigen Gebüsch, und einige Meter über meinem Kopf findet sich ein Calumma ambreense, ein schüchternes, aber hübsches Weibchen. Und auch schlafende Erdchamäleons sind heute wieder viele vertreten. Das niedlichste Chamäleon entdecke ich aber wieder da, wo gestern bereits eines gleichen Alters und gleicher Art saß. Es ist ein vielleicht ein paar Wochen altes Calumma ambreense, ganz orange gefärbt. Und es sitzt auf einem so dünnen Grashalm, dass ich Angst habe, es beim Fotografieren einfach aus Versehen umzupusten. Zum Glück wiegt sich der Grashalm nur ein bisschen im Wind, und das Baby lässt sich kaum stören. Langsam bewege ich mich weiter. Ich leuchte mit der Stirnlampe abwechselnd auf den Boden, um nicht irgendein Babychamäleon zu übersehen, und in den Wald rechts und links des Weges. Systematisch gehe ich Äste, Gräser und Baumstämme mit dem Lichtkegel ab, und suche nach hell herausleuchtenden Flecken. Das sind nämlich meist Chamäleons. Und wenn ab und zu ein Frosch oder ein Gecko auftaucht, ist mir das auch Recht.
An einem Stück loser Rinde sitzt ein weiterer Uroplatus finiavana. Anscheinend hatten die in der letzten Regenzeit eine enorm gute Nachzuchtsaison, ist ja unglaublich, wie viele davon an nur zwei Tagen herumlaufen! Der Gecko ist gräulichbraun und trägt beige Tarnflecken. Nur sein Schwanz fehlt ihm schon, nur ein winziges Regenerat beginnt gerade, aus dem Stumpf zu wachsen. Außerdem ist der Gecko gerade in Häutung, was ihm etliche milchige Flecken verleiht, wo sich die alte von der neuen Haut löst. Dafür hat er tolle orangefarbene Augen.
Als ich später zum Campground zurück komme, tönt lautes Singen aus der Küche. Die Jungs haben irgendwo eine Gitarre aufgetrieben, und dazu wird laut gesungen. Sehr laut. Und schräg. Neben der Küche liegt außerdem ein beachtlicher Berg THB- und Rumflaschen. Ich bin zu müde zum Singen, und setze mich nur einen Moment daneben, um die Musik und die gute Stimmung zu genießen. So geht ein grandioser Urlaub zu Ende.
Der Abend hält noch eine Überraschung bereit. Ich wache irgendwann auf, als es um mein Zelt schnüffelt. Meines Wissens gibt es hier aber keinen Hund mehr. Ich lausche, und höre es wenige Zentimeter vor meinem Kopf wieder leise Schnüffeln. Eben genau, als ob ein Hund um das Zelt läuft. Tanala ist auch wach, und muss dank diverser THB nochmal auf Toilette. Eigentlich muss man dazu einmal quer über den Campground laufen. Man könnte sich dazu anziehen, aber wenn es dunkel ist und niemand außer einem selbst wach, kann man schonmal auf die Idee kommen, in Boxershorts und Trekkingschuhen rüber zu laufen. Bei arschkalten 17°C. Weit kommt Tanala allerdings nicht. Eine ausgewachsene Fossa steht vor ihm, direkt vor unserem Zelt. Wer mehr über die nächtliche Begegnung erschrocken ist, kann man nicht so genau sagen. Für Sekunden starren beide sich an, bis die Fossa ein grunzendes Geräusch von sich gibt und in den Wald davon läuft.