Südwesten 2017

Madama Berthes Mausmaki

Larvensifaka
Larvensifaka

Eigentlich wollten wir uns heute Morgen um halb Sieben im Restaurant treffen. Ich schaffe es kaum aus dem Bett und bin immer noch unendlich müde, als ich auf einem Stuhl sitze und das erste Wasser des Tages trinke. Ich hänge eher auf dem Stuhl. Und ich habe Durst, als hätte ich seit Tagen nichts getrunken. Dabei habe ich in Kirindy bereits am Ankunftstag mit den anderen die gesamten Cola-Vorräte der Küche geleert (ich war mit 18 Flaschen beteiligt) und auch unsere mitgebrachten Kisten neigen sich dem Ende zu. Rustikal übrigens, die Sache mit dem Klo in den Bungalows. Hatte ich ja noch gar nicht erwähnt. Sehr rustikal. Jetzt weiß ich wieder, wie schön so eine Wasserspülung auf Tastendruck zu Hause ist.

Den anderen geht es wohl ähnlich heute morgen. Erst irgendwann vor Acht tauchen die ersten Gesichter im Restaurant auf, nur Dimby und José sind immerhin nur 30 Minuten zu spät. Für Madagassen gilt das noch als pünktlich. Als endlich alle um den Restauranttisch sitzen, tragen die Jungs des Restaurants ihr selbst gemachtes Brot auf. Ich habe den Honig aus dem Dorf vor Kirindy mitgebracht, und gieße ihn mir großzügig über das Brot. Ein Genuss. Dazu gibt es die letzte kalte Cola aus meiner Chilly’s bottle – übrigens bisher die einzige Flasche, die es bei dieser Hitze schafft, eine kalte Cola über 24 Stunden auch wirklich kalt zu halten und nicht zu einer fiesen, suppenwarmen Brühe werden zu lassen.

Gestärkt vom Frühstück geht es wieder in den Wald von Kirindy. Christian war über Nacht unterwegs, und hat schonmal im Wald nach Tieren gesucht. Wir laufen direkt vom Campground los, einen breiten, befahrbaren Weg an den Planquadraten entlang. Schmetterlinge sitzen an feuchten Lehmstellen, sie scheinen an Mineralien zu lecken. Erst nach guten 20 Minuten lotst Christian uns in den Trockenwald, auf die schmalen, schnurgeraden Pfade. Wir schlendern heute eher gemütlich, bewundern kleine Orchideen und einen großen, etwas speziellen Baobab. Speziell meint vor allem die Form eines einzelnen Auswuchs des riesigen Baums, der aussieht wie ein Penis. Der passt allerdings prächtig zu den Statuen, die sich im Camp auf halbem Weg zwischen Restaurant und Bungalows befinden.

Christian möchte uns heute die Larvensifakas von Kirindy zeigen, die wir bisher nicht zu Gesicht bekommen haben. Tatsächlich finden wir die weißen, bärchenhaften Lemuren in Mitten dichten Gestrüpps. Wer mag, kann sich einen Weg querfeldein suchen, um einen besseren Fotowinkel zu bekommen. Ich quetsche mich also zwischen langen, dünnen Bäumchen durch – eine Liane flitscht mir ins Gesicht – und an Spinnweben vorbei durch ein Geflecht aus Unmengen dürrer Äste und Rankpflanzen. Aber dafür stehe ich plötzlich direkt unter den Sifakas.

Nach einer Weile kommen sie sogar näher, und schließlich sitzt einer der Larvensifakas keine zwei Meter vor mir entfernt auf einem Baum und mümmelt genüsslich an grünen Blättern. Sein cremefarbenes Fell sieht fluffig und weich aus, und seine dunklen, lederartigen Handflächen pflücken geschickt Leckereien aus dem Baum. Außerdem trägt der Baum grüne Früchte, die offenbar sehr gut schmecken. Die Sifakas unternehmen allerlei Akrobatik, um an die Früchte zu kommen. Es sind sieben oder acht Tiere, und sie sind kaum scheu. Geduldig beobachten sie uns, und stören sich auch an Fotos gar nicht. Manche Tiere sind neugieriger und trauen sich relativ nahe heran, um die im Gebüsch versteckten Vazaha eingehend zu begutachten.

Larvensifaka

Larvensifaka

Ich kann nicht sagen, wie lange wir bei den Larvensifakas verbringen. Mir kommt es wie fünf Minuten vor, aber wahrscheinlich war es wesentlich länger. Einige hundert weiter entdecken wir nochmal rote Makis in den Baumkronen. Aber sie sind weit über uns, und springen nur kurz vorbei. Ich mache ein paar Aufnahmen mit der 360°-Kamera im Wald, wobei es eine Kunst ist, irgendwie bei einem Video ruhig sitzen zu bleiben. Sobald man irgendwo still stehen bleibt, kommen die Stechmücken.

Kurz bevor wir zurück auf den breiten Fahrweg treten, entdeckt Christian noch ein Furcifer labordi-Weibchen im niedrigen Gebüsch. Es ist ein wunderschönes Weibchen, mit blauen und roten Tupfen auf Grün. Das kleine Chamäleon ist mehr als farbenfroh, nur leider wie alle Reptilien hier enorm schnell unterwegs. Ein Foto zu bekommen, wird zur Kunst.

Furcifer labordi
Furcifer labordi

Mittags versammeln wir uns zu den täglichen Nudeln unter dem Blätterdach des Restaurants. Nebenbei erfahre ich, dass die riesige Portion Spaghetti hier ganze 20.000 Ariary kostet, was rund sieben Euro entspricht und für Madagaskar echt teuer ist. Warum es so teuer ist, kann ich nicht ergründen – vermutlich sind einfach genügend Touristen da. Die wenigsten übernachten hier auch. Die meisten kommen quasi als Reisebusgesellschaft von der Baobab-Allee, machen die typischen Tourifotos und dann noch einen zwei-Stunden-Abstecher nach Kirindy, während dem sie schwitzend durch den Wald tingeln und in der kurzen Zeit maximal ein paar Madagaskarleguane sehen. Vom wahren Zauber des Waldes bekommt man so wohl eher nichts mit. Gut, von der rustikalen Toilettenproblematik auch nicht.

Am Nachmittag beschränkt sich die Tiersuche wegen der unglaublichen Hitze auf den Trockenwald rund ums und im Camp. José entdeckt eine junge Madagasacrophis colubrinus und Christian entdeckt noch ein zweites Furcifer labordi-Weibchen auf dem Weg zur Eiablage.

Für die Gecko-Freunde findet sich noch ein Fischschuppengecko – bei diesen Tieren muss man sehr vorsichtig sein, denn fasst man sie an, werfen sie blitzschnell ihr Schuppenkleid ab und laufen mit nackter rosa Haut weiter. Etwas robuster ist da der große Blaesodactylus sakalava, den Christian findet.  Wegen der verschiedenen Reptilien beschließen wir, verschiedene kleine „Foto Spots“ zu basteln, damit jedes Tier genügend Aufmerksamkeit bekommt und alle gleichzeitig fotografieren können. Tanala, Dimby und ich probieren ein wenig mit verschiedenen Blitzeinstellungen und der Nutzung mehrere Blitze gleichzeitig herum. Und selbst das ist derart schweißtreibend in der Hitze von Kirindy, das wir über den Nachmittag mehrere Liter Wasser vernichten. Eine junge Frau bringt uns Wasser in einem grünen Eimer zum Bungalow, da die Wasserleitungen immer noch nicht funktionieren.

Blaeodactylus

Alexandre widmet sich dem größten Gecko zuerst. Er setzt den Blaesodactylus vorsichtig auf einen Baum. „Be careful, these geckos are really quick!”, sage ich noch. Wenige Minuten später kommt Alexandre zu unserem Fotopunkt, und meint etwas bedröppelt: „The gecko is gone…I’ve put him on the tree, and bsssss…. He was gone up to the tree top.“ Zumindest können alle darüber lachen.

Am späten Nachmittag versammeln sich wieder alle im Restaurant. Nach einer Weile werde ich auf ein paar Männer aufmerksam, die neben einem Stapel Holz stehen. Eigentlich wollten sie es wohl gerade einsammeln und mitnehmen, aber aus irgendeinem Grund trauen sie sich nicht. Immer wieder zeigt einer der Männer über seinen Kopf an einen Baumstamm, und offenbar hat er Angst vor dem, was da krabbelt. Muss ein Reptil sein. Eine große Schlange? Neugierig laufe ich hin, und entdecke ein riesiges Furcifer oustaleti. Ein richtiger Brummer. Er krabbelt gerade den Baumstamm nach oben – und sorgt für reichlich ängstliche Blicke unter den Männern. Ich bugsiere das Chamäleonmännchen vorsichtig auf einen dicken Ast, um ein paar Fotos zu schießen. Als ich den Ast langsam nach unten nehme, rennen ein paar der Männer quietschend weg, um sich das Ganze aus einigen Metern Entfernung anzusehen. Dass ein großes Chamäleon so ein Aufsehen erregen kann…?

Furcifer oustaleti
Furcifer oustaleti

Nach dem Abendessen brechen wir nochmal für eine Nachtwanderung auf. Wie am ersten Tag bringen uns die beiden Geländewagen tief in den Wald von Kirindy. Mitten auf einem Weg steigen wir aus. Es ist so dunkel, dass ich meine Hände außerhalb des Lichtkegels der Stirnlampe nicht mehr sehe. Das Gras reicht bis zur Motorhaube der Autos, viele Besucher scheinen hier in letzter Zeit nicht gewesen zu sein.

Wir tauchen ein in den dunklen Wald, und folgen den Pfaden. Im Zickzack bewegen wir uns durch das Labyrinth des Trockenwaldes. Für mich sieht im Dunkeln fast alles gleich aus, und innerhalb von Minuten habe ich jegliche Orientierung verloren. Der Boden hier liegt voller Äste, Blätter und halber Baumstämme und ich muss wahnsinnig aufpassen, nicht in eines der vielen Löcher im Boden zu treten. Außerdem scheinen die Pfade hier viel schmaler als in den Teilen des Waldes, in denen wir bisher unterwegs waren. Äste streifen an meinen Armen entlang, und eine der vielen Spinnen lässt sich auf Christians Rucksack herunter.

Christian will uns speziell in diesem Teil des Waldes einige nachtaktive Lemuren zeigen. Immer wieder bewegt er sich leise den Pfad entlang und leuchtet mit der Taschenlampe ins Gebüsch, während wir auf ihn kurz warten. Dann deutet er plötzlich mit der Lampe in ein Gebüsch direkt über seinem Kopf: Ein kleiner, grauer Fettschwanzmaki mit riesigen schwarzen Augen sitzt darin, und starrt uns neugierig an. Ein wirklich niedliches Tier, und ohne das Tele-Objektiv hätte ich wahrscheinlich kein Foto bekommen. Schließlich springt er flink auf einen Ast gegenüber und verschwindet. Endlich lohnen sich die vielen Kilo Objektiv und Kamera, die ich hier seit Tagen auf dem Arm rumschleppe.

Cheirogaleus medius
Fettschwanzmaki

Irgendwo hinter dem Fettschwanzmaki ist plötzlich der Rest der Gruppe verschwunden. Der Weg gabelt sich in zwei Trampelpfade auf, von denen weder ich noch Dimby wissen, welcher überhaupt ein Weg sein soll. Und wo wir lang laufen sollen? Wir rufen nach den anderen, und irgendwoher ruft Christian zurück. Leider kann ich nicht zuordnen, aus welcher Richtung die Rufe kommen. Nach einigen erfolglosen Versuchen, irgendwo im Dickicht den richtigen Weg wiederzufinden, kommt Christian schließlich zurückgelaufen. Er kommt aus einer Richtung, wo ich nicht mal einen Weg erkannt hätte, denn mittig steht ein Baum mit gespaltenem Stamm, der den Trampelpfad dahinter vollständig verdeckt. Alleine würde ich mich hier wahrscheinlich in kürzester Zeit völlig verlaufen.

Plötzlich ist Christian ganz aufgeregt: Er hat Madame Berthes Mausmaki gefunden, den kleinsten Primaten der Welt. Es ist ein Männchen, winzig und vielleicht geschätzte 30g leicht. Er sitzt gute zehn Meter über uns in einem Baum, nur ein bisschen rotes Fell und große Ohren kann man erahnen. Trotzdem ist es faszinierend, das kleine Tier zu beobachten. Madame Berthes Mausmaki kommt nur hier in Kirindy vor – es ist tatsächlich ein zauberhafter Wald voller Seltenheiten, die es nur hier gibt. Madame Berthe Rakotosamimanana war übrigens eine nette, madagassische Anthropologin, die sich in ihrem Leben aber lieber den Lemuren widmete. Sie begründete die Groupe d’Etude et de Recherche sur les Primates de Madagascar (GERP) und den ersten internationalen Lemurenkongress. Man munkelt außerdem, dass die nicht-madagassische Primatologin Alison Jolly sie über Jahre den Tiger von Antananarivo nannte, weil sie vor vielen Jahrzehnten ausländischen Forschern regelmäßig Visa verweigern musste.

Madame Berthes Mausmaki
Madame Berthes Mausmaki

Die Nachtwanderung geht noch lange weiter. Nach guten drei Stunden – auch heute Abend ist es übrigens noch über 30°C warm im Wald – wird der Marsch langsam anstrengend. Leider trete ich auch noch in irgendein Erdloch und knicke mit dem Fuß um, als ich gerade nach einem magpie robin schaue. Das ist irgendeine madagassische Drossel. Ab da humpele ich den anderen hinterher, aber zum Glück ist es auch nicht mehr weit. Ich bin klatschnass geschwitzt und müde. So geht es allen. Als wir endlich aus dem Wald treten und im Dunklen die beiden Geländewagen wiederfinden, sind alle erleichtert. Erschöpft setze ich mich auf die Rückbank und döse vor mich hin, bis wir wieder im Camp eintreffen. Ich gehe auf direktem Weg ins Bett. Die Schöpfkellen-Dusche und auch das Bier muss heute ausfallen. Ich verstaue noch die Kamera im Rucksack – natürlich habe ich die 15 kg schön durch den ganzen Wald getragen. Aber es hat sich gelohnt! Ich falle ins Bett und schlafe wie ein Stein.

Veröffentlicht von Alex

Alex ist 35 Jahre alt, wohnt in der Nähe von Mainz und ist im echten Leben fernab des Urlaubs Tierarzt mit Faible für Reptilien. Sie fotografiert und reist gerne - so entstand auch dieser Blog. Nebenbei hält sie selbst Chamäleons zu Hause, schreibt an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, betreibt ein kostenloses OnlineMagazin und erstellt Malbücher für madagassische Kinder.

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