Als ich aufstehe, ist der See relativ ruhig. Der Sturm hat sich gelegt, es regnet mäßig. Die Lemuren sind wieder unterwegs, der Zyklon scheint also vorbei zu sein. Rattie, das unförmig große graue Hybridenweibchen, versucht gemeinsam mit einem braunen Maki-Männchen namens Houdini, Bananen von der Terrasse zu klauen. (Pro-Tipp: Als Tierarzt darf man Namen vergeben, wenn man die Tierchen kennzeichnet.) Sonst ist weit und breit niemand in Sichtweite.
Die Kieswege sind voller abgebrochener Äste und Blätter. Der Zyklon hat aber entgegen aller Befürchtungen nicht ganz so schlimm gewütet wie befürchtet – oder zumindest hier nicht. Zwar steht der See immer noch sehr hoch, aber auf den Treppenstufen ist er nicht mehr und auch der Wind weht inzwischen wieder „ganz normal“. Da wir heute zügig aufbrechen wollen, gibt es ausnahmsweise kein Frühstück.
Die deutsche Fremdschäm-Truppe ist offenbar eher spät wach. Nur im Vorbeigehen sehe ich beim Verabschieden noch eine rote Badehose aus den Augenwinkeln ins Restaurant flitzen. Am See ist das Wasser immer noch so hoch, dass wir direkt über den kaputten vorderen Steg einsteigen können. Das Boot schwankt leicht vor sich hin und der Bootsmann ist bemüht, es wegen der ungewohnt starken Strömung beim Anfahren nicht an die Betonwand neben dem Steg schlagen zu lassen.
Tatsächlich ist das Wasser sehr ruhig. Der See hat kaum noch Wellen. Dafür steht das Wasser noch extrem hoch, als wir in den Canal des Pangalanes einbiegen. Der Kanal ist gut doppelt so breit wie sonst, kein Grün schaut mehr aus dem Wasser, und das Boot liegt ungewöhnlich hoch im Gegensatz zum umliegenden Ufer. Der Bootsmann berichtet derweil, dass er gestern bei der Fahrt im Unwetter ein Krokodil im Kanal gesehen haben will. Das beruhigt ungemein, wenn man doch schon reichlich oft im anhängenden See schwimmen war. Wobei man natürlich sagen muss, dass mir die Existenz des Krokodilsees ein paar Hundert Meter hinter dem See schon bewusst war – und na gut, Krokodile haben Füße und können rüber laufen. Der Zyklon hat da vielleicht nur ein bisschen mit Wasser nachgeholfen.
Als wir auf den See der Könige fahren, verdunkelt sich der Himmel. Tiefe, dunkle Wolken hängen über dem See. Zum Glück ist es nur Sprühregen und kein Sturm, durch den wir uns langsam auf das Ufer zu bewegen. Ich ziehe Tanalas Baumtarn-Regenjacke tief ins Gesicht. Am Strand des Acasias lässt der Bootsmann die Filo II seitlich antreiben, um die Strömung zu nutzen und nicht entgegen der Wellen fahren zu müssen. Das klappt ganz gut, jedenfalls landen wir sicher am Strand und steigen bald in die schon wartenden Starex mit unseren neuen Fahrern Hery und Aina um. Markus, Martin, Tanala und ich fahren mit Hery, Aina fährt mit den anderen zusammen vor.
Die Lateritpiste durch Manambato und aus dem Dorf heraus ist bereits unglaublich rutschig. Ständig rutscht das Auto hin und her, ab und zu drehen die Reifen kurz durch. Nasser Laterit ist spiegelglatt – bei der Piste ist es also kein Wunder, dass wir eher langsam vorankommen. Hinter Manambato erwarten uns dann die sieben Kilometer bis zur RN2. Sie werden unsagbar lang. Die erste größere Überraschung – abgesehen von der spiegelglatten Rutschpartiepiste – steht uns am Fluss bevor, der normalerweise gerade einmal knöcheltief ist und kristallklar leise dahin plätschert. Der Zyklon hat ganze Arbeit geleistet: Aus dem sonst so ruhigen Flüsschen ist ein gut zwei Meter hoher, grünbrauner Fluss mit erstaunlicher Fließgeschwindigkeit geworden. Gut, da geht’s wohl mit gar keinem Auto durch. Auch die Landrover, die hinter uns fahren, wählen lieber die Holzbrücke. Holzbrücke ist allerdings eher euphemistisch. Die Brücke ist eine Holzkonstruktion mit wackeligen und rumpelnden Bohlen, von denen sicher nicht alle noch intakt sind.
Hery zuckt mit den Schultern, deutet mit dem Finger auf die Brücke und meint auf Madagassisch „Die wird uns schon aushalten!“ Aha. Wir nähern uns also dem Holzgestell, das im Wasser bedenklich wankt… und rumpeln tatsächlich darüber. Schneller als gedacht. Und heil. Direkt dahinter kommen wir allerdings auch nicht weit. Nach vielleicht fünfzig Metern bleibt Aina vor uns in einem Lateritloch stecken. Die beiden Landrover halten an und eine Hand voll Madagassen steigt aus. Dankenswerterweise packen sofort alle mit an und schieben den Starex mit vereinten Kräften wieder gerade auf die Piste. Hery nimmt etwas mehr Anlauf mit unserem Auto und rutscht dadurch einfach durch das Loch hindurch.
Weiter geht die schlitternde Fahrt. Wenig später steckt Aina erneut fest, diesmal in einer eigentlich wirklich nicht so großen Senke an einem seichten Hügel, an dem es leider auch ein paar größere Steine im Boden gibt. Die Insassen des Starex steigen aus, die Reifen drehen durch und spritzen nassen, roten Laterit durch die Gegend. Die ersten Smartphones werden gezückt, um Videos aufzunehmen. Das glaubt einem ja eh wieder keiner daheim! Hery lässt uns ebenfalls aussteigen und rollt eine ganze Strecke rückwärts. Dann steigt er aus, um Aina vorne schieben zu helfen. Auch die beiden Landrover samt Fahrer und Mitfahrer sind wieder dabei. Ein paar Zebus laufen vorbei. Selbst zu Fuß ist es auf dem glatten Boden schon schwierig, den Rindern auszuweichen. Bevor geschoben wird, wird irgendwas an den Hinterreifen von Ainas Starex gefummelt. Nach einer ganzen Weile schieben, schuckeln, Gas geben und heulendem Motor ist er dann endlich wieder auf dem Weg den seichten Hügel hinauf.
Hery hat für sich eine andere Strategie im Kopf: Er gibt Vollgas, um dann mit Schwung – und einem krachenden Aufsetzen des Autos – über die Lateritsuhle und die Steine zu schlittern. Wieder einsteigen! Dann geht es den Hügel hinauf und etwas steiler nach oben. Leider haben uns die beiden Landrover inzwischen überholt…na super, jetzt sind auch noch unsere Helfer weg. Und nach uns kommt niemand mehr. Jetzt müssen wir wohl alleine schieben, wenn wir wieder festhängen. Tatsächlich geht es rutschend und krachend weiter, der Starex setzt noch mehr als einmal auf. Ein paar Pfützen haben sich zu kleinen Seen gewandelt, aber selbst die schaffen die Autos relativ gut.
Nach gut zwei Stunden erreichen wir die RN2. Alle sind erleichtert. Dimby ist angespannt: Es ist noch nicht klar, ob die RN2 überhaupt bis Tamatave durchgehend befahrbar sein wird. Zumindest haben wir noch nichts gegenteiliges gehört. Aber es kam uns auch noch niemand entgegen. Erst als ein dunkelblauer Toyota uns winkt und der Fahrer berichtet, dass er gerade aus Tamatave kommt, entspannt sich die Lage.
Schon nach wenigen Metern auf dem Asphalt wird klar: Der Zyklon hat hier nicht nur ein bisschen gewütet. Links und rechts der Straße ist alles überschwemmt. Die unendlichen Ravenalas, die die Straße entlang der Ostküste flankieren, stehen metertief im Wasser. Die beiden Malteser, die mit uns aufgebrochen sind, aber an der RN2 in die andere Richtung abgebogen waren, stranden nach kurzer Fahrt in Brickaville. Die Straße nach Andasibe ist an vier Stellen überschwemmt und von mehreren Erdrutschen blockiert. José schickt Videos von Pirogen auf der RN2. Unsere Seite der Route Nationale ist jedoch von Pirogen auch nicht mehr weit entfernt. An vielen Stellen steht der Wasserpegel nur sehr knapp unterhalb der Straße.
Nur wenige Fahrzeuge begegnen uns auf der Straße. Gespenstisch ausgestorben wirkt das Land, dazu ein wolkenverhangener, düsterer Himmel. An einigen Stellen wird mir mulmig: Ganze Hütten stehen unter Wasser, nur noch der Giebel schaut heraus. Hier haben Menschen, die sowieso nicht viel besaßen, auch das Wenige einfach an einem Tag verloren. Wie schnell und unvorbereitet das auf Madagaskar geht, sehe ich heute überall am Straßenrand. Wir durchfahren mehrere Stellen, an denen das Wasser einfach bis auf die Straße steht. Wenn hier untendrunter die Straße wegbrechen würde, niemand würde es so schnell merken…
Die Strömung der Wassermassen, die sich neben der Straße wälzen, ist wirklich enorm. Wo der Fluss kurz vor Tamatave tatsächlich läuft und was dem Hochwasser geschuldet ist, lässt sich stellenweise überhaupt nicht erkennen. Normalerweise verläuft der Fluss mal links, mal rechts der Straße. Heute ist alles eine einzige Wasserfläche. Die Gewalt der Natur zeigt hier ihr ganzes zerstörerisches Ausmaß. In einem Dorf läuft das Wasser mit erstaunlicher Strömung direkt über die Straße. Kinder spielen am Rand des Wassers, Männer beladen ein Taxibrousse mit triefend nassen LKW-Reifen. Mehrfach werden wir vor Toamasina an Kontrollposten angehalten. Ein dicker Polizist fragt Hery nach Zyklonschäden. Der zweite Polizist schleicht mit geschultertem Mascinengewehr um unser zweites Auto, lugt hinein und will dann alle Pässe sehen. Wir sehen offenbar weniger verdächtig aus, bei uns im Auto muss niemand seinen Pass vorzeigen.
Schließlich erreichen wir Toamasina (Tamatave). Es ist überfüllt, chaotisch und dreckig. Ein bisschen beruhigend, dass die Stadt den Zyklon relativ heil überlebt hat. Hier liegen zwar auch überall Palmwedel herum, Äste und Blätter bedecken die Wege. Aber den Trubel des Alltags hat der Zyklon nicht erreicht. Es ist Sonntag heute und viele Madagassen sind in ihren schicksten Klamotten unterwegs. Wir halten vor einem Restaurant, in dem erstaunlich viele ältere Franzosen zu Mittag essen, die irgendwie schwer nach desertierten Fremdenlegionären aussehen. Der Besitzer ist freundlich und organisiert super leckere Pizza für alle. Es ist inzwischen unglaublich heiß. Die Wolkendecke ist aufgerissen und die Sonne strahlt vom blauen Himmel. Der Regen hat sich endgültig verzogen. Das Wlan im Restaurant ist sensationell schnell für Madagaskar, weshalb nach kurzer Zeit alle in ihr Handy gucken. Naja, das wird sich nachher wieder von selbst erledigen.
Endlich starten wir nach Mahambo. Die Straße, es ist die RN5 in Richtung Norden, ist eine Katastrophe. Eigentlich besteht sie mehr aus Loch als aus Asphalt – vermutlich auch nicht erst seit Zyklon Eliakim. Erst kurz vor Mahavelona finden sich die ersten durchgehenden 500 Meter Straße ohne riesige Schlaglöcher oder brutal scharfe Kanten.
Im Dunkeln erreichen wir Mahambo, die Straße ist inzwischen einem sehr breiten Sandweg gewichen. Mahambo ist ein Dorf direkt am Meer gelegen, mit wunderschönen weißen Stränden. Und Hitze. Zum Hotel führt ein schmaler Weg quer durch Vegetation bis direkt ans Meer. Als wir das Hotel schon erahnen können, versperrt eine schräg hängende Palme den Weg. Dimby gibt über Funkgerät aus Ainas Auto unserem Starex Anweisungen. „Passt, passt, etwas weiter links… ja, geht.“ Der rumpelige Pfad führt zu einem Parkplatz, auf dem bereits einige Quads stehen. Die Anlage des Hotels sieht sturmgebeutelt aus – überall liegen ganze Palmwedel, der Rasen ist von Blättern bedeckt. Ich bewohne mit Tanala Bungalow 10. Als ich das Licht anmache, flitzen Kakerlaken davon. Das ist bei der Hitze in den Tropen nicht ungewöhnlich. Termiten gibt es hier auch reichlich, wie ich an Hand des feinen Staubs im ganzen Raum feststellen kann.
Martin und Markus haben derweil eine Monsterkakerlake (naja, tatsächlich ist es wohl „nur“ eine gigantische Wasserwanze) vor ihrem Bungalow entdeckt. Nach und nach versammeln sich alle im Restaurant. Wir befinden uns offenbar ganz klar in der Nebensaison, denn der größte Teil des Raums ist mit Möbeln und einem Tischkicker vollgestellt. Es ist unglaublich heiß, dazu hat Mahambo eine extrem hohe Luftfeuchte. Ohne auch nur einen Finger zu rühren, perlt der Schweiß von meinen Armen. Das Abendessen fällt kurz auf, alle sind geschafft vom langen Tag und wollen früh ins Bett. Außerdem ist nur bis zehn Uhr Strom an, man sollte sich also beeilen, wenn man in der kühlenden Luft des Ventilators noch einschlafen will.