Norden 2019

Miniaturwunder und Duschen mit Huntsman

Phelsuma kochi
Phelsuma kochi

Als der erste Hahn kräht, ist es noch stockfinster. Hahn zwei, drei und vier machen es ihm nach und krähen durch die Finsternis. Dadurch wird es aber immer noch nicht hell. Als es irgendwann schließlich dämmert, stehe ich auf. Ich schnappe meinen Kulturbeutel und ein Handtuch und laufe in Flip-Flops zum Klohäuschen. Rechts daneben hüpft etwas durch die Bäume, die Coquerel-Sifakas sind scheinbar schon wach.

Nach Zähneputzen und Co bringe ich meine Sachen zum Zelt zurück und schaue dann mal unter dem Dach nebenan, was es so zu essen gibt. Andry hat in der provisorischen Küche, einem kleinen offenen Steinhüttchen, Crêpes gezaubert. Und einen süßen Teig, aus dem er Kugeln formt und sie frittiert. Dazu gib es Nutella, Honig aus dem Nachbardorf und eine Coka kely aus dem Restaurant neben dem Campground.

Ankarafantsika
Honig, Orangen (die grünen) und Mangosalat im Dorf nebenan

Nach dem Frühstück ziehe ich die dicken Trekkingschuhe an, schnüre sie zu und wuchte mir den Fotoruckack auf den Rücken. Außer mir will aber offenbar noch keiner los. Markus wäre fertig, aber Marco und José schlafen quasi noch oder sind zumindest noch nicht losgehfertig. Corinne, unser Guide für heute, trudelt auch gerade erst aus der Küche ein, wo es madagassische Reisportionen gab.

Irgendwann ziehen wir doch los, quer über den Schotterparkplatz und rechts dem Asphalt der Straße folgend. Noch bieten die hohen Bäume rechts und links der Straße viel Schatten. Es ist schon jetzt echt warm. Christian folgt uns eine Weile. Schon nach wenigen Minuten entdecken wir das erste junge Furcifer oustaleti-Männchen im Gebüsch, und wenige Meter weiter ein ausgewachsenes, erstaunlich großes Männlein. Nach fünf, sechs Furcifer oustaleti hat immer noch keiner die Kamera ausgepackt. Bisher gab es erstaunlicherweise noch keine Taggeckos – oft sieht man sie hier an den großen Bäumen direkt am Straßenrand. Ein paar ältere Männer schleppen riesige Holzstangen an uns vorbei – von Weitem sieht es aus, als würden merkwürdige Giraffen entlang der Straße laufen.

Phelsuma kochi
Phelsuma kochi

Schließlich biegen wir auf einem Sandpfad in Richtung Wald ab. Direkt in einem großen Baum entdecken wir weitere Furcifer oustaleti, perfekt getarnt im dichten Blattwerk. Der hölzerne Steg über die Reisfelder ist inzwischen noch kaputter. An zwei Stellen ist er komplett bis auf den Boden durchgebrochen, an allen anderen Stellen hat der Steg eine Unmenge Löcher. Ich wackele mich seitlich über die Löcher. Die Stahlbrücke direkt dahinter ist jedoch unverändert stabil, auch wenn sie jemand mit Maschendraht geflickt zu haben scheint.

Wir laufen gemütlich durch den Wald zu den beiden riesigen Baobabs. Auf dem Weg sitzt plötzlich ein junger Phelsuma kochi an einem Baum. Zeit, die Kamera mal auszupacken! Als José versucht, den Gecko vorsichtig mittels eines Astes ein paar Zentimeter weiter nach unten zu scheuchen, springt der Phelsume einfach auf Josés Ast. Auch gut. Ist gleich praktischer zum Fotografieren. Am gleichen Baum sitzen viele, kleine, merkwürdige Wanzen, die so gut getarnt sind, dass man sie eigentlich nur in Bewegung erkennen kann.

Leioheterodon madagascariensis
Leioheterodon madagascariensis

Weiter geht es auf dem schmalen Weg durch den Trockenwald. Noch mehr Furcifer oustaleti lassen sich blicken und ein dunkelroter Tausendfüßler. Als ich den Tausendfüßler vorsichtig hoch hebe, riecht es plötzlich nach Putzmittel. Das Tierchen hat offenbar ein Wehrsekret versprüht, das meine Finger auch gleich bräunlich-lila einfärbt, die Farbe ist nicht abwaschbar. Dann taucht auch endlich das erste kleine Furcifer rhinoceratus auf, ein Weibchen in Lila- und Orangetönen. Unweit vom Seeufer sitzt sie im dichten Gebüsch und wandert völlig ungestört, seelenruhig ein Blatt im Wind imitierend, über ein schmales Ästchen. Sie zielt auf eine recht große Ameise, die gerade direkt vor ihr sitzt – zack! Schon verschwindet die Ameise im Maul des Chamäleons. An dem kleinen Hang, an dem wir das Tier gefunden haben, legen wir eine Pause ein. Nicht nur zum Fotografieren. José entdeckt eine Hakennasennatter, die sich langsam unten am Ufer an uns vorbeischleichen will. Geschickt tritt er ein paar Schritte auf sie zu, läuft langsam neben ihr her und greift in einem günstigen Augenblick zu. Leioheterodon madagascariensis sind nicht für ihr allzu freundliches Naturell bekannt, aber sie haben auch keine besonders große Ausdauer. Außerdem hat José ein beeindruckendes, extrem ruhiges Händchen für Schlangen, auch wenn sie Trugnattern sind und kleine Giftzähne haben. Die Hakennasennatter lässt sich jedenfalls sehr geduldig fotografieren.

Schließlich geht es weiter. Rucksäcke schultern und weiter dem Weg folgen. Gefühlt ist der Weg irgendwie deutlich länger als die sechs Kilometer, die auf dem madagassischen Schild am Beginn des Rundwegs stehen. Wahrscheinlich sind es madagassische Kilometer, die sind bekanntlich länger. Der See liegt völlig ruhig da. Nur ein bisschen Wind streicht durch das Gras am Ufer. Seerosen liegen am Uferrand und im Schilf gegenüber sind einige Reiher unterwegs. Krokodile lassen sich bisher nicht sehen. Zugegeben, man würde an den meisten Stellen durch die vielen Wasserpflanzen und das seichte Ufer auch keine der Panzerechsen sehen, wenn sie drei Meter lang wäre und im Schlamm schlummern würde.

Ankarafantsika
Der See Ravelobe

Ein weiteres Furcifer rhinoceratus läuft auf einer schmalen Liane parallel zum Weg. Das Weibchen ist eher blass, wir lassen sie nahezu unfotografiert ziehen. Die allgegenwärtigen Schildechsen sind wie jedes Jahr überall am Boden und auf umgefallenen Baumstämmen unterwegs. Meist sehe ich sie gar nicht, bevor sie direkt vor meinen Füßen davon huschen. Irgendwo macht der Weg einen kleinen Bogen vom Ufer weg und kurz durch dichteres Gestrüpp, bis er wieder zurück zum Ufer kommt. An einem dicken Baumstamm hat Corinne ein kleines, grünes Insekt entdeckt. Als ich die Kamera auspacke, fliegt es leider davon. Aber wo eins sitzt, sind gewöhnlich noch mehr. Nach wenigen Minuten Suche finden sich noch einige weitere der merkwürdigen Insekten. Und direkt gegenüber sitzt noch eine farbenfrohe, winzige Stachelspinne in ihrem eher unordentlich gewebten Netz.

Etwa ab der Hälfte des Weges beginnt der Rundweg um den See sich ganz schön zu ziehen. Wir stellen später mittels Smartphone-App fest, dass es sich bei den angeblichen sechs Kilometer definitiv eher um neun Kilometer handelt. Auf zwei Drittel der Umrundung des Ravelobe treffen wir die zweite Gruppe mit Tanala, Dimby, Andrea, Martin und Philipp. Auch sie haben schon etliche Chamäleons entdeckt und Philipp hat bereits eine Liste von Arten angefangen, die er gesehen hat. Er will in drei Wochen auf über hundert kommen – dürfte kein Problem werden, wenn man mit uns verreist. Kurz hinter unserem Treffen entdecken wir ein kleines Krokodil im Wasser, nur die Augen schauen heraus. Aber es lässt sich nur einen kurzen Moment beobachten. Beim ersten Schatten, der aufs Wasser fällt, verschwindet das kleine Nilkrokodil sofort.

Domicodryas
Dromicodryas quadrilineatus

Wir laufen weiter und laufen und laufen. Ein Pärchen Paradiesschnäpper begleitet uns einige Meter. Den Madagaskar-Seeadler, madagassisch Ankoay, höre ich zwar – mal wieder -, aber ich kann ihn leider nicht sichten. Unser Schlangenflüsterer José entdeckt eine harmlose Vierstreifen-Schlange (Dromicodryas quadrilineatus), die sich freundlicherweise für ein, zwei Fotos in Pose setzt. Noch eine Kurve geht es um den See, noch eine… und noch eine. Längst ist es sehr, sehr warm und noch feuchter als eh schon. Und entsprechend schwitzig. Eine Hakennasennatter entdecken wir noch mitten auf dem Weg, wie sie gerade offenbar ein Nest mit Eiern plündert. Ihr Kopf steckt tief in einem Erdloch, nur die hintere Hälfte des Körpers schaut noch heraus.

Irgendwann sind wir am Ende des Rundweges angekommen und treten endlich aus dem heißen Trockenwald wieder heraus. In der brütenden Sonne folgen wir dem roten Pfad am Steindamm entlang in Richtung Ampijoroa. Erst am Dorfrand gibt es wieder ein bisschen Schatten entlang der ärmlichen Hütten. Ein paar Kinder springen im Dorf herum. Als sie uns sehen, kommen sie sofort angelaufen und brüllen „Vazaaahaaa, les bonboooons!“ Wir haben keine dabei.

Auf dem Campground angekommen lasse ich mich erstmal auf die Bank unter unserem Gemeinschaftsdach fallen. Hui, das war gar nicht mal so kurz, die Wanderung. Ich ziehe die dicken Schuhe von den Füßen, die Socken gleich hinterher, und leere erstmal ein dankenswerterweise von Markus aus dem Restaurant mitgebrachtes Fresh. Léon betätigt sich als Kellner und bringt ein spätes Mittagessen aus der provisorischen Küche. Es gibt Karottensalat mit Rosinen (klingt merkwürdig, schmeckt super) und danach Steak mit Kartoffelecken und Reis. Superlecker! Direkt neben uns am Baum sitzt ein kleiner Madagaskarleguan und beobachtet das Geschehen neugierig.

Accipiter
Echsenhabicht

Später mache ich mich voll motiviert zur Dusche auf. Leider sind die Duschen, die ich sonst benutze, allesamt funktionsunfähig. Das Wasser läuft nicht. Und zwei von drei sind leider ganz abgeschlossen. Also begebe ich mich mit Handtuch, Shampoo und frischen Klamotten bewaffnet auf die Rückseite des Häuschens, wo es weitere drei Duschen gibt. Auch hier sind nur zwei Duschen begehbar. Über der Tür von Nummer eins hütet eine riesenhafte Huntsman gerade einen Kokon. Gruselig. Also nehme ich notgedrungen Dusche Nummer Zwei. Eine kleinere Huntsman huscht über die Wand, hat aber eine Größe, mit der ich hier noch leben kann. Also rein, Tür zu, Brille aus, Klamotten ausgezogen und aufgehängt. Die Dusche besteht einfach nur aus einem Wasserschlauch, aus dem kaltes Wasser herausplätschert. Als ich mich gerade eingeseift zur Tür umdrehe, entdecke ich im Halbdunkel einen großen Fleck an der Wand neben der Tür. Einen sehr großen. Alter Falter! Das wird doch nicht… leider bin ich doof genug, meine Brille aufzusetzen. Das riesige Ding entpuppt sich als über handtellergroße Spinne. Die von der ganz, ganz ekligen Sorte. Waaaaaah! Und jetzt? Ich beschließe, dass sehr schnelles Abduschen reicht, wickele mich nur in mein Handtuch, schmeiße alle Klamotten über den Arm, reiße die Tür mit dem Fuß auf und flüchte im Eiltempo aus der Dusche. Barfuß. Anziehen geht bestimmt auch draußen.

Ankarafantsika

Eine kleine, schlanke Madagassin namens Kristyna ist aus dem Dorf rübergekommen. Ich hatte Ndrema gefragt, ob mir hier irgendjemand die Haare flechten könnte. Die Frisur ist nämlich bei der Hitze hier extrem praktisch und super angenehm kühl auf dem Kopf. Kristyna versteht zwar kein Wort Englisch, aber Haare flechten kann sie gut und was sie trinken möchte, kriege ich gerade so übersetzt. Nur die Haargummis fehlen zum Schluss, die bringen später Ndrema und Dimby vom Einkaufen in Ambondromamy mit. Wobei es eher simple Küchen-Allzweck-Gummiringe sind. Ich habe also letztlich sehr viel Gummiring in den Haaren, macht aber nix.

Kurz vor Sonnenuntergang kommt ein Echsenhabicht (Accipiter francesiae) auf den Campground geflogen. Auf einem abgehackten Baumstumpf bleibt er sitzen. Gegenüber sitzen einige Grauköpfchen auf zwei anderen Baumstämmen. Ich nutze die Gelegenheit und versuche mich einmal mehr in der Vogelfotografie. Ist nicht so meins, wie ich mal wieder feststelle. Vögel sind einfach zu schnell.

Als es dunkel wird, schalten wir die kleine Glühbirne über dem Tisch der großen Hütte an. Leider sorgt das dafür, dass Hunderte kleiner, stinkender Käfer – namensgebend stinky bugs getauft – in Richtung des Lichts fliegen. Ein ganzer Schwarm aus Mücken und den kleinen Käfern schwirrt um die Birne herum. Die Käfer fallen ständig herunter und sobald man sie anfasst, sondern sie ein übel riechendes Sekret ab. Phillipedia kann das erklären: Es handelt sich um Stinkwanzen. Aaaha. Ich habe so viele auf dem Kopf und zwischen den geflochtenen Zöpfen, dass ich irgendwann zur Küche flüchte. Da hängt die Glühbirne weiter oben und unten ist genug offenes Feuer, dass keine elenden Wanzen herumfliegen. In der Küche sitzt auch unser morgiges Abendessen, es lebt allerdings noch und quakt verschüchtert vor sich hin.

Ankarafantsika
Andry in seiner Küche

Das heutige Abendessen besteht aus gegrilltem Hähnchen und leckerem Gemüse. Danach ist noch ein bisschen Quatschen an und um die Küche angesagt. Philipp hat unter Laubblättern am Rande des Campgrounds eine winzige, blinde, schwarze Schlange gefunden. Sie ist keine zehn Zentimeter lang und hat zwei winzige, runde Augen, die unter der Haut liegen, sie schimmern nur bei Licht undeutlich durch. Das Beste ist aber, dass die Minischlange tatsächlich züngelt – mit einer winzigen weißen Mikrozunge. Ein echtes Mininaturwunder.

blind snake

Veröffentlicht von Alex

Alex ist 35 Jahre alt, wohnt in der Nähe von Mainz und ist im echten Leben fernab des Urlaubs Tierarzt mit Faible für Reptilien. Sie fotografiert und reist gerne - so entstand auch dieser Blog. Nebenbei hält sie selbst Chamäleons zu Hause, schreibt an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, betreibt ein kostenloses OnlineMagazin und erstellt Malbücher für madagassische Kinder.

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