Kurz nach Sonnenaufgang ziehe ich den Reißverschluss des Zeltes auf. Blauer Himmel spannt sich über den Regenwald, es ist noch ein bisschen diesig. Die Wiese vor dem Zelt ist nass, von den Urwaldriesen tropft es. Nachts hat es eigentlich kaum geregnet, dafür war es erholsam kühl. Kühle in der Nacht sorgt für guten Schlaf nach der Hitze von Ambilobe und Ankarana. Ich steige aus dem Zelt, schnappe meinen Kulturbeutel, ein Handtuch und meine Flip-Flops, dann laufe ich zum Wasserhahn ein paar Meter weiter drüben zum Zähne putzen.
Christian und Andry werkeln schon geschäftig in der Küche. Da ich noch reichlich Zeit bis zum Frühstück habe, setze ich mich auf einer der Bänke unter dem Gemeinschaftsdach und beginne, meine Zöpfe zu entflechten. Sie werden langsam locker und viele kleine Haarsträhnen fallen schon heraus. Ich komme nur bis zur Hälfte, dann tischt Andry drüben unter dem Dach schon die ersten Crêpes auf. Dazu gibt es Orangen und sogar einen kleinen Käse haben die Jungs aus dem Hochland mitgebracht. Angeluc, unser Guide im Montagne d’Ambre, taucht auch schon auf und setzt sich gerne mit zu uns an den Frühstückstisch. Er ist gut gelaunt wie immer, mit schlechter Laune kenne ich ihn nicht.
Nach nicht mal einer halben Stunde springt Angeluc schon auf und kniet sich kurz vor einem großen Baum noch auf dem Campground auf dem Boden. Triumphierend kommt er wieder zurück, in der Hand zwei winzige Erdchamäleons, die Körper gerade mal so lang wie sein Fingernagel. Es sind Brookesia tuberculata, ein winziges Weibchen und ein etwas größeres Männchen. Nach eingehender Fotosession brechen alle gemeinsam in Richtung des grünen Sees auf. Langsam bummeln wir den Hauptweg nach oben, finden dabei aber noch insgesamt eher wenig. Wenig für den Montagne d’Ambre, muss man dazu sagen. So wenig ist es im Rückblick gar nicht. Der erste echte Fund unserer Wanderung ist ein Calumma linotum-Weibchen, das gerade gemächlich über einen dicken Baumstamm wackelt. Etwas weiter vorne entdeckt Angeluc ein sehr dunkel gefärbtes Weibchen der gleichen Art, das sich perfekt an ein Gewirr aus Lianen geschmiegt tarnt. Während wir fotografieren, überholt uns ein älterer Mann mit seinem schwarzen Zebu. Das Zebu trägt zwei kleine, weiße Säcke über dem Buckel. Der Mann wechselt ein paar Worte mit Angelin, dann läuft er weiter. Philipp hängt schon hinterher, weil er quasi jeden Frosch und jedes Insekt fotografiert – und davon gibt es hier sehr viele. Ich bin da ja nach diversen Besuchen dieses fantastischen Regenwaldes etwas selektiver beim Fotografieren. Kleine, braune Frösche müssen leider ohne mich auskommen.
Als wir in den Weg zum See einbiegen, kommt die Sonne raus. Es wird schlagartig warm und ich fange tatsächlich schon wieder an zu schwitzen. Dabei stelle ich fest, dass meine linke Kopfhälfte – die ohne Zöpfe – viel wärmer ist als die rechte – die mit Zöpfen. Die Frisur hat doch ihren Sinn auf Madagaskar. Angeluc zeigt derweil auf ein großes Calumma ambreense Weibchen, das gerade eine über und über mit Moos bedeckte Liane herauf klettert. Das Weibchen ist äußerst geduldig – bei dieser Art habe ich noch nie hektische Tiere erlebt. Sie sind immer sehr sanft und ruhig, die kleinen Riesen des Montagne d’Ambre.
Ich folge dem Weg, der jetzt langsam ansteigt. Nach links geben die Bäume den Blick in den Wald frei. Urwaldriesen und gigantische Nestfarne, wohin das Auge blickt. Lianen und Moos auf fast jedem Baum, ein weiches Moospolster auf dem Erdboden. Die Äste winden sich teils so um Bäume herum, dass man gar nicht weiß, welcher Ast und welche Wurzel eigentlich zu welchem Baum gehört. Einer der großen Bäume am Wegesrand ist so extrem von Flechten überwuchert, dass er aussieht, als würden Tausende Haare auf ihm wachsen. Hier fliegt ein Vogel, da springt ein Frosch davon. Überall lebt es hier – man muss nur ein Auge dafür haben. Die Aussicht reicht, wenn man genau hinsieht, bis zum Meer. Wolken ziehen auf.
Rechts am Wegrand sitzt ein kleiner, extrem gut getarnter Gecko. Die gleiche Art saß vor zwei Jahren genau an diesem Baum – vielleicht ist es sogar das gleiche Tier? Marko entdeckt ein paar Meter weiter oben ein junges und noch sehr kleines Calumma amber an einem dünnen Ästchen. Ich entdecke ein ähnlich kleines, rötlichbraun gefärbtes Calumma amber-Weibchen auf einem Farn, der sich ganz leicht im Wind bewegt. Die Wolken in der Ferne werden mehr, türmen sich zu großen Massen auf. Angeluc sagt grinsend, es wird so etwa ab ein Uhr regnen. Die Wetter-App sagt, es regnet schon noch heute, aber erst am Abend.
Als wir die Treppe nach unten zum See erreichen, wird demokratisch darüber abgestimmt, ob wir nach unten gehen wollen oder weiter zum Aussichtspunkt, an dem man den See von oben anschauen kann. Die Mehrheit entscheidet, dass wir weitergehen. Also schlendere ich gemütlich weiter durchs Gras. Martin entdeckt einen Erdhaufen voller Schneckeneier, Philipp irgendwelche lustigen Käfer. Angeluc zeigt zwei weitere Brookesia tuberculata, wieder Männchen und Weibchen, das erstere dunkler und deutlich größer. Nur ein paar Schritte weiter findet Martin ein riesiges Ameisennest samt einem dritten Erdchamläleon, nur ist es viel winziger. Die Ameisen transportieren gerade Unmengen ihrer Eier durch die Gegend und es scheint, als würden die winzigen Erdchamäleons diese Gelegenheit zur Nahrungsaufnahme sehr reichlich nutzen. Markus wird derweil penetrant von Bremsen verfolgt. Warum genau die ihn mögen, weiß keiner so recht – außer ihm hat das Problem gerade keiner.
Wir erreichen eine kleine Betonplattform, zu der linker Hand eine Treppe hinauf führt. Wenige Meter dahinter steht ein zig Meter hoher, riesiger Farn, dessen Kopf sich bereits zur Seite neigt. Tatsächlich bietet die Betonplattform eine fantastische Aussicht über den Regenwald. José läuft jedoch daran vorbei und erinnert mich, dass wir eigentlich zu einer anderen Aussichtsplattform wollen, nämlich zu der des grünen Sees. Ach, stimmt ja! Ich hatte schon ganz vergessen, wohin wir wollten. In der Ferne grollt leise ein Gewitter. Markus und ich laufen ein paar Meter vor, aber auch nach einem weiteren Kilometer ist kein Hauch einer Aussichtsplattform zu sehen. Nur ein quer über den Weg umgestürzter Baum, mit dem ein gigantischer Farn und zig Orchideen einfach mit umgefallen sind. Weiter vorne liegt einfach am Wegesrand ein skurill gewundener Ast, auf dem an die hundert kleine Orchideen wachsen. Wunderschön. Je weiter man nach oben kommt, desto mehr Farne wachsen im Wald. In allen Größen und Formen. Es ist ein bisschen wie ein Märchenwald.
Das Donnergrollen wird lauter. Wir beschließen, umzukehren. Angeluc meint nur nickend, ja, es könne gleich regnen, besser zurück. Andrea will lieber zum Aussichtspunkt, wird aber demokratisch überstimmt. Besser ist das.
Pünktlich um 12.55 Uhr beginnt es zu schütten. Offenbar lügt die Wetter-App ganz gewaltig. Und nicht nur ein bisschen, es gießt wie aus Eimern. Zu diesem Zeitpunkt stehen wir ungefähr einen Kilometer vor der Treppe zum grünen See unter einem sehr großen Baum. Allerdings bietet der auch nur sehr begrenzt Schutz vor der Sintflut, die sich vom Himmel über uns ergießt. Nach wenigen Minuten beschließen wir gemeinschaftlich, trotz (oder wegen) des Regens zügig zurück zum Campground zu laufen. Es sieht nicht so aus, als würde es bald aufhören zu regnen. Es regnet Bindfäden. Nach 20 Minuten strammen Marsches sind meine Klamotten komplett durchweicht, die Trekkingschuhe beherbergen einen erstaunlich großen See. Innen. Die Abkürzung über die Wasserschleuse, die wir sonst gerne benutzen, ist jetzt ein kniehoher Wasserfall, der einfach in die Tiefe stürzt. Angeluc meint zu mir, das würde schon gehen, nur ohne Schuhe… ich lehne mal dankend für alle ab. Klatschnass sind wir eh alle schon, Beinbrüche braucht es dazu nicht. Das Wasser, das den Berg hinunter fließt, wird sehr schnell mehr. In Windeseile rauschen ganze Sturzbäche neben mir den Weg herab. Ich versuche, auf den einigermaßen begrünten Stellen zu laufen. Nicht, dass man dadurch trockener bliebe – die Schuhe spritzen schon selbst mit Wasser – aber man rutscht weniger leicht aus.
Nach einer guten Dreiviertelstunde zügigen Laufens durch den strömenden Regen kommen alle triefnass im Camp an. Das Wasser tropft mir von der Nase, aus den Haaren, von den Knien und aus den Ärmeln. Ich laufe direkt zum Küchendach, weil es das nächste ist. Tanala, der im Camp geblieben und damit auch trocken geblieben ist, bringt ein Handtuch und einen trockenen Pullover, der sich prompt an meiner nassen Hose voll Wasser saugt. Ich ziehe die Schuhe aus und leere sie über dem Boden, der auch schon eher einem Teich gleicht. Ganze Bäche laufen aus den Schuhen, ein kleiner See bleibt drinnen übrig. Dabei habe ich noch nicht mal den Stoffteil ausgedrückt. Die Socken verlieren beim Auswringen mehr Wasser, als sie jemals in einer Waschmaschine aufnehmen würden. Sogar mein T-Shirt tropft munter vor sich hin. Markus demonstriert für ein Video mal kurz, wie Wasser aus seinen Schuhen läuft.
Es regnet und regnet. Wenn man im Regenwald eines lernt, dann ist es wohl, nicht irgendwelchen unseligen Wetter-Apps zu vertrauen, sondern den Leuten, die hier leben. Und einfach mal auf die Minute den Regen vorher gesagt haben. Inzwischen hat sich die Hälfte unserer Gruppe in ihre Zelte verzogen. Ich sitze in der Küche und beobachte, wie der Zeltplatzboden langsam kein Wasser mehr aufnehmen kann. Große, stehende Wasserflächen bilden sich in der Senke, in der die Jungs ihre Zelte stehen haben. Aber auch oben auf dem sanften Hügelchen, auf dem Tanalas und mein Zelt steht, verläuft längst ein ausgewachsener Teich. Andry frittiert in Seelenruhe gerade in Teig ausgebackene Crevetten und Auberginen. Dazu gibt es eine hervorragende Guacamole aus monströs großen Avocados. Leider muss man zwecks Mittagessen rüber zum Esstisch-Dach laufen. Woraufhin prompt wieder alle nass sind. Regenschirme nützen bei dem Regen auch nichts mehr.
Nach guten zwei Stunden durchgehenden Schutts nimmt der Regen ab, dann tröpfelt es nur noch. Ich schleppe meinen Rucksack zu einem anderen Unterstand, wo bereits weitere Rucksäcke aufs Trocknen warten. In einem leeren Unterstand für Zelte (die Zelte, die nicht darunter stehen, wären zu groß für den Unterstand) hängen wir die nassen Klamotten auf. Auf eine Wäscheleine, die Philipp aus seinem schier unerschöpflichen Repertoire an nützlichen Dingen zaubert. Würde mich nicht wundern, wenn er gleich noch einen Ganzkörper-Neoprenanzug aus dem Gepäck holt. Meine Schuhe hänge ich falsch rum an der Decke auf. Sie tropfen munter einher. Statt mit Schuhen laufe ich barfuß zum Zelt, hole meine Flip-Flops und stakse den Rest des Tages damit durch den Matsch. Ab und zu bleibt ein Flip-Flop im Matsch stecken.
Leider ist der Regen doch noch nicht vorbei. Es fängt noch einmal an zu schütten, deutlich heftiger als zuvor – wenn das überhaupt noch geht. Ein riesiger See breitet sich von einem flacheren Baum neben dem Klamotten-Trocknungs-Unterstand bis hinüber zu den Drachenbäumen aus. Ein weiterer See hat sich unter und hinter Tanalas und meinem Zelt gebildet und einer bei Josés Zelt. Martin sitzt bereits mit dem Hintern auf dem Tisch einer der Unterstände, weil der Regen beide Bänke durchnässt. Markus, Tanala und ich setzen uns auf die Bank dazu. Nachdem der Boden unter dem Tisch innerhalb kürzester Zeit komplett geflutet ist und meine gerade neu angezogene, ehemals trockene Hose schon wieder nass geregnet ist, rücke ich auch auf den Tisch auf. Markus und Martin stehen derweil auf den Bänken. Tisch, Bänke, Rucksäcke, alles ist nass. Es schüttet ohne Ende. Bäche ziehen sich über den Zeltplatz. Langsam mache ich mir Gedanken, wie schwimmfähig mein Gepäck ist. Von hinter unserem Zelt fließt ein anhaltender Strom bis vor das Zelt. Da kann man nur hoffen, dass der Zeltboden dicht ist.
Andrea war schlau und hat sich während der Regenpause in ihr Zelt unter einem Unterstand verzogen, Philipp ebenso. Die Glücklichen. Ein kleines Heinzelmännchen in knallgelbem, weit ausgebeultem Regencape kommt auf unseren Unterstand zu gerannt. Wobei rennen, bei dem Matsch sieht es eher aus wie ein Storch im Salat. Von seinem Cape rinnen Sturzbäche von Wasser. Nackte braune Beine lugen unten heraus. Das gelbe Heinzelmännchen entpuppt sich als Fitah, der deshalb so voluminös aussieht, weil er Gepäck unter seinem gelben Regencape ins Auto bringt. Und Zigaretten für Gris mit zurückbringt.
Als es endlich aufhört zu regnen, sind alle Zelte der Madagassen abgesoffen. Marcos Zelt ist in der Mitte zusammengesunken, weil ein großes Handtuch darauf lag und durch das Wasser schwerer und schwerer wurde. Und dann wurde das Zelt wohl auch an besagter Stelle undicht, weil die Zeltwand dauerhafte, schwere Berührungen bei Regen nicht so gut verträgt. Es dämmert schon, als man sich wieder einigermaßen untropfend auf dem Campground bewegen kann. Die Wiese ist an vielen Stellen nur noch Matsch. Rund um die Küche ist sie gar nicht mehr zu erkennen, eine einzige Schlammmasse schließt den Küchen-Unterstand ein. Im Regen mit nackten Füßen ist es im Montagne d’Ambre übrigens echt kalt. Jetzt, wo der Regen aufgehört hat, geht es aber gerade wieder. Sogar ein Hauch blauer Himmel zeigt sich nochmal.
Das Abendessen fällt wegen erneut anhaltendem Regen etwas kleiner aus. Andry hackt Streifen vom Rind so lange, bis es tatsächlich wie Hackfleisch aussieht, und zaubert daraus grandiose Spaghetti Bolognese. Sogar mit Käse. Megagut. Ich schlendere noch eine kleine Runde um den Campground, aber mit Flip-Flops ist das insgesamt eher schwierig. Am Nachtwächterhaus rennen eine Menge Kat mampfende Menschen herum. Vermutlich bereiten sie das morgige Event am Wasserfall vor. Angelin hat erzählt, dass morgen früh eine zeremonielle Opfergabe am heiligen Wasserfall wenige hundert Meter hinter dem Zeltplatz stattfinden soll. Das findet nur einmal im Jahr statt, quasi eine Art traditionelles Reinigungsfest. Wer möchte, kann gerne daran teilnehmen. Da dabei wohl auch ein Zebu geopfert werden soll, lehnen alle dankend ab. Als ich zur Küche zurückkehre, sind zwei Hunde aufgetaucht. Ein beiger und ein schwarzer. Auch sie suchen Zuflucht vor der Nässe. Andry und Christian stellen ein Ersatzzelt direkt neben den nassen Klamotten auf. Die Fotorucksäcke wandern ins Auto. Die meisten der Jungs übernachten wohl ebenfalls in den Autos.
Ich wasche meine Füße so gründlich es geht am wieder funktionierenden Wasserhahn – Dank an den Nachtwächter, der den Hahn heute Mittag repariert hat – und bugsiere mich so ins Zelt, dass die Füße den Boden innen nicht berühren und die Hose draußen nicht mehr Schlamm mitnimmt als nötigt, aber drinnen auch nicht die Luftmatratze versaut. Abendliche Akrobatik. Gute Nacht.