Sehr früh bin ich wach. Der Tag beginnt damit, dass ich einen Eimer vom Klohäuschen hole und ans Meer laufe, um mit dem vollen Eimer Meerwasser wieder zurück zum Klo zu laufen. Eine Spülung mit Süßwasser gibt es nicht, deshalb muss man hier von Hand per Eimer voll Salzwasser spülen. Das machen wir jetzt fröhlich alle im Wechsel. Also, nicht ganz alle. Manche mehr und manche weniger.
Ich setze mich in den Strand unten an die Bucht uns schaue zu, wie die Sonne aufgeht. Zuerst scheint die Sonne nur ganz oben auf die Felsen der Bucht, die Bucht selbst liegt im Schatten. Viele, viele Meeresschildkröten sind im tief türkisfarbenen Wasser unterwegs. Immer wieder tauchen die dicken, runden Köpfe für einen kurzen Moment an der Wasseroberfläche auf. Außerdem entdecke ich dreimal einen sehr großen Fisch, oder vielmehr eine merkwürdige Rückenflosse, die aus dem Wasser aus- und wieder hineintaucht. Langsam steigt die Sonne am Himmel nach oben. Die linke Seite der Bucht mit dem Strand und der Felswand mit Bäumen darunter liegt bereits in der Sonne. Offenbar sind auch die Bootsleute aufgewacht, sie haben im Schutz eines großen Felsens weiter unten in der Bucht geschlafen, zusammen mit ein paar Fischern aus Ampasindava. Ein Seeadler fliegt vorbei – ich hätte nicht gedacht, hier einen zu sehen! In Ankarafantsika gibt es den größten Raubvogel Madagaskars ja auch, aber dort habe ich ihn bisher immer nur hören können. Sichtungen waren wirklich rar. Hier auf Nosy Hara fliegt er einfach über die Bucht. Philipp und Martin sind derweil unten am Strand unterwegs. Als sie zurückkommen, berichten sie, dass ein kleiner Hai im niedrigen Wasser unterwegs ist. Das war also die kleine Flosse von vorhin.
Christian ruft zum Frühstück. Gestern wurden noch Tische und Bänke so zusammengeschoben, dass man jetzt gemütlich gemeinsam frühstücken kann. Unter dem Tisch führen Schlangenspuren durch den Sand. Anscheinend ist der vom Tag angewärmte Sand der Hütte in der Nacht stark von beinlosen Schuppentieren frequentiert. Andry hat leckeren Obstsalat aus frischen Ananas und Bananen gemacht. Wer mag, kann ein Omelette bekommen. Philipp hat schon an der Felswand hinter den Zelten einen kleinen Gecko gefunden, der erst im letzten Jahr beschrieben wurde: Paroedura fasciata. Als sich langsam alle zu unserer kleinen Wanderung über die Insel fertig machen, ziehen plötzlich springende Gestalten am Eingang der Bucht die Aufmerksamkeit auf sich. Es sind Delfine, die aus dem Wasser springend am Eingang der Bucht vorbeiziehen. Wow, was eine tolle Insel! Nosy Hara scheint nicht nur für Reptilien ein Geheimtipp zu sein.
Ich muss heute doch die nassen Trekkingschuhe wieder anziehen. Die Felsen Nosy Haras kann man nicht in Flip-Flops besteigen. Die Felsen ähneln den Tsingys von Ankarana und sie sind selbst mit dicken Schuhen echt spitz und scharfkantig. Ich stopfe meine Füße also in die immer noch nassen Schuhe, die gefühlt plötzlich zwei Nummern zu klein sind.
Mit Michéle, unserem neuen Guide für die Insel, laufen wir allesamt entlang eines schmalen Sandpfads zum Strand hinunter und dann im Bogen in Richtung der Schlucht. Zwischen den Mangroven führt ein aus Holzbrettern gebauter Steg in den Wald hinein. Rechts und links steht das Gras kopfhoch. Große, weiße Blumen werden ganz leicht vom Wind bewegt.
Dann stehe ich plötzlich vor betonierten Treppen. Das ist wohl der Betonweg, wo mal ein Bach war. Die Parkverwaltung hat es gut gemeint und wollte den Weg für Touristen zugänglicher gestalten. Leider haben sie dabei wohl einen Bachlauf zubetoniert, der die Heimat vieler kleiner und seltener Tiere war. Ich folge den Stufen in den Wald hinein. Rechts und links des Weges liegt relativ trockener Erdboden, der von Felsen und Steinen durchzogen ist. Laub liegt zwischen den Felsen, die Bäume ragen viele Meter weit nach oben. Eine Menge Gestrüpp rankt durch den Wald. Als erstes terrestrisches Reptil des Tages taucht ein winziger Gecko, ein Lygodactylus, auf einem der großen Steine direkt am Wegesrand auf. Und ein größerer wird auch zügig gefunden. Michéle deutet fahrig mit der Hand ins Gebüsch und auf die Steine. „Hier überall gibt’s Brookesia micra“, sagt er auf Madagassisch. Aaaha. Hier. Also geht’s ans Suchen. Und erstmal finden wir gar nix.
Oder doch. Eine kleine, dicke Madagaskarboa liegt zwischen den breiten Wurzeln eines großen Baums. Philipp entdeckt dann tatsächlich das erste Brookesia micra – für diese Chamäleons bin ich eigentlich hier. Die Art ist das kleinste Chamäleon der Welt. Und es gibt nicht nur ein Brookesia micra zu sehen. Wenn man weiß, wo genau man suchen muss, findet man unzählige! Ich bin völlig hin und weg von den Winzlingen. Sie sind so klein, dass man Angst hat, sie beim Anfassen zwischen den Fingern zu erdrücken. Und übrigens können sie vibrieren, wie die großen Erdchamäleons auch. Nur eben in ganz, ganz klein. Mini sozusagen. Echte Mininaturwunder. Man kann kaum glauben, dass in so einem kleinen Chamäleon genauso alles drin ist wie in einem großen. Und auch funktioniert. Ich bin ein bisschen selig. Das größte Tier hat gerade mal zweieinhalb Zentimeter Länge von der Nasen- bis zur Schwanzspitze. Das Gewicht ist nicht einmal messbar, muss also unter 0,1 Gramm liegen.
Im gleichen Lebensraum gibt es auch noch kleine, leuchtend gelb-schwarze Frösche, Mantella viridis. Allerdings hier zwischen den Felsen nicht ganz so viele. Markus und ich mühen uns eine ganze Weile ab, einen davon fotogen auf einem der Steine abzulichten. Der Frosch möchte aber nicht mitmachen und hat offenbar dringende Termine, allerdings irgendwo in den Tiefen zwischen den Steinen. Entsprechend gestaltet es sich äußerst schwierig, auch nur ein gescheites Foto von dem kleinen, bunten Amphib zu schießen.
Irgendwann, es dürften mehr als zwei Stunden ins Land gegangen sein, sind wir immer noch an PM 300. Also quasi 300 Meter weit gekommen auf unserem Weg in der Schlucht. Schließlich laufe ich doch mal weiter. José, Dimby und Tanala sitzen immer noch vor einer Schlange, während Philipp längst eine weitere Madagaskarboa und noch mehr Brookesia micra weiter oben entdeckt hat. Da will ich jetzt auch hin. Die Betonstufen führen zu einer kleinen Ebene, in der es leise quakt. Armdicke Lianen hängen von den Bäumen. Links verläuft ein kleiner Bach, aktuell eher ein handbreites Rinnsal, der Boden ist nass und mit kniehohem Grünzeug überwuchert. Eine Unmenge Mücken schwirrt durch die Luft – klar, dürfte auch das einzige Feuchtgebiet hier weit und breit sein. Der Rest drumherum ist ja Trockenwald. Wo Mücken sind, sind natürlich auch Frösche. Es hätte sich wahrscheinlich gar keiner mit nur einem einzigen Frosch abmühen müssen. Hier sitzen Dutzende. Sie springen sogar vor meinen Füßen weg, als ich langsam den Pfad entlang schlendere. Manche sind echt große, gelbe Brummer. Bestimmt doppelt so groß wie das Fröschchen, das sich nicht fotografieren lassen wollte. An den breiten Wurzeln der gleichen Baumart, an der weiter unten schon die Schlange saß, entdecke ich zwei kleine Froschmännchen, die sich gegenseitig anquaken. Beim Rufen blasen sie ihre Kehlsäcke weit auf. Ein paar Meter weiter ringen zwei Frösche miteinander, bis der wohl Unterlegene in den Bach flüchtet.
Wieder geht es viele, viele Stufen nach oben. Ein riesenhafter Baum, ein echter Urwaldriese, steht mitten am Weg. Ich schwitze, es wird wärmer und wärmer. Rechts und links des Wegs wird es immer felsiger. Die „Erde“ dazwischen scheint nur noch aus einer Art porrösen Vulkangestein zu bestehen. Die Bäume schlagen ihre Wurzeln überall zwischen und über den Steinen. Zwei Paradiesschnäpper zwitschern über mir und hüpfen neugierig in den Ästen über meinem Kopf herum. Sie sehen offenbar eher selten Menschen hier. Der Betonweg endet relativ abrupt. Dahinter geht es nur noch auf den tsingyartigen Felsen weiter. Teils sind die Steine lose und man muss aufpassen, wohin man tritt. Je weiter ich nach oben komme, desto größer werden die Löcher zwischen den Felsen. An einem großen, direkt am Weg stehenden Baum sitzen gleich zwei Taggeckos, Phelsuma grandis. Und sie sind, wie alle Geckos hier, ganz schön riesig. Ein dritter Artgenosse, allerdings ein Phelsuma abbotti, sitzt unweit davon auf einem breiten Ast. Zur illustren Geckorunde an eben jener Ecke gesellt sich außerdem noch ein riesenhafter Blaesodactylus boivini. Nur ein paar Meter davon sitzt eine Mahafalynatter an einem Baumstamm. Sie hält so still und ist farblich so gut getarnt, dass ich sie erst nach sehr intensivem Hinschauen wirklich entdecke.
Beim Weiterklettern werden die Bäume lichter. Links taucht eine hohe Felswand auf, an der der Wald endet und Philipp mit einer kleinen Taschenlampe in jedem Spalt nach Geckos sucht. Er findet nicht den gewünschten Paragehyra, dafür aber prompt zwei lichtscheue Geckolepis, Fischschuppen-Geckos. Der Mann hat vielleicht ein Gespür für kleine Reptilien… Der Pfad direkt vor der Felswand besteht aus Unmengen kleiner Schneckenhäuser und Muscheln. Hinter der Felswand führt eine kleine Brücke hinüber zu einem größeren Felsen, der dann auch der Gipfel der Insel ist. Eine Art Felsturm steht direkt daneben. Bereits auf der kleinen Brücke ist die Aussicht fantastisch. Man kann tief nach unten bis aufs Korallenriff von Nosy Hara schauen, in der Ferne die Küste von Diego. Und selbst mit meiner Höhenangst geht das erstaunlich gut. Das Meer ist kristallklar und so ruhig, dass man sogar die einzelnen Korallentürme im Wasser erkennen kann.
Hinter der Brücke klettere ich über einen sehr schmalen Felspfad steil nach oben bis zu einer nackten, baumlosen Ebene, die nur aus Tsingygestein besteht. Nur ein Haufen Aloen und ähnliche Sukkulenten wachsen hier noch. Die Felsen sind scharfkantig und man muss ein bisschen aufpassen, nicht auf wackelige Steine zu treten. Die Sonne knallt ungebremst auf meinen Kopf. Aber die Aussicht ist der Wahnsinn. Man steht ganz oben auf der Insel, über allem drüber, die Zeit scheint für einen kurzen Moment stillzustehen. Auf der einen Seite schaut man direkt aufs Meer, auf der anderen Seite über die gesamte, von Wald bewachsene Schlucht und die ganzen Felswände drumherum. Alles sieht so klein aus von hier oben. Hinter Nosy Hara liegt eine kleine Insel mit weißem Sandstrand im Meer. Gigantisch, diese Urwald- und Felseninsel. Wieder fühle ich mich ein bisschen wie bei Jurassic Park. Außer uns paar Leuten ist keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Weiße Vögel fliegen an der Felswand hinter uns herum. Eine bisschen Wind geht auch, so kann ich die Aussicht mitten in der gleißenden Sonne etwas länger genießen.
Der Rückweg herunter vom Felsen ist etwas wackelig. Und geht deutlich schneller vonstatten als der Weg nach oben. Tatsächlich ist der ganze Weg vielleicht anderthalb Kilometer lang. Wenn man Tiere sucht, braucht man dafür aber schon mal den halben Tag.
Zurück im Camp kredenzt Andry ein spätes Mittagessen mit Steaks in Weinsauce, Karotten- und Kartoffelsalat. Kochen, das kann er echt gut. Und ich kann endlich die nassen Schuhe ausziehen, die allerdings im Laufe des Tages an meinen Füßen fast komplett getrocknet sind. Ich stelle sie noch ein bisschen am Strand in die Sonne, damit sie richtig durchtrocknen.
Danach gehe ich noch eine Runde schwimmen – oder eher wir alle. Den Hai von heute Früh hat keiner mehr gesehen. Das Wasser ist warm wie in einer Badewanne. Ich dümpele ein bisschen herum. Als ich aus dem Wasser komme, klebt meine Haut vom vielen Salz. Und es gibt hier keine Dusche! Ich entschließe mich, mit 800 ml Eau Vive zu duschen. Das geht so lala, es wird zumindest alles mal ein bisschen nass. Hinterher klebe ich ein bisschen weniger und trage noch eine Schicht Antibrumm auf. Klebt fast so wie vorher. Statt der langen Trekkinghosen von heute Morgen ziehe ich dann doch lieber jetzt kurze Klamotten an, so warm wie es ist.
Das Camp ist offenbar ein perfekter Aufenthaltsort für Madagaskarboas. Jedenfalls findet sich am Nachmittag erneut eine der Schlangen, ein recht großes Tier, das aber völlig entspannt und umgänglich ist. Vielleicht war sie es auch, die heute Nacht die Spuren im Sand in der Küche hinterlassen hat? Inzwischen steht die Sonne schon recht tief am Himmel, die Felswände werden lange Schatten in die Bucht. Über den Bäumen der Schlucht kreist ein Flughund.
Als es dunkel wird, brummt ein kleines Boot in die Bucht. Nosy Hara National Park steht in blauen Lettern auf dem Rumpf. Gibt es hier doch noch Gäste außer uns? Als das Boot anlegt, steigen drei Madagassen aus. Einer davon scheint der hiesige Parkmanager zu sein, der uns gerne kennenlernen würde. Aha, aha. Er erhofft sich ein bisschen Werbung für die Insel von uns. Und mehr Gäste. Und packt ganz nebenbei eine Kladde mit teils feucht gewordenen Papieren aus, in der detailliert die Pläne für den Ausbau des Camps und eine bessere Infrastruktur Nosy Haras beschrieben sind. Inklusive der Finanzierungspläne, die bestimmt nicht für meine neugierigen Augen bestimmt sind. Eigentlich ist der gute Mann also nur zum Quatschen da. Das macht er auch sehr ausführlich, bevor er sich dann irgendwann samt seiner Begleitung doch wieder verabschiedet. Das Boot bleibt jedoch in der Bucht. Wo der Parkmanager hin verschwindet, ist unklar. Vermutlich zu den Fischersleuten unten an den Felsen.
Am Horizont leuchten Blitze auf. Ein Gewitter schiebt sich über die kleine Insel gegenüber von Nosy Hara, die ich oben vom Aussichtspunkt sehen konnte. Am Strand sind jede Menge Einsiedlerkrebse unterwegs. Selbst auf dem Klo laufen sie einem über die Füße. Teils tragen die kleinen Krebse riesige Muscheln mit sich herum, die größer sind als meine Hand. Unter dem Dach neben der Küche wird Bier getrunken, erzählt und gelacht. Es ist unser letzter Abend auf der Insel, und der letzte echte Abend in der Wildnis, bevor wir wieder nach Hause fliegen werden. Geschichten der Reise werden ausgepackt, Bilder verglichen, noch ein paar Geckos fotografiert und irgendwann gehen alle dann doch zu ihren Zelten. Ein fantastischer Tag geht seinem Ende entgegen.