Der Tag beginnt relativ ruhig. Nach dem Frühstück mache ich mich fertig für den Fußmarsch im Trockenwald. Ich schnüre gerade meine Trekkingschuhe zu, als es Neuigkeiten gibt. Und gut sind sie nicht. Die ersten drei Fälle von Covid-19 sind auf Madagaskar aufgetaucht. Sie kamen mit einem Flug, der das Land eigentlich nicht mehr hätte anfliegen dürfen.In Antananarivo beginnt Panik sich unter der Bevölkerung breit zu machen. Hamsterkäufe werden getätigt, das Benzin ist an etlichen Tankstellen innerhalb weniger Stunden knapp. Antsohihy im Nordwesten droht zur gesetzeslosen Zone zu werden. Die deutsche Botschaft vertröstet auf später, wann auch immer das sein soll. Frank war kurz in der Ankarana Lodge bei Jorg. Der sagt nach aktuellem Kenntnisstand: „Weg hier, solange ihr noch könnt“. Dann gibt es endlich auch Informationen von Air France: Ein letzter Evakuierungsflug geht am 23. März, also Montag früh. Heute ist Samstag. Dimbys Frau fährt nach diversen Telefonaten quer durch Antananarivo, um uns auf die Warteliste dafür eintragen zu lassen.
Nach intensiver Besprechung fällt die Entscheidung: Wir versuchen, den gesamten Tag und die gesamte Nacht durchzufahren und den Flug von Air France noch zu erreichen. Noch weiß keiner, ob wir mitfliegen können. Der Zustand der Straßen ist in der Nacht sehr gefährlich, weil es keinerlei Beleuchtung gibt und man scharfe Asphaltkanten, Schlammlöcher oder schlimmstenfalls eingestürzte Brücken nicht sehen kann. Das schlimmste Stück könnten wir allerdings bei Tage fahren. Die Jungs wollen sich abwechseln: Je einer schläft, einer fährt, dann wird gewechselt. Als die Entscheidung fällt, geht es schnell: In Windeseile packen alle Rucksäcke und Taschen, beladen die Geländewagen und verabschieden sich.
Um 11:10 Uhr fahren wir in Mahamasina los. Eine schier endlose Autofahrt beginnt. Tatsächlich ist die Straße ohne Regen besser als gestern Nachmittag, aber trotzdem ist sie katastrophal. In Ambilobe fahren wir vorbei an einem Stand aus Holzstangen, auf dem Unmengen Kat liegen. Büschweise stapelt sich die grüne Droge am Straßenrand. Wir umkurven Tuk-Tuks und Cyclo-Pousse, es wird gehupt und gepfiffen. Einen uralten, altersschwachen Traktor überholen wir mit nur ein paar Zentimeter Abstand. Die Jungs drücken aufs Gas, sie wollen so viel Strecke wie nur möglich bei Tageslicht machen. In einer überfüllten Stadt wie Ambilobe ist das schwierig. Hier hat noch niemand etwas von Corona gehört. Das Leben geht seinen gewohnten Gang. Eine Ziegenherde wird von einem kleinen Jungen auf der Straße aus der Stadt getrieben.
Kurz hinter dem Fluss Mahavavy winkt uns ein Polizist an einem Kontrollposten an den Straßenrand. Während der Führerscheine und Fahrzeugpapiere kontrolliert, kaut er ununterbrochen auf einem Ballen Kat herum. Zum Glück möchte er weder Schmiergeld noch uns aufhalten. Weiter geht es. Reisfelder und Büsche fliegen am Fenster vorbei. Wir überholen überladene Taxibrousses, die so viel auf dem Dach gestapelt haben, dass sie in den Schlammlöchern fast umkippen.
Wieder zieht sich der Himmel am Nachmittag zu. Dicke, graue Wolken hängen tief über rotem Boden und grünen Buschwerk. Es regnet und die Straße wird noch rutschiger als sie eh schon ist. Über Stunden kurven wir zwei desolaten Taxibrousses hinterher. Das eine hat hinten einen Totalschaden. Die Heckscheibe fehlt und ist durch Plastikfolie ersetzt, die mit Klebeband an der Karosserie befestigt ist. Stoßstangen und Lichter hinten fehlen, der Auspuff stößt tiefschwarze Rauchwolken aus. Dem zweiten Taxibrousse fehlen dafür die Seitenscheiben, alle Lichter, die Stoßstangen und irgendwelche Kabel schleifen unter dem Taxibrousse auf dem Boden. Die Landschaften fliegen an mir vorbei. Als die Sonne untergeht, haben die dicken Wolken sich verzogen. Die letzten Sonnenstrahlen werfen unglaubliche Farben an den Himmel. Ein riesiger Regenbogen zieht sich über einen grünen Wald.
Als es dunkel ist, sind wir erst kurz hinter Ankaramibe. Der schlimmste Teil der Straße liegt nun hinter uns, weniger gefährlich wird es dadurch nicht. An einer Straßensperre wird Léon an den Straßenrand gewunken. Ein Polizist leuchtet mit seiner Taschenlampe ins Wageninnere. „Wann sind die in Madagaskar angekommen?“, fragt er und deutet mit dem Finger auf die Vazaha im Auto. „Am fünften März!“, antwortet Léon wahrheitsgemäß. „Wir sind auf dem Weg zurück nach Antananarivo“. Der Polizist nickt zufrieden und winkt uns, weiter zu fahren. Was wir erst viel später erfahren: Zu diesem Zeitpunkt werden weiße Reisende gesucht, die sich mit Corona infiziert und wissentlich in den Norden Madagaskars abgesetzt haben. Und der Umgang mit ihnen, sollte man sie finden, dürfte sicher nicht zimperlich sein.
Es ist schon eine gute Stunde dunkel, aber immer noch sind Männer und Jungen mit ihren Zebus unterwegs. Im Schein der Autoscheinwerfer treiben sie ihre Tiere an den Straßenrand und eilig in Richtung des nächsten Dorfes. Wie sie im Stockfinsteren etwas erkennen können, ist für mich ein Rätsel.
Nach guten zwölf Stunden Fahrt gibt es eine Pause in Befotaka. Die kleine Stadt liegt in völliger Finsternis. Wir parken die Landcruiser direkt auf der Straße. Am Straßenrand liegen dicht an dicht Holzhütten, aus denen schummeriges Licht leuchtet. Auf einer Seite befinden sich kleine Gargottes, in denen man essen kann. Auf der anderen Seite werden, obwohl es praktisch schon mitten in der Nacht ist, noch Gemüse und allerlei Krimskrams verkauft. Ich erstehe zwei kleine Flaschen Eau Vive, die aber mit Honig gefüllt sind. Ein Huhn steht direkt neben den Honigflaschen auf der provisorischen Verkaufstheke. Gegenüber finden sich alle in einer wackeligen Bretterbude, die zur Straßenhöhe auf Pfählen aufgebockt wurde, zu einem Abendessen ein. Die Holzplanken knarzen laut, als ich die Hütte betrete. Lustige madagassische Musik dudelt im Hintergrund. Es gibt Reis mit Huhn und Fischsauce aus riesigen Alutöpfen. Ich lehne dankend ab. Eine madagassische Fibel liegt auf dem Tisch, die Schulsachen des dazugehörigen Kindes liegen daneben. Sein Schlafplatz befindet sich direkt unter dem wackeligen, aus Brettern zusammengezimmerten Tisch und einer sehr schmalen Bank. Eine Reihe neugieriger Madagassinen schaut in den kleinen Verschlag, um einen Blick auf die Vazaha zu werfen, die mitten in der Nacht in Befotaka gestrandet sind.
Die Fahrt geht weiter. Trotz der völligen Finsternis fahren noch Taxibrousse, jedoch immer zu viert in Kolonne. Die nächtlichen Buschtaxis scheinen in etwas besserem technischen Zustand zu sein, jedenfalls fallen sie nicht beim ersten Schlagloch auseinander. Gegen halb Zwei in der Nacht halten wir irgendwo im Nirgendwo zur Pinkelpause. Als ich nach oben schaue, erwartet mich ein grandioser Sternenhimmel. Unzählige Sternschnuppen huschen über den pechschwarzen Himmel. Das mit den Toiletten im Busch ist übrigens, wenn es schnell gehen muss, sehr einfach. Die Landcruiser werden in einer Reihe mit Warnblinker geparkt, die Herren gehen auf die andere Straßenseite. Und als Frau hat man entweder eine Urinella dabei (ich nicht) oder setzt sich einfach an den Straßenrand, der daneben einen riesigen Graben hat. Man darf nur nicht zu weit gehen, sonst fällt man rein. Der Warnblinker dient als Beleuchtung. Dann fällt jemandem ein, dass Frank heute Geburtstag hat! Kurzerhand finden wir uns zu einem kurzen, gesungenen Geburtstagsständchen mitten im Dunkeln ein. Als ich wieder in den Landcruiser steige, entdecke ich auf dem Dach die abgefallene Trittstufe. Wenigstens die hat also noch jemand mitgenommen.
Je später – oder früher, wie man es sieht – es wird, desto skuriller werden die Begegnungen. Ein knallorangener Bus begegnet uns immer wieder. Er scheint aus Deutschland zu stammen, denn hinten steht fett „Straßenmarkierungen“ auf dem Gefährt. Plötzlich rumpeln wir laut krachend über irgendein Plastikteil. Léon fährt kurz langsamer, zuckt dann mit den Schultern. Von unserem Landcruiser war’s wohl nicht. Hoffentlich. Port Bergé oder Boriziny ist völlig menschenleer. Dann tauchen doch noch einige Menschen auf. Es sind völlig besoffene Jugendliche, die den Landcruisern laut brüllend hinterher laufen. Ich habe keine Ahnung, was sie wollen. Möchte es aber auch nicht herausfinden.
Schlafen ist übrigens nicht. Also bei mir nicht. Thorsten und Markus schnarchen im Wechsel um die Wette. Ich kann nicht schlafen. Die Straße ist viel zu rumpelig und ständig kracht und rumpelt es irgendwo. Außerdem hat Léon einen sehr zügigen Fahrstil mit minütlichen Brems- und Ausweichmanövern. Ich schlafe also nicht und starre in die Dunkelheit. Man sieht die eigene Hand vor Augen nicht. Nur das kleine Stück Straße, was von den Scheinwerfern des Autos bestrahlt wird, bekommt ein wenig Licht ab.
Um halb vier sind wir in Ambondromamy. Seit siebzehn Stunden sind wir unterwegs. Auf der Straße bietet ein Mann auf der Straße Kaffee an. Die Jungs halten an und trinken gleich einen oder zwei oder drei. Um den Kaffee auszugeben, schöpft der Mann mit kleinen Blechtassen aus seiner riesigen Thermoskanne. Eher Thermos-Eimer. Wobei schöpfen… das ist eigentlich falsch. Er gießt mit einer Blechtasse sehr kunstvoll in eine zweite ein, die er dann dem Kaffeekunden übergibt. Ein zweiter Eimer dient ihm dazu, die Blechtassen nach Verwendung auszuwaschen. Damit er auch Licht hat in der völligen Dunkelheit – Erinnerung: hier gibt es keine Straßenbeleuchtung – legt der Mann seine Base Cap auf den Boden, unter der eine riesige Lampe befestigt ist. Kleine Geldscheine wechseln den Besitzer, sie verschwinden in der Bauchtasche des Mannes. Als der Mann weiter geht und seine Base Cap-Konstruktion wieder auf dem Kopf trägt, sieht er aus wie ein kleiner Leuchtturm. Ich bin furchtbar müde, den Jungs geht es genauso. Christian fährt unser Auto weiter. Und der Unterschied zu Léon ist sehr beeindruckend. Plötzlich rumpelt und zuckelt nichts mehr. Christian ist Busfahren gewohnt – er sieht Hindernisse weit im Voraus und fährt wunderbar sanft. Da kann man dann doch mal schlafen nach 17 Stunden Autofahrt und 23 Stunden wach.