Pünktlich zum Sonnenaufgang bin ich wieder wach, sehr knappe zwei Stunden Dösen müssen heute genügen. Der Sonnenaufgang ist genauso beeindruckend wie der Sonnenuntergang vor zwölf Stunden. Wir durchqueren gerade Maevatanana. Rechts ist der Himmel tiefgolden gefärbt, links rosa-lila pastell mit wahnsinnig schönen Wolkenformationen. Im Halbdunkel halten wir kurz hinter Maevatanana an. Christian tauscht den Fahrersitz wieder gegen Léon.
Gegen zehn Uhr am Morgen erreichen wir das Hochland. Es ist kühl geworden. Ein Blick aufs Thermometer verrät kalte 27°C – gestern um die gleiche Uhrzeit hatten wir zehn Grad mehr. Da kann man schon mal frieren! Ich suche meinen Pulli unter meinem Rucksack hervor. Es wird hell, aber der Himmel ist grau und wolkenverhangen. Die letzten Stunden durchs Hochland ziehen sich unendlich. Wir umkurven noch einen grünen Hügel, noch einen und noch einen. Immer wieder tun sich neue Täler mit Reisfeldern auf und neue kahle Hänge. Auf den letzten Kilometern – die Hauptstadt ist fast in Sicht – gurken wir schneckenlangsam hinter einem roten LKW und diversen kleineren Autos her.
Als wir endlich Antananarivo erreichen, sind alle rechtschaffen müde. Ziemlich genau 26 Stunden haben wir gebraucht. Große Vorkommnisse gab es zum Glück trotz der schlechten Straße nicht. Wir fahren quer durch Tana, umkurven eine riesige Umleitung und erreichen schließlich das Office von Air France in einem Hochhaus mit Wachposten. Der Wachposten erzählt auf Nachfrage erstmal, der Flug sei eh voll – und findet sich dabei megalustig. Wir fragen trotzdem nochmal drinnen nach. So schnell geht das aber nicht. Wer ins Hochhaus will, muss sich die Hände desinfizieren und eine Taschenkontrolle über sich ergehen lassen. Und nur zu viert darf man in den Aufzug, um zu einem sehr kleinem Büro im 5. Stock zu gelangen. Hinter einem weißen Schreibtisch sitzt eine kleine, untersetzte Madagassin. Sie ist sehr erstaunt, als sie erfährt, dass wir gleich neun Leute für die Warteliste des Air-France-Fluges haben. Dass Mapy persönlich heute morgen hier war uns uns alle bereits eingetragen hat? Davon weiß sie nichts. Deutsche Botschaft? Nein, die habe sich auch nicht bei ihr gemeldet. Also trage ich mich von Hand nochmal in die Warteliste ein. Dahinter Chrissi, dann Tanala. Die Dame macht wenig Hoffnung, sagt aber, wir mögen bereits um 21 Uhr am Flughafen sein. Falls Plätze nicht belegt würden, könnte dann die Warteliste der Reihe nach nachrücken. Aber halt nur, wer auch vor Ort ist. Der Flug soll um halb eins in der Nacht von Sonntag auf Montag gehen. Als nächstes gehen Markus, Martin, Jutta und Lars in den Aufzug. Dann folgen Philipp und Katie, die allerdings wohl nicht nach Europa einreisen darf, weil sie aus den USA kommt. Und ein Flieger in die USA ist aktuell nicht geplant. Philipp überlegt deshalb, mit Katie vor Ort zu bleiben.
Als wir nach der ewigen Odysee endlich im Raphia ankommen, bin ich reichlich platt. Ein kühles Bier im Garten sorgt für bessere Stimmung. Alle sind geschafft und angespannt, denn es ist längst nicht klar, ob wir heute Madagaskar verlassen können oder nicht. Ein Telefonat mit der endlich erreichbaren deutschen Botschaft fällt knapp aus: Sie seien ab morgen weg, wir sollen uns an jemand anders wenden. Ja, vielen Dank auch für diese großartige Hilfe! Dimby hat derweil mehrfach mit der französischen Botschaft telefoniert. Die ist zwar überhaupt nicht für uns zuständig, hilft uns aber trotzdem. Sie nehmen schonmal alle Namen auf eine Liste für weitere Evakuierungsflüge auf. Und geben die Liste auch nochmal an Air France weiter – die dürften uns jetzt schon drei- oder vier Mal auf ihren Listen haben. Vielleicht.
Ich habe so einen Hunger, dass ich das bestellte Panir Butter Massala samt Reis komplett auf esse und danach noch diverse Samboza vertilge. Zum THB. Danach geht es mir besser, nur müde bin ich eigentlich immer noch. Zwei Stunden Dämmerschlaf im Auto sind einfach zu wenig. Für Schlaf ist aber keine Zeit. Eine klitzekleine Shoppingtour für Mitbringsel muss drin sein. Dimby macht am Sonntag noch das Unmögliche möglich. Eigentlich haben alle Läden zu. Nach einigen Telefonaten können wir aber doch noch hier und da einfallen, um uns mit Vanille (sehr, sehr guter), Chamäleonstatuen und Pfeffer einzudecken. Wir sind wohl die letzten Reisenden für eine lange Zeit am Handwerkermarkt. Obwohl nur ein Teil der Läden geöffnet hat, versuchen die Verkäufer recht verzweifelt, noch möglichst viel an den Mann zu bringen. (Nachtrag: Die Vermutung sollte sich leider bewahrheiten – gute zwei Jahre gibt es keinerlei Touristen mehr nach unserem Verschwinden.) Ich lasse mich zu allerlei Dingen breit quatschen, die ich nicht bräuchte. Aber mir tun die Menschen leid. Wenn die Pandemie hier losrollen wird, wird es keine medizinische Versorgung geben.
Mittendrin telefoniert Dimby schon wieder, diesmal aufgeregt nickend. Air France war am Telefon. Für Chrissi und mich sind Plätze für den Flug frei geworden. Wir sagen beide zu. Auch wenn wir nicht wissen, ob alle anderen mitkommen. Ein gutes Gefühl ist das nicht, aber wir haben wenig Wahl. Frank hat seinen Platz ebenfalls sicher. Eine Stunde später ein weiterer Anruf: Auch Tanala kann mitfliegen. Mir geht langsam auf, dass die Flugplatzvergabe nach nach der Reihenfolge der handschriftlichen Eintragungen heute Vormittag auf der Warteliste erfolgt. Daran hatte ich nicht gedacht. Hoffentlich kommend die anderen auch noch mit.
Zurück im Hotel kann ich endlich mal duschen. Nach über 30 Stunden tut das echt gut. Im neu umgebauten Restaurantraum des Raphia singen wir Frank ein zweites Geburtstagsständchen, diesmal mit Kuchen aus der Dose und Kerze. Es gibt eine Kabary für alle, die ich selten so ernst und ruhig erlebt habe. Ein Abschiedsfoto, dann geht es los.
Gegen 21 Uhr treffen wir am Flughafen von Antananarivo. Philipp drängelt sich bis zum Office von Air France vor. Dort wird ihm mitgeteilt, dass die Dame nun auf einer der vielen Wartelisten Kringel hinter Namen gemacht hat, wenn derjenige auch wirklich ganz echt anwesend ist. Nach leichtem Chaos ist klar: Nur wer telefonisch und per Mail benachrichtig wurde, darf zum Check-In. Alle anderen sollen gegen 2 Uhr morgens wieder kommen. Der Flug verspätet sich, er soll erst um 5 Uhr gehen statt um 1:30 Uhr. Chrissi, Frank, Tanala und ich verabschieden uns von den anderen. Ich hoffe noch, dass sie einfach später nachkommen. Wir reihen uns in eine sehr lange Schlange vor dem Check-In ein. Zwischendurch erfahren wir, dass ein weiterer mir bis dato unbekannter Evakuierungsflug vor zwei Tagen wohl zu einem derartigen Chaos führte, dass der Flieger am Ende nicht einmal halbvoll zurück nach Paris flog. Heute ist unendlich viel Personal unterwegs, das uns in Kuhgitter einweist und aufreiht. Erstmal passiert gar nichts. Wir warten geduldig. Und müde. Mir fallen vom Herumstehen die Augen zu. Zu aller Überraschung beginnt schon um 22 Uhr das Check-In. Eine Madagassin kontrolliert Pässe und checkt auf ihrem iPad, ob man wirklich auf den Flug gebucht ist. Es ist der einzige, der Antananarivo noch verlässt. Wir rücken im Schneckentempo vor in Richtung Check-In. Dort sind – man glaubt es kaum – alle Schalter mit Menschen besetzt. Es geht ziemlich fix, das erlebt man hier eigentlich nie. Wie erwartet ist ein Direktflug nach Frankfurt nicht möglich. Das ist mir jetzt auch schon egal. Ich fülle das Ausreisepapier aus. Der Madagasse hinter dem dazugehörigen Schalter spielt Solitaire auf seinem Computer.
Dann gebe ich Pass und Zettel ab, bekomme den Pass gestempelt zurück und wandere zum Gate. An der Sicherheitskontrolle durchleuchtet heute jeder sein Gepäck selbst. Ich begebe mich auf direktem Weg zu dem kleinen Kiosk am Rande der Wartehalle. Ein THB und ein Panini später dämmere ich auf dem Tisch vor mich hin. Ich bin unglaublich müde. Inzwischen bin ich – von den zwei Stündchen Halbschlaf mal abgesehen – 43 Stunden wach. Frank liegt längs auf den Bänken und schläft. Wenn ich mich umschaue, ist hier sowas wie die Resterampe der Reisenden unterwegs. Die Wartehalle wird mehrheitlich von sehr skurrilen Gestalten bevölkert. Aussteiger, Fremdenlegionäre, Langzeiturlauber, Sextouristen, vereinzelt zu spät gekommene Volontäre… und naja, ein paar herpetologisch Interessierte mit riesigen Fotorucksäcken, die im Sitzen einschlafen vor Müdigkeit.
Um drei Uhr plingt ein Handy. „Wir kommen mit!“, steht da. Trotz einem sehr, sehr müden Gehirn ist mir klar: Das war der Rest unseres Teams von draußen vor dem Flughafen! Wir stürzen direkt mal zurück zum Sicherheitscheck. Und tatsächlich tauchen nach und nach Markus, Martin, Lars und Jutta auf, alle sichtlich erleichtert. Sie haben eben erst Bescheid bekommen, dass sie mitfliegen dürfen.
Um halb Vier geht es zum Boarding. Ich bin so müde, dass ich nur noch die Hälfte mitbekommen. Raus aus der Wartehalle in die warme Luft, rüber zum Flugzeug bewacht von mehreren Reihen Flughafenpersonal (nicht dass noch einer abhaut!), rein in den Flieger. Ich lasse mich auf meinen Sitz fallen. Masken trägt keiner. Dafür ist die Klimaanlage so eiskalt eingestellt, dass ich direkt fröstele. Und dann passiert mal wieder nichts. Um halb fünf werden die ersten Leute im Flieger unruhig. Ich erwarte fast, dass jetzt noch ein positiv Coronagetesteter an Bord ist und wir alle wieder aussteigen dürfen. Als der Flieger endlich abhebt, falle ich direkt in einen sehr tiefen Schlaf.
Nachtrag: Im sehr kalten Paris strandeten wir erstmal, da kein Mensch am Flughafen und jegliche Anlaufstellen geschlossen waren. Charles de Gaulle komplett leer gefegt, das sieht man auch nicht alle Tage. Dank Franks Französischkenntnissen und einem sehr netten Taxifahrer fanden wir dann aber mit einem Bus voller weiterer gestrandeter Reisender zu einem Hotel, das uns noch aufnehmen wollte. Eine Pizza und viele Stunden Schlaf später konnten wir dann unsere Reise nach Deutschland planen. Busse fuhren nicht, Flieger waren gecancelt, Verleihautos durften nur bis zur letzten Verleihstation vor der Grenze gefahren werden. Schließlich nahmen wir Taxis zum Ostbahnhof, von dem aus wir mit dem Zug über Brüssel nach Köln – und dank einer sehr glücklichen Fügung – einfach weiter nach Frankfurt nahmen. Und dann kamen wir tatsächlich noch daheim an, wo wir direkt in Quarantäne landeten.