Als ich aufwache, geht gerade die Sonne auf. Aus meinem Zelt kann ich, gut geschützt durch Moskitonetze, noch auf der Matratze dösend zusehen, wie die Strahlen der Sonne über die Hügel gegenüber wandert. Es war stürmisch in der Nacht, dafür aber auch angenehm kühl.
Schließlich stehe ich auf und wandele zum Toilettenhäuschen. Dort habe ich jedoch kein Glück. Markus kommt mir gerade entgegen – es gibt einen Wassermangel. Und ohne Wasser kann man nicht spülen. Wie jemand vor uns bereits eindrucksvoll bewiesen hat. Ich frage eine kleine, zierliche Frau, ob es irgendwo Wasser gibt. Sie antwortet auf gebrochenem Französisch, dass der responsabbe d’ailleurs kommt. Aha. Amidou schlendert vorbei, er hat immer noch sein Turban-Kopftuch auf. Oder schon wieder. Ich frage, ob wir irgendwo Wasser bekommen können. Amidou nickt und verschwindet mit einer Schaufel Richtung Klo – ich hoffe nicht, dass er sie dort benutzt. Ein weiterer Guide taucht auf, dessen Namen ich nicht herausfinde. Der weiß immerhin mehr. „Es gibt Wasser am Fluss. Das muss man mit den Autos holen.“ Ach… okay. Irgendwie kommt dann irgendwo doch ein Eimer Wasser her. Kloproblem fürs Erste gelöst.
Ich schaue mich im Hellen endlich mal richtig im Camp Tattersalli um. Es liegt eigentlich sehr schön, eine Lichtung umgeben von Trockenwald. Zur zwei Seiten hebt sich der Trockenwald an einem steileren und einem weniger steilen Hang über das Camp. Direkt darunter stehen unsere Zelte. Gegenüber der Zelte liegt ein Laterithügel, von dem aus man in die bergige Landschaft sehen kann, und an dessen Hang mehrere Hütten stehen. Weitere Hütten stehen am Waldrand hinter unseren Zelten. Mitten im Camp befindet sich die große, offene Gemeinschaftshütte, unter deren Dach wir gestern zu Abend gegessen hatten. Von der Hütte geht ein überdachter Gang in Richtung Küche und Klohütten ab.
Ich schaue mir die Hütten von Camp Tattersalli an. Sie sind in einem katastrophalen Zustand. Zwei Jahre Corona und damit keinerlei Renovierungsarbeiten haben hier gewütet. Hinter unseren Zelten ist eine der Hütten komplett zerfallen, nur das Bodenpodest und eine halbe Wand stehen noch. Die Hütten am Hang stehen noch, haben aber riesige Löcher in Wänden und Dächern, teils fehlen ganze Wände. Als ich eine der Veranden über eine kleine Treppe betreten will, brechen die Stufen einfach unter mir zusammen. Die Hütten bieten einen fantastischen Ausblick in den Trockenwald. Was ich jedoch auch sehe: Diese Hütten wurden mal mit viel Liebe und Hirn erbaut. Und wären sie in gepflegtem Zustand, wäre das Camp ein toller Aufenthalt. Die Hütten bestehen jeweils aus einem Raum mit Bett, dahinter durch eine dünne Wand getrennt ist ein kleines Bad mit Dusche, Waschbecken und Toilette. Sogar Moskitonetze gab es wohl mal an den Badfenstern. Jede Hütte verfügte über einen Wassertank auf Stelzen – davon sind aber nicht mehr viele übrig. Schade um das schöne Camp. Ich hoffe sehr, dass es wieder aufgebaut wird.
Als ich weiter über den Lateritkamm des Hügels schlendere, entdecke ich Mika weiter hinten. Er sucht offenbar nach Handyempfang. Die Sonne ist nun gerade ganz zu sehen, während der Himmel über dem Trockenwald bewölkt ist. Ein wunderschöner Regenbogen spannt sich über die grünen Berge.
Andry und Christian tischen Crêpes, Ananas und Omelette zum Frühstück auf. Martin hat Salted Caramel Sauce dabei, die sich auf den Crêpes ziemlich gut macht. Ein kurzer Regenschauer geht nieder. Dabei stelle ich fest, dass das Dach der Gemeinschaftshütte erstaunlich löchrig ist. Danach kommt jedoch sofort wieder die Sonne heraus. Es wird spürbar wärmer. Ich schnüre meine Schuhe zu und schultere den Fotorucksack. Und dann warte ich. Eine Henne mit drei Küken im Anhang wandert über den Campground. Im Zickzack sucht sie nach Insekten und Reiskörnern, die vom Essen übrig geblieben sind. Die Küken stolpern ihr eher unbeholfen laut tschirpend hinterher.
Irgendwann tauchen Amidou und Salidou aus der Versenkung auf. Endlich geht es in den Wald! Allerdings nicht besonders schnell. Um ehrlich zu sein: Man kann den beiden im Laufen die Schuhe besohlen, so schleichen sie durch den Trockenwald. Da laufe selbst ich beim Tiere suchen schneller. Tanala drängelt ein bisschen herum, das Tempo erhöht sich dezent. Wir folgen einem schmalen Pfad durch den Wald bis zu einem steinigen, trockenen Bachbett. Der Wald ist sehr dicht, auf dem Boden liegt etwas Laub, unzählige dünne, verschlungene Äste winden sich überall um Bäume und Pflanzen. Eine armdicke, verschlungene Liane windet sich am Rande des Weges. Achja, und Zebu-Kuhfladen liegen überall herum. Wirklich überall. Das langsame Tempo ermöglicht offenbar, nicht in sie hineinzutreten. Die vielen Zebu-Hinterlassenschaften lassen allerdings auch erahnen, wie „gut“ dieser Trockenwald geschützt ist. Denn eigentlich ist die Nutzung von Schutzgebieten durch Zebus überall strengstens verboten. Einige Steine werden umgedreht – ein kleiner Skorpion findet sich, außerdem ein Buntfröschchen namens Mantella ebenaui und ein sehr schneller Gecko, Paroedura stumpffi. Eine Hakennasennatter schlängelt sich an unseren Füßen vorbei und verschwindet im Gebüsch.
Wir folgen einem noch schmäleren Pfad einen Hang nach oben durch den dichten Trockenwald. Und da gibt es dann auch endlich einen der ersehnten Goldkronensifakas zu sehen, nach denen Camp Tattersalli benannt wurde. Allerdings ist es nur einer. Und er sitzt sehr weit oben im Baum. Eigentlich sieht man von unten nur einen weißen Fellhintern. Querfeldein führen Amidou und Salidou uns einen anderen Hang herunter und durch jede Menge dorniges Gestrüpp und über steinigen Boden mit jeder Menge Stolperfallen. Auf einer etwas höher gelegenen Ebene sind fünf Goldkronensifakas in den Bäumen. Ein einzelner „Wächter“ sitzt alleine weit oben in einem dünnen Bäumchen und beobachtet aufmerksam die Umgebung. Drei andere Sifakas sitzen in relativ niedrigen Bäumen ein paar Meter weiter – den vierten sehe ich nicht. Der Trockenwald hier ist zwar relativ niedrig, aber auch recht dicht. Dadurch gestaltet sich das Fotografieren sehr schwierig, zumal die Sifakas irgendwie immer genau da sind, wo ich nicht stehe.
Wir ziehen nochmal weiter zu einer dritten, kleinen Gruppe. Diese Kronensifakas springen zwischen den Bäumen umher und kommunizieren mittels der typischen Sschiiii-Faaaak-Rufe. Eigentlich sind das Warnlaute, aber offenbar nehmen die Sifakas nicht uns als Bedrohung wahr – sie nähern sich uns auf weniger als fünf Meter und beobachten jeden Menschen neugierig aus sicherer Höhe. Ich stolpere fast gegen eine kleine, weiße Orchidee, die von einer Liane hängt. Eine kleine Stachelspinne hängt direkt über dem Pfad, dem ich eigentlich folgen wollte. Ich umgehe das faszinierend gewebte Netz und weiche direkt dahinter einem Wespennest aus. Schließlich wandern wir langsam zurück ins Camp. Salidou will nochmal auf der anderen Seite des Waldes schauen, ob er Kronensifakas findet, die etwas besser zu beobachten sind.
Inzwischen scheint die Sonne vom wolkenlosen, strahlend blauen Himmel. Es ist warm geworden. Salidou winkt vom Eingang des Camps – ich folge ihm mit einer deutlich geschrumpften Gruppe auf dem grasigen Weg heraus aus dem Camp, der von Pachypodien gesäumt ist. Am Rand des Trockenwaldes wendet Salidou sich auf einem Lateritweg nach rechts. Ich folge ihm durch das hüfthohe, braune und etwas scharffkantige Gras. An zwei riesigen, auslandenden Pandanus mit stacheligen Blättern vorbei geht es zu einem Laterithang, unter dem ein fast ausgetrockenetes Rinnsal Wasser läuft. Drei erwachsene Goldkronensifakas sitzen auf Bäumen am Hang weit oben im Baum. Doch sie haben zwei Jungtiere dabei, und sie sind wahnsinnig neugierig und aktiv. Die beiden jüngeren Sifakas kommen auf nur wenige Meter heran, beobachten uns ausgiebig, springen etwas weiter weg und kommen dann mit großen Sprüngen wieder zurück. Einer greift offenbar in eine Wespe, hält sich die Hand, beleckt sie und schaut leidend in die Runde. Dann springt er zu dem zweiten Jungtier und lässt sich ausgiebig bemitleiden. So geht das eine ganze Weile – ich könnte diese schönen Sifakas noch länger beobachten.
Irgendwann geht es zurück ins Camp. Auf dem Rückweg finde ich am Wegesrand auf einer Liane ein Pantherchamäleon-Männchen. Es ist strahlend grün und bordeauxrot mit winzigen, knallgelben und orangenen Farbpunkten im Gesicht und Nacken. Es sieht den Männchen in Vohémar extrem ähnlich. Leider ist es nicht sonderlich kooperativ. Einige Fotos später zieht es schon von dannen.
Vor dem Mittagessen gibt es noch eine weitere Überraschung. Eine kleine Familie wohnt in einigen Hütten hinter dem Küchenbereich: Der Wächter des Camps mit seiner Familie. Er winkt uns aus dem Camp herüber und deutet mit einem breiten Lächeln auf die Bäume und Büsche zwischen den Hütten. Ich betrete den schmalen Platz dazwischen – und staune nicht schlecht. Eine Gruppe Kronenmakis macht sich gerade über einen Busch mit kleinen, runden Früchten her. Auf der anderen Seite bietet sich dem geneigten Zuschauer ebenfalls ein interessantes Schauspiel: Ein halbierter, gelber Plastikkanister ist auf einer Art Zaun befestigt. Auf dem Zaun sitzen eng hintereinander drei Kronenmakis und trinken nacheinander vom Wasser. Insgesamt sind bestimmt zehn Kronenmakis unterwegs. Sie lassen sich von niemand stören. Ich kann bis auf einen knappen Meter herangehen. Neugierige, kleine Hände mit schwarzen Handflächen, grauem Fell und winzigen Fingernägeln greifen nach meiner Kamera. Enttäuscht wendet ein Männchen sich ab – er hatte wohl auf etwas Obst gehofft. Die Frau des Campwächters zeigt lachend, dass die Kronenmakis auf Mangos und Ananas aus sind. Andry reicht einen Obstrest aus der Küche, der von den Lemuren gierig ausgelutscht wird. Erst, als Andry und Christian zum Mittagessen mit Hühnercurry rufen, reiße ich mich von den Makis los.
Am Nachmittag unternehmt eine abgespeckte Gruppe einen zweiten, eher gemütlichen Gang in den Trockenwald. Diesmal geht es eher um Reptilien und weniger um Sifakas. Tatsächlich findet sich relativ zügig ein großer Uroplatus henkeli an einem Ast. Kopfüber hängt er an einem schmalen Baumstamm niedrig über dem Boden, die fransigen Körperanhängsel heben die Konturen des Körpers fast vollkommen auf. Der Himmel über den niedrigen Bäumen zieht sich langsam zu. Gleichzeitig verschwindet der angenehme Wind, der bis eben noch da war. Zu meiner Freude findet sich noch ein Erdchamäleon, ein Brookesia ebenaui. Ich finde, sie gehören zu den hübschesten Erdchamäleons. Neben denen aus Marojejy, natürlich.
Zurück im Campground haben sich die drei Kinder des Wächters, zwei Mädchen und ein kleiner Junge, zu uns unter dem Gemeinschaftsdach gesellt. Chrissi hat bunte Holzkreisel dabei und zeigt den Kindern, wie sie funktionieren. Mamy holt dazu ein paar Malbücher und Buntstifte aus dem Auto. Die Jungs haben mit Kanistern Wasser vom Fluss geholt, das nun auf den Dächern der Autos auf seinen Einsatz wartet. Außerdem waren sie bei der Gelegenheit kurz in Daraina, um Hühner – noch lebende – fürs morgige Essen zu kaufen. Das Beste ist aber: Sie haben eine Kühltruhe mit Eis gefüllt, um darin ein paar Getränke zu kühlen. So ein kaltes THB hat in der Hitze hier definitiv was. Ich setze mich auf eine der Bänke am Rand der Hütte. Als ich in den Trockenwald hinüber schaue, springt ein weißer Schatten durch die Baumkronen. Genau da, wo die letzten Strahlen der Sonne hinscheinen. Ich gehe näher heran – es sind tatsächlich Goldkronensifakas, die sich dort nochmal zeigen. Sie essen im Schein der untergehenden Sonne noch ein paar Früchte, bevor sie sich auf ihre Schlafplätze begeben. Ich hole nochmal die Kamera heraus – jetzt ist das Licht so gut, dass man sich die Fotos eigentlich nicht entgehen lassen kann.
Zurück in der Gemeinschaftshütte ist die Sonne hinter den Bergen untergegangen. Der Campwächter hat ein Stromaggregat angeworfen, daher leuchtet tatsächlich eine Glühbirne vor der Hütte. Das übrige Camp liegt bereits im Dunkeln. Plötzlich kracht es an den Blechen, die die Decke der Gemeinschaftshütte in der Mitte stabiliseren sollen. „Oh, eine Ratte…“, denke ich noch. Dann bricht jedoch ein riesiger Blaesodactylus boivini durchs Dach. Die haben hier schon eine enorme Größe. Beim Abendessen fehlen Frank, Lars, Mika und Dimby. Sie haben sich mit einem der Landcruiser und Amidou auf den Weg nach Benara gemacht, einem kleinen Regenwald nur eine Stunde von Loky Manambato. Sie werden erst in der Nacht zurückkehren.