Im Stockfinsteren stehe ich auf. Es ist noch kein Strom da, also sammele ich die Reissäcke im Dunkeln ein und putze mit Stirnlampe auf dem Kopf meine Zähne. Der Tag beginnt mit der üblichen madagassischen Verspätung. Statt um Viertel nach fünf ist der weiße Bus mit der maroden Windschutzscheibe erst um Viertel vor sechs da. Mosesy lädt alle unsere Vorräte ein, inklusive lebender Hühner und jeder Menge Eier, die gut geschützt in Unmengen Reis transportiert werden. Die Reissäcke mit Getränken und Klamotten, alle fein säuberlich mit Edding beschriftet, werden auf dem Dach verschnürt.
Um halb Sieben fahren wir endlich los. Wir sind keine 200 Meter weit gefahren, als Mosesys Handy klingelt. Bruno ist dran, er wollte uns nur daran erinnern, dass wir unser Mittagessen vergessen haben. Also dreht der Bus wieder und hält nochmal vor dem Hotel. 20 lange Minuten warten wir im Bus, während die Sonne längst aufgegangen ist. Setzen die denn gerade den Reis erst auf? Langsam bin ich ein bisschen genervt, wohlwissend, wie schlimm der Marsch nach Marojejy in der Mittagshitze werden kann. Endlich ist Mosesy mit etlichen vollen Tüten zurück, es geht los. In Sambava halten wir ein paar Hundert Meter weiter an einem Holzstand mit Unmengen Baguettes. Direkt neben uns stehen zwei Taxibrousse, und die sind jetzt schon voller als unser Bus. Kinderhände winken zu uns rüber, ich winke zurück und lächle. Eine Frau hat eine Ziege mit im Bus. Mosesy versucht wirklich, sich zu beeilen, aber das ist auf Madagaskar leider trotzdem nicht gerade schnell. Er muss ausdiskutieren, wessen Baguettes er kaufen soll: Die von der dicken Frau hinter dem Stand, oder die von dem jungen Mann, der eine Unmenge Baguettes mit einer Schnur zusammengebunden auf der Schulter trägt. Irgendwann einigen die drei sich. Die Baguettes wandern in den Bus. Eigentlich will Mosesy bei der Gelegenheit noch Bananen kaufen, aber leider gibt es gerade keine in der direkten Umgebung.
Endlich geht es weiter. Wir fahren aus Sambava heraus, an den Vanillefabriken vorbei und durch kleine Dörfer. Alles ist grün und blüht. Viele, viele Kurven später erhasche ich den ersten Blick auf das Gebirge von Marojejy in weiter Ferne. Ich freue mich sehr darauf, diesen fantastischen, unglaublichen Regenwald wiederzusehen. Nur der Weg dahin macht mir noch etwas Sorgen. Unterwegs begegnen uns einige rostige Taxibrousse, alle schwer und meterhoch beladen mit kunstvoll verschnürten gelben Plastikanistern. Das große Gebirge kommt näher.
Noch dreimal halten wir an, und ich schaue genervt auf die kleine Uhr über dem Fahrer. Einmal kaufen wir Bananen und Ananas in einem winzigen Hüttendorf irgendwo im Nirgendwo, und dann gleich nochmal. Später müssen wir nochmal für Zigaretten stoppen, aber die kann man praktischerweise durch’s offene Busfenster kaufen.
Kurz nach acht sind wir am Park Office vor Manantenina. Potenzielle Träger und eine Menge andere Leute aus dem Dorf trudeln gerade nach und nach ein, die meisten in Flip-Flops, viele barfuß. Ich stelle mich schonmal auf unendliche Diskussionen ein. Zu meinem großen Erstaunen geht ab hier alles „schneller“. Nach nur einer Dreiviertel Stunde haben alle sich geeinigt, wer für uns arbeiten darf, was wer trägt und wohin. Die Träger starten mit ihren vielen Gepäckstücken sofort los, und wir gehen ihnen hinterher. In wenigen Minuten haben sie uns abgehängt. Mit dem Bus das erste Stück fahren ist nicht, denn die Straße ist wohl in katastrophalem Zustand. Ist sie tatsächlich. Die zwei Brücken existieren zwar noch, aber die Straße ist eigentlich mehr eine hüfthöhe Rinne mit Löchern und Steinen. Die Temperatur ist noch erträglich, und es weht ein ganz leichter Wind.
Wir laufen durch Manantenina, immer dem lehmigen Weg folgend. Der junge Mann, der dankenswerterweise meinen Fotorucksack schleppt (ok, und die Wasserflaschen) heißt Brisco. Wie man im letzten Winkel Madagaskars an so einen Namen kommt? Keine Ahnung, aber er ist sehr nett. Tanalas Rucksack wird von Dimby getragen wie im letzten Jahr (das ist nicht unser Team-Dimby, er ist viel kleiner und schmaler). Sakilée ist leider aus irgendeinem Grund verhindert und konnte nicht kommen. Als wir durch die beiden Dörfer laufen, kommen uns viele bekannte Gesichter entgegen. Es ist ein schönes Gefühl, schon hier willkommen geheißen zu werden. Desirée kommt uns mit einem Fahrrad entgegen, und unser Koch Bi kommt aus seinem Haus und tauscht Handschläge aus, als wir vorbeigehen.
Wir laufen an Reisfeldern vorbei, unter Mangobäumen und Tamarinden durch, an kleinen Kaffeebäumen vorbei, die gleichzeitig auch als Vanilleplantage genutzt werden. Gegenüber einem Reisfeld sehe ich ein wahnsinnig toll gefärbtes, rot-orangenes Pantherchamäleon und ein sehr hübsches Weibchen der gleichen Art. Ich halte mich nicht lange mit ihnen auf, zu groß ist meine Angst, dass die verschwendete Zeit sich hinterher bitter rächen könnte. Tatsächlich wird es langsam anstrengend. Die kleinen Holzbrücken sind teils recht marode, es geht Hügel rauf und Hügel runter. Der letzte Kilometer bis zum Parkeingang wird ziemlich fies. Trotz des Schwitzens laufe ich heute zumindest ein einigermaßen normales Tempo. Schon nach anderthalb Stunden erreichen wir den Fluss. Über große Findlinge hangele ich mich auf die andere Seite. Nach zwei Stunden erreiche ich die Hütte am Parkeingang. Das kommt mir jetzt alles ganz schön schnell vor. Ich bin dieses Jahr noch erstaunlich fit. Die Wanderung ist zwar sehr anstrengend, aber nach einer halben Stunde Pause kann ich gut weiterlaufen. Gut bewährt hat sich bis hier ein winziger, batteriebetriebener Ventilator, der sogar Wasser sprühen kann. Gab’s für 5 € oder so bei Amazon. In Marojejy ist man damit König.
Im Regenwald wird es etwas kühler, aber es bleibt trocken. Keine Sintflut ergießt sich über meinen Kopf. Ich atme langsam auf. Der Pfad durch den Wald ist ohne Regen extrem gut begehbar und nicht ansatzweise so glitschig und rutschig wie im letzten Jahr. Dass Marojejy trotzdem viel Schweiß fordert, sieht man an Martin: Er kann alle hundert Meter sein Hemd auswringen. Und nein, das ist keinesfalls übertrieben, auch wenn ich das selbst bis heute so noch nie gesehen habe. Auswringen meint, dass dabei Schweiß aus dem Hemd tropft. Viel Schweiß. Unterwegs entdecken wir einen Uroplatus giganteus, der kopfüber an einem dicken Baumstamm sitzt, und an einem anderen einen Uroplatus cf. ebenaui. Auch wenn beim Laufen wenig Zeit bleibt, den Regenwald zu genießen, so ist es doch tausendmal angenehmer zu laufen als im Vorjahr. Wir haben dieses Jahr einen neuen Guide dabei, Guy. Guy ist supernett, aber er möchte uns gerne bereits auf dem Weg zu Camp Mantella gefühlt jeden Baum erklären. Das ist lieb gemeint, hilft mir aber beim Vorwärtskommen nicht. Nachdem ich zig Mal aus Höflichkeit seinen Erklärungen gelauscht habe, Guy aber nicht einen Bruchteil von meinem Schweiß verliert, beschließe ich, einfach freundlich lächelnd an ihm vorbeizulaufen und damit weiterer Baumkunde zu entgehen. Ich gedenke heute noch anzukommen.
Nach Mittag erreichen wir Camp Mantella. Direkt auf den letzten Metern springen plötzlich Bambuslemuren über unsere Köpfe. Es sind Hapalemur occidentalis, die Art wurde erst 2014 beschrieben. Nur in ein, zwei Metern Abstand bleiben die kleinen Lemuren vor mir sitzen und schauen mich mit ihren großen Augen neugierig an. Wenn das mal keine Begrüßung ist! Ich laufe beschwingt, aber klatschnass geschwitzt die Stufen zum Camp herunter. Es ist alles noch genau so wie letztes Jahr: Die Gemeinschaftshütte steht noch, und auch die kleinen Übernachtungshütten sind alle noch da. Zeit auszuruhen! Und es gibt auch gleich etwas zu Essen. Die Jungs haben jede Menge Reis mit Gemüse, Ei und Rindfleisch mitgebracht, alles ordentlich verpackt in Styroporboxen. Die Jungs schaufeln Unmengen davon auf Blechteller, und ich bekomme davon auch eine Ladung vorgesetzt. Ich kriege nicht wirklich viel herunter, und danach ist mir erstmal ein bisschen schlecht. Naja. Ich werfe noch ein bisschen DextroEnergy ein und trinke in einem Zug die zweite Flasche Wasser leer. Heißen Tee gibt’s auch.
Um 15 Uhr geht’s weiter, und ich bin noch erstaunlich motiviert. Aber langsam merke ich meine Beine, und der Weg wird doch noch ätzend. Im Gegensatz zu letztem Jahr geht es aber immernoch gut. Es geht immer weiter nach oben, und jeder Weg, der kurz nach unten führt, geht danach doppelt so weit steil aufwärts. Die Gespräche unterwegs sind längst verstummt, jeder schnauft und schwitzt alleine vor sich hin. Irgendwann stehe ich vor der Betontreppe, die so völlig unwirklich inmitten dieses zauberhaften Regenwaldes ist. Die riesigen Stufen sind schwer zu besteigen, für meine Körpergröße ist es eher Klettern. Dahinter wartet schon die Felsplatte mit der blauen Wäscheleine und ein Stück Weg voller riesiger Wurzeln, zwischen denen man nach oben zu Camp Marojejya steigt. Um halb fünf erreiche ich das Camp. Im Bach sitzt schon jede Menge sehr nackte weiße Haut, soviel wollte ich gar nicht sehen. Ich strecke kurz meine Hände in das kühle Nass, und laufe erstmal weiter nach oben. Tanalas und mein Zelt steht auf einem kleinen Vorsprung auf dem Weg zwischen Gemeinschaftshütte, Klo und den Felsen mit freiem Blick in den Regenwald. Die anderen Zelte stehen etwas ebener am Camp-Eingang und hinter dem kleinen Bach, geschützt von etwas Gebüsch. Alle sind ziemlich platt vom Marsch – und ich kann nur wiederholen, heute war es nicht ansatzweise so anstrengend wie letztes Mal. Zu meiner Freude findet sich unten am Eingang zum Camp auch schon das erste Chamäleon, ein Brookesia griveaudi. Es schaut eher gelangweilt, als ich ein Foto von ihm mache. Für mich ist das kleine, braune Erdchamäleon nicht langweilig.
Als es dämmert, finden sich alle in der Gemeinschaftshütte ein, die weit oben auf den Felsen thront und einen grandiose Aussicht bietet. Tische werden zusammengeschoben, die Jungs bringen karierte Tischdecken und Zitronengras-Tee. Ich bevorzuge mein im Wasserfall gekühltes THB und spendiere Brisco auch eines. Schnell wird es dunkel. Nein, eher zappenduster. Man sieht kaum die eigene Hand vor Augen, ohne Kopflampe geht hier gar nichts. Mosesy zeigt mir die Stirnlampe, die Tanala ihm letztes Jahr geschenkt hat. „So eine haben die ganzen berühmtem Biologen auch!“, sagt er, und großer Stolz schwingt in seiner Stimme hat. Außerdem hat er die Stirnlampe bereits so oft im Einsatz gehabt, dass der Einschaltknopf kaputt gegangen ist. Aber wer Madagasse ist, weiß sich zu behelfen: Mosesy hat einfach den Schalter einer Nachttischlampe dran gebaut, der jetzt lustig über seinem rechten Ohr baumelt.
Bei romantischem Kerzenschein gibt es Abendessen, weich gekochtes Zebu mit zerhackten Rippenstückchen. Das mit dem Hacken macht man auf Madagaskar allgemein gerne, man kann schließlich selbst Knochensplitter noch auslutschen. Dazu gibt es Reis und eine extrem leckere Sauce. Ich schaffe nur wenig davon, und genieße etwas mehr von den süßen Ananas zum Nachtisch. Ein kleiner Tipp übrigens an dieser Stelle zum Essen mit Kopflampe: Am besten ausschalten und nur die Kerzen brennen lassen. Je heller der Lichtkegel auf dem eigenen Essen, desto mehr Insekten finden sich darin wieder.
Der Regenwald ist heute Abend relativ leise. Grillen zirpen, ein paar Frösche quaken, ein leichter Nieselregen setzt ein. Eine sanfte Brise streicht durch die hohen Bäume des Urwalds und lässt die Blätter rauschen. Müde klettere ich die steilen Steinstufen von der Hütte herunter. Einer der größeren Steine ist etwas lose, man darf deshalb nur auf die linke Seite des Steins treten, sonst legt man sich auf die Nase. Auf dem Weg zum Zelt schaue ich kurz noch nach Tieren, und entdecke einen riesigen, braunen Frosch. Aber für heute muss das reichen, ich bin hundemüde – wie alle anderen auch. Schon um Acht senkt sich bleierne Stille über das Camp, nur durchbrochen von einem monotonem Schnarchen neben mir. Und draußen ein wenig Froschgequake. Und die ein oder andere Zikade.