Ich habe grandios geschlafen. Trotz der blauen Schulter, die inzwischen in der Mitte schwarz ist und drumherum in allen Farben des Regenbogens leuchtet. Ich schäle mich aus dem Bett, ziehe mich an und setze mich auf die kleine Bank vor der Tür, um meine Trekkingschuhe anzuziehen. Das Tal von Ranomafana liegt im Nebel. Der Fluss zieht träge dahin, und die Berge sind in dicke Wolken gehüllt.
Ich laufe die unendlichen Treppen gut gelaunt nach unten und setze mich auf die Veranda vor das Restaurant. Von hier kann man während des Frühstücks – es gibt Luftbaguette mit Tomaten, einer Art Käse und gekochtem Ei, dazu eine kleine Cola – wunderbar die Straße beobachten. Das alltägliche halbe Schwein (ich berichtete letztes Jahr) lässt nicht lange auf sich warten. Ich nippe an einer zweiten Cola. Der Zuckervorrat muss gefüllt werden, schließlich geht es heute ins Königreich der Treppen. Vorhin habe ich übrigens noch Wäsche abgegeben. Ich bin äußerst gespannt, wie die bei dieser Luftfeuchtigkeit trocknen soll. Hoffentlich nicht wieder über offenem Feuer?
Die anderen sind inzwischen auch da, und wir lassen uns Käsesandwichs für mittags einpacken. Am Markt von Ranomafana kaufe ich noch eine große Flasche Eau vive, die ich völlig ungehemmt in meinen bereits 14 kg schweren Rucksack stopfe. Wer wollte nicht schonmal mit 15,5 kg auf dem Rücken durch den Wald laufen? Jahaaaa, weniger kann jeder! Mein Gehirn ist da zum Glück auch ganz schmerzbefreit. Ich stelle jedes Jahr einfach wieder auf’s Neue fest, dass 15 kg in einem nassen Regenwald mit sehr vielen Treppen nicht die beste Idee auf Erden sind. Auf dem Rückweg schwöre ich mir dann, nächstes Jahr schlauer zu sein. Und dann vergesse ich es einfach wieder. Regenwalddemenz.
Schon geht es los zum Nationalpark. Es ist trocken, aber der Himmel ist grau und wolkenverhangen. Andry ist auch schon wach, auch wenn er noch reichlich schläfrig aussieht. Er fährt den kleinen Bus routiniert die kurvige Straße entlang, sammelt unterwegs noch Diamondra samt seinem rosa Kinderregenschirm auf, und lenkt unseren fahrbaren Untersatz schließlich in die gepflasterte Einfahrt des Nationalpark-Office.
Schwer motiviert laufen Dimby, José, Anna, Marco, Tanala und ich mit Diamondra die Betonstufen dahinter nach unten, überqueren die wenige Fuß breite Betonbrücke und folgen dem Weg bis zur kleinen Schranke mit dem Wächterhäuschen. Nur wenige Meter dahinter bittet Diamondra uns zu warten. Und er hat gleich eine tolle Überraschung für den Tagesbeginn: Ein Brookesia superciliaris, perfekt getarnt auf einem winzigen Ästchen. Es ist genauso dunkelbraun und nass wie das Laub um das Tierchen herum, und sitzt regungslos abwartend da. Während ich noch das Erdchamäleon bewundere, findet Diamondra aber noch etwas Besseres: Einen Uroplatus phantasticus! Ein fantastisches kleines Tier mit zauberhafter weißer Zeichnung auf orangebraunem Grund. Und der Bauch ist knallorange. Eine gute Stunde verbringen wir bei dem tollen Gecko, während Diamondra mit seinen Adleraugen auch noch ein grau gefärbtes, aber nicht minder spektakuläres Männchen der gleichen Art findet. Wow, was für ein Tag! Und wir sind noch nicht mal an der Brücke über dem Fluss angekommen. Schließlich schaffen wir es aber doch noch darüber.
Gemütlich wandern wir den nassen Weg durch den Regenwald nach oben. Überall tropft es. Die Farne am Wegrand sind voller glitzernder Wassertropfen, die Lianen sind glitschig und auf dem Boden stehen schlammige Pfützen. Diamondra hat heute wohl einen Lauf – oder sich die letzten Tage enorm gut vorbereitet. Als sich der Weg gabelt, deutet er mit dem Finger irgendwo ins Gebüsch und meint „Look, another Brookesia!“ Ich sehe erstmal nichts, und erkenne nach einer ganzen Weile doch das kleine, hell und dunkel marmorierte Erdchamäleon auf einem Baumstumpf. Ich frage mich ein bisschen, wo heute eigentlich die blauen Kaffeebohnen abgeblieben sind? Vielleicht werden die im Regen nicht so oft ins Nest getragen. Oder wir haben bisher nur Erdchamäleon-Junggesellen gefunden. Bevor ich unsere Neulinge tatsächlich und ernsthaft davon überzeugen kann, dass Kaffeebohnen und Erdchamäleons zusammengehören, finden wir noch ein paar Orchideen, die dann doch interessanter sind.
Diamondras Lächeln ist inzwischen so breit, dass es wahrscheinlich heute gar nicht mehr aus seinem Gesicht geht. Er zeigt ins Gebüsch. Auf Kopfhöhe hängen trockene Blätter zwischen dürren Ästen. Mir ist schon fast klar, dass er schon wieder einen Blattschwanzgecko gefunden hat. Ist das irre? Tagelang haben wir hier schon keinen einzigen Uroplatus phantasticus gefunden, und wir sind inzwischen locker mal bei Nummer drei gelandet. Schließlich löst Diamondra das Rätsel auf. Angeschmiegt in ein eingerolltes Laubblatt, nur die Hälfte des Körpers schaut überhaupt heraus, hängt der kleine Gecko kopfüber. Er ist so perfekt getarnt, dass ich seine Körperumrisse erst genau erkenne, als er den Kopf etwas anhebt. Ein echtes Naturwunder. Immerhin hatte ich schon das richtige Blatt im Auge, weil ich einen winzigen Geckofuß erahnen konnte. Nur wie genau der Gecko am Blatt klebt, das war mir nicht klar. Alle sind völlig baff von dem kleinen Tarnungskünstler – und Diamondras Spürsinn. Der kleine Gecko hat passend zu seinem Namen fantastische Farben: Weiße Augen mit einem roten Feuerball in der Mitte und ein leuchtend orangefarbenes Muster auf dem Bauch. Nur der Schwanz, der fehlt dem kleinen Männchen.
Als wir irgendwann gegen Mittag den Weg in Richtung Aussichtspunkt einschlagen, gibt es schon wieder einen Blattschwanzgecko. Diesmal aber kein Uroplatus phantasticus, sondern Uroplatus sikorae. Als ich meine Kamera auspacken will, fängt es an zu schütten. Aus Eimern. In Sekunden. Ich beschließe zu Gunsten meiner Kamera, mich lieber zur Hütte am Aussichtspunkt zu begeben. Im Laufschritt eile ich zu der kleinen Wegabzweigung, und erstarre, als ich auf die Plattform trete: Die Überdachung ist weg. Stattdessen liegt eine Baustelle vor mir. Gerümpel aus grünen Holzbalken, Wellblech und Infotafeln liegt kreuz und quer. Der Regen prasselt auf die kleine Baustelle, alles ist durchnässt. Was ist das denn?! Enttäuscht stelle ich mich unter einen Baum, aber ich bin längst nass. Nach einem kurzen Schutt kommt zum Glück die Sonne kurz zwischen den Wolken hervor, und verwandelt den Regenwald in ein Dampfbad. Dimby und José sind inzwischen auch am Aussichtspunkt angekommen. „They repair the roof and the terrace at the moment!“, wird mir erklärt. Ahaaa. Anna packt ihr Sandwich aus, Alexandre und Marco stehen immernoch irgendwo im Wald beim Blattschwanzgecko. Dimby und ich suchen Zuflucht unter einer ehemaligen Infotafel aus Blech, die als Dach über die Brüstung der Aussichtsplattform gelegt ist.
Etwas später verlasse ich den Aussichtspunkt wieder. Diamondra möchte mir noch etwas Besonderes zeigen, das ich vorhin nicht mehr mitbekommen hatte wegen meiner Flucht vor dem Regen – ich bin gespannt. Wir laufen zurück zu genau dem Punkt, wo vorhin der Uroplatus sikorae saß. Ein junger Madagasse in Flip-Flops steht neben dem Gebüsch, und deutet mit dem Finger auf ein kleines, grünes Blatt. Ich schaue genauer hin, und entdecke zu meiner großen Freude ein winziges Blattschwanzgecko-Jungtier. Übrigens auch Uroplatus phantasticus. Das niedliche Tierchen passt auf meinen Daumennagel, und ich mache nur ganz vorsichtig ein paar Aufnahmen von dem zauberhaften Baby, bevor wir weitergehen. Das Wetter hat offenbar doch sein Gutes: Man findet mehr Geckos.
Auf dem Rückweg fällt mir ein, dass ich die 360°-Kamera noch benutzen wollte. Also rufe ich den anderen zu, dass sie ruhig vorlaufen können, und bleibe alle zwanzig Meter für ein paar Aufnahmen stehen. Da massive Regenfälle für den Nachmittag vorhergesagt sind, nehmen wir die Abkürzung über die enorm steile Treppe. Hunderte Stufen geht es nach unten. Die anderen sind mir weit voraus. Ich packe gerade meine 360°-Kamera vor der großen Brücke am Fluss in den Rucksack, als es zu regnen beginnt. Diesmal ist es aber nicht nur ein kleiner Schutt. Es schüttet wie aus Kübeln. Ich stelle mich neben dem kleinen Bachlauf unter einen riesigen Baum, und warte. Immerhin gewittert es nicht, und es ist warm, also habe ich Zeit. Nach zehn Minuten wird mir klar: So schnell hört der Regen nicht auf. Also beschließe ich, doch zügig über die Brücke zu laufen.
Regenwald im Nationalpark Ranomafana, Region Haute Matsiatra und Vatovavy-Fitovinany, südliches Hochland, Madagaskar März 2017 – Spherical Image – RICOH THETA
Als der Regen kurz etwas weniger dicht scheint, setze ich mich in Bewegung und flitze los. Am anderen Ende der Brücke wartet José. Die anderen sind wohl trocken ans Auto gekommen, nur ich habe mal wieder zu lange gebraucht. Wir stellen uns an der Wächterhütte unter. Der Regen wird wieder stärker. Obwohl wir unter einem hohen, dichten Blätterdach stehen, ist es, als stünden wir direkt neben einem Wasserfall. Nach vielen Minuten des Wartens meint José, dass der Regen wohl nicht aufhören wird. Tja. Da hat er wohl Recht. Nutzt also nix, wir müssen das letzte Stück Weg inklusive der Treppe nach oben. Wir warten noch einen kleinen Moment, in der Hoffnung, dass José sich doch irrt… Dann rennen wir los. Wobei rennen mit 15 kg Rucksack eher relativ ist. Nach weniger als zehn Metern bin ich nass bis auf die Unterhose. José ist derweil flink und behände schon an der Treppe, und flitzt im Affenzahn nach oben. Ich schleiche eher nach oben, jetzt bin ich ja eh schon nass. José steht am Ende der Treppe unter einem Blechdach, er ist auch nicht viel trockener als ich geblieben. Wasser tropft mir von der Nase, und rinnt von den Händen über meine Hose nach unten.
Wir sehen unseren kleinen Bus vorne auf dem Parkplatz stehen. Plötzlich öffnet sich die Schiebetür, und eine Hand winkt uns hektisch, doch endlich zu kommen. Also laufen José und ich bis zum Auto. Drin sitzen Dimby, Tanala, Marco, Anna und Alexandre – und alle sind eher trocken. José und ich tropfen dagegen alle Polster voll. Innerhalb weniger Minuten sind die Scheiben von innen beschlagen.
Als wir im Hotel ankommen, verschwinde ich erstmal die vielen Treppen nach oben und unter die Dusche. Meine Schuhe sind so durchweicht, dass ich sie gleich vor der Tür stehen lasse, mit altem Papier ausstopfe und auf Flip-Flops umsteige. In Socken. Davor bestelle ich schon mal Abendessen, denn dann ist es ungefähr fertig, bis ich wieder runterkomme.
Am Abend versuchen wir es nochmal mit einer Nachtwanderung, aber unsere Glückssträhne vom Morgen scheint vorbei zu sein. Wir entdecken zwar ein Calumma crypticum-Baby und zwei Calumma oshaughnessyi in luftiger Höhe hinter einem Pandanus, aber der Regen holt uns schnell wieder ein. Nach wenigen Minuten schüttet es wie aus Eimern. Die Straße hat sich in eine Art kleiner Fluss verwandelt. Bevor wir einen der vielen Erdrutsche an den steilen Hängen abbekommen, brechen wir die nächtliche Suche nach Chamäleons ab. Schade.
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