Ich wache früh morgens auf. Regen prasselt auf das Dach des Bungalows. Es hat die ganze Nacht über geregnet. Dunkle Wolken hängen tief über den Hängen, der Fluss ist vor lauter Nebel kaum zu sehen. Meine Trekkingschuhe sind nur unwesentlich trockener als gestern. Eigentlich sind sie immer noch so nass, dass man das Wasser aus dem Leder drücken kann. Als ich mich zum Frühstücken auf die kleine Terrasse vor das Restaurant setze, nieselt es nur noch. Das halbe Schwein fährt vorbei, wir frühstücken, und fahren danach wieder los in Richtung Nationalpark. Auch heute gabeln wir unterwegs Diamondra auf, der nur schulterzuckend meint, es habe in der Regenzeit schonmal mehr geregnet. Und heute niesele es ja nur.
Als der kleine, weiße Bus in die gepflasterte Einfahrt des Nationalpark-Office einbiegt, setzt der Regen wieder in voller Stärke ein. Wir stellen uns oben in dem kleinen Museum unter, das einen Teil des Park-Office darstellt. Diverse Utensilien der hier lebenden Tanala, dem Volk des Waldes, sind hier ausgestellt. Die Betonung ist übrigens anders als beim exakt gleich ausgesprochenen Tanalahy, Chamäleon, und daher ist eine Verwechslung ausgeschlossen. An den Wänden des kleinen Museums hängen plakatgroße Drucke schlechter Fotos. Reptilien gibt es im Park laut Madagascar National Parks (MNP) wohl gar keine, denn nur ein einziges, winziges Foto eines sehr kleinen Schuppentiers lässt sich finden. Obwohl wohl kaum eine andere Familie auf Madagaskar derart zahlreich vertreten ist.
Endlich setzt der Regen kurz aus. Wir stapfen los, der Boden ist völlig aufgeweicht. Bei jedem Schritt sinken meine Schuhe im Schlamm ein. Wasser tropft von den Bäumen, von Farnen und bildet kleine Rinnsale zwischen Moos und Steinen. Keine hundert Meter vom Parkeingang, direkt an der Treppe, entdeckt Diamondra ein wunderschönes Weibchen von Furcifer balteatus. Sie ist kugelrund, wahrscheinlich bis oben hin voller Eier. Langsam schiebt sie sich einen dünnen Baumstamm nach oben. Bevor einer von uns zum Fotografieren kommt, überholt eine riesige Gruppe Polen uns auf der Treppe. Lautstark drängeln sie auf den glitschigen Stufen vorbei, der ein oder andere hält eine Handykamera in Richtung des Chamäleons. Dann tobt die Meute weiter, wir hören sie noch aus fünfzig Metern laut palavern. Die Überreste der polnischen Reisegruppe entdecken wir, als wir weiter laufen. Alle paar Meter liegt Müll im Regenwald: Bonbonpapierchen, Kaugummipäckchen, Keksverpackungen. Wir sammeln den Müll in einer Tüte, um ihn später an geeigneterer Stelle zu entsorgen.
Regenwald im Nationalpark Ranomafana, Region Haute Matsiatra und Vatovavy-Fitovinany, südliches Hochland, Madagaskar März 2017 – Spherical Image – RICOH THETA
Diamondra hat einen sehr treppenreichen Weg ausgesucht – das ist in Ranomafana nicht so wirklich eine Kunst, es gibt ja reichlich davon, aber heute sind es wirklich enorm viele. Unendlich viele Stufen tigern wir nach oben. Immer weiter und weiter. Mich beschleicht der leise Verdacht, dass das die Treppen zum Wasserfall sind? Sind sie nicht, irgendwo biegen wir zig Mal ab und verschwinden im dichten Regenwald. Endlich kommt die Sonne raus, und plötzlich erstrahlt der Himmel in leuchtendem Blau. Durch das Blätterwerk kann man ihn mehr erahnen als sehen.
Ich nutze den Tag heute für mehr 360°-Bilder. Der Regenwald zeigt sich heute von seiner nass-sonnigen Seite. Urwaldriesen lassen mich staunen, Lianen voller Flechten hängen zu beiden Seiten eines kleinen Flusses herab, das Wasser bahnt sich gurgelnd und spritzend seinen Weg. Es ist wirklich ein fantastischer Wald. Eine winzige Schlange versteckt sich im Moospolster eines abgebrochenen Baumstammes, der quer über den Weg liegt. Nur wenige Meter voneinander entfernt sitzen zwei Brookesia superciliaris, beide enorm gut getarnt zwischen kleinen Ästchen und Laub. Auf dem Rückweg aus dem Park begegnet uns sogar noch ein Blattschwanzgecko auf einem toten Blatt. Meine neue Hose erweist sich heute übrigens als semi-praktisch. Außen sieht sie nach wenigen Minuten wieder trocken aus, innen schwitze ich allerdings wie irre, und der Schweiß kann dank des wasserdichten Stoffs nicht nach außen.
Gegen Mittag bin ich mit den anderen zurück im Hotel. Ich bestelle nur einen kleinen Obstsalat, das muss für tagsüber reichen. Wir brechen wenig später nochmal auf, und folgen der Straße aus Ranomafana heraus und Richtung Küste. Schon nach wenigen Kilometern ändert sich die Vegetation. Kahle Hügel, nur von Gras bewachsen, wechseln sich mit kleinen Bananenplantagen ab, dazwischen liegen immer wieder Hüttendörfer. Am Straßenrand bieten provisorische Stände aus Ästen Ananas und Jackfruits an. Es ist wärmer als im Regenwald und weniger feucht. In einem der Dörfer halten wir an, um nach Calumma parsonii parsonii zu suchen. Wir finden auch zwei wirklich schöne, große Männchen, ein älteres und ein jüngeres. Sie sind beeindruckend ruhig und entspannt, und stören sich sehr wenig am Besuch.
In einem kleinen Dorf der Tanala möchte ich noch ein paar Malbücher verteilen. Ein alter Mann im schwarz-weiß kariertem Flanellhemd, schwarzer Stoffhose und vergilbter Basecap ist der Sprecher des Dorfes. Und vermutlich auch der Dadabe der Rasselbande kleiner Kinder, die neugierig hinter der Lehmhütte hervorschauen, sich aber nicht näher herantrauen. „Wieviele Kinder gibt es hier denn?“, fragt Dimby auf Madagassisch, nachdem Dadabe seinen Segen zu unseren Malbüchern gegeben hat und mit großen Gesten verkündet, dass er sie zu würdigen wisse. Die Frage nach der Zahl der Kinder löst offenbar Diskussionen aus. Mehrere jüngere Frauen beginnen, Namen aufzuzählen, aber sie kommen zu keiner genauen Zahl. So genau weiß hier wohl gar keiner, wieviele Kinder in den vielleicht sechs oder sieben Häusern und Hütten leben. Zu einem Konsens kommen die bunt gekleideten Frauen aber: Sieben Kinder sind in der Schule! Alles klar. Schließlich verteile ich an jedes anwesende Kind ein Malbuch samt Buntstiften, und gebe dem alten Mann noch einen ganzen Stapel so dazu. Die Kinder sind unheimlich schüchtern, freuen sich aber sehr über die Geschenke. Als unsere kleine Gruppe das Dorf verlässt, tauen die Kinder wieder auf. Lautes Gejubel und Gequietsche kann ich hören, bis ich in den Bus steige.
Der Tag ist noch lange nicht zu Ende. Heute ist volles Programm angesagt. Nach einer kurzen Verschnaufpause im Hotel brechen wir zur Nachtwanderung auf, obwohl es noch hell ist. Als wir die kurvigen Straßen hinter Ranomafana nach oben fahren, bricht die Dämmerung herein. Oberhalb des Centre ValBio stellt Andry das Auto am Straßenrand ab. Heute regnet es nicht. Aber die Luftfeuchtigkeit ist so enorm hoch, dass man im Schein der Taschenlampen einen feinen Nebel aus winzigen Wassertropfen sehen kann. Langsam fahre ich mit dem Lichtkegel der Kopflampe Gebüsch und Bäume ab. Wo es aufleuchtet, schaue ich genauer hin. Zu meinem großen Erstaunen finden wir die Chamäleons, die wir gestern bereits erspäht hatten, an fast den gleichen Schlafplätzen wieder. Ein großes Calumma oshaughnessyi sitzt sogar auf dem gleichen, für sein Gewicht eigentlich viel zu dünnem Ästchen hinter einem Pandanus. Im Schein der Taschenlampe werden die Kameras gezückt.
Von weiter oben entlang des Weges ruft Alessandre, dass er einen Mausmaki im dunklen Geäst entdeckt hat. Es bleibt nicht der einzige des Abends. Etliche der winzigen Lemuren huschen in den Bäumen umher, springen zwischen den Ästen umher und lecken Nektar aus großen Blüten. Sie sind wirklich niedlich, nur zu schnell für ein wirklich gutes Foto. Da sind mir Chamäleons doch lieber! Inzwischen haben Diamondra und Dimby vier Calumma oshaughnessyi diverser Alterklassen entdeckt, und ich finde immerhin selbst ein Calumma cf. nasutum. Auch ein knallgrünes Calumma glawi, denen ich übrigens wirklich sehr wenig Intelligenz zuspreche, findet sich nach einiger Zeit. Für viele mag es todlangweilig sein, mit einer Taschenlampe Bäume und Büsche systematisch abzuleuchten und nach Tieren zu durchsuchen. Für mich ist es das Highlight des Tages – zugegeben, neben der Freude der Kinder an den Malbüchern. Man weiß bei solchen Nachtwanderungen im Voraus nie, was man findet, und das macht den Reiz der Sache aus. Manchmal findet man alle paar Meter ein Chamäleon, manchmal über einen ganzen Kilometer nur Insekten.
Nach zwei Stunden reicht es mit dem nächtlichen Glück. Ich laufe gemütlich zu unserem kleinen Bus zurück, wo bereits die anderen warten, und wir fahren zurück ins Dorf von Ranomafana. An einem Steinhaus direkt an der Straße halten wir an. Tische und provisorische Stühle – eine Bierkiste tut es auch – werden vor das Haus gerückt. An einem kleinen Grill daneben werden Brochettes, kleine Zebuspieße, gegrillt. Dazu gibt es eine hervorragende, optisch etwas fragwürdige Erdnussauce und frittierten Maniok. Das Essen ist grandios, es dauert aber – ganz Madagaskar – ewig, bis auch nur die Hälfte der Spieße gegrillt ist. Die Zwischenzeit füllen wir mit interessanten Gesprächen. Eine schmale, beige Katze gesellt sich zu uns unter den Tisch – was Marco zu spontaner Flucht veranlasst. Er findet aber wenig später einen dürren Hund, der die Katze zuverlässig zumindest auf Abstand hält. Der arme Vierbeiner hat reichlich Narben am Hals und humpelt. Zumindest heute Abend wird ihn jedoch niemand vertreiben, und möglicherweise fällt zufällig das ein oder andere Stück Maniok auf den Boden.
Als ich spät am Abend die Treppen zu meinem Bungalow nach oben krieche, sind meine Füße schwer wie Blei. Ich bin hundemüde. Die vielen Stufen laufe ich im Schneckentempo. Meine Muskeln fühlen sich an, als hätte jemand auf ihnen getrommelt. Ich habe mich noch von Diamondra verabschiedet und ihm für die tolle Zeit gedankt. Er ist einfach der beste hier für Reptilien. Müde schließe ich die Holztür des Bungalows auf, dusche kurz noch und falle wie erschlagen ins Bett.