Um Viertel vor Fünf klingelt der Wecker. Müde stehe ich auf, und genauso müde sitze ich ein paar Minuten später vor dem Bungalow und warte auf die anderen. Es ist stockfinster. Am Horizont ist ein winziger heller Streifen zu erahnen. Kurz nach Fünf habe ich keine Lust mehr zu warten und laufe zu dem kleinen Parkplatz gegenüber des Hotels. Da sind dann tatsächlich auch schon Andry, José und Dimby. Wir packen alles Gepäck ins Auto. Eine nackte Madagassin läuft an uns vorbei, anscheinend hat sie nicht damit gerechnet, dass um diese Uhrzeit schon Leute unterwegs sind. Ihr – wahrscheinlich – Mann läuft wenig später vorbei, ebenfalls eher spärlich bekleidet.
Dann geht es los. Andry fährt, als würde er ein Taxibrousse lenken. Gebremst wird wenig, und schnell gefahren wird viel. Ich döse mit einem Campingkopfkissen an der Scheibe des Autos vor mich hin. Um sieben weckt Dimby mich. Wir sind in Ambahorotsy, einem kleinen Hüttendorf irgendwo nördlich von Toliara. Hier wird Toaka gasy hergestellt, der traditionelle Rum, und ich wollte mir das doch mal ansehen…? Gähnend klettere ich aus dem Auto. Haufenweise kleingeschredderte Tamarinden- und Zuckerrohrschnipsel liegen hinter den Hütten. Es riecht nach Silage. Siliert wird hier gewissermaßen auch, denn die Schnipselmasse wird in mit Lehm abgedichteten Ölfässern gegoren. Wieviel Öl in den Fässern noch steckt, will ich lieber gar nicht wissen. Der Rum selbst wird in ebenso riesigen, verdreckten Ölfässern gebrannt, der Alkhol mit einer improvisierten selbst gebastelten Apparatur eingesammelt. Das Kühlwasser, was bei der Destillation helfen soll, ist eine widerliche braune Schlacke. Am Ende der wenig vertrauenserweckenden Apparatur kommt transparenter Rum heraus und tröpfelt von einem schmutzigen Baumwollfetzen in eine Flasche. Während ich nur die Nase über eine der Rumflaschen – alte Colaflaschen – halte, beobachte ich Andry dabei, wie er gerade über zwei Liter des Höllengebräus verhandelt. Interessant. Meines Wissens ist es verboten, den selbst gebrannten Rum mit nach Tana zu nehmen. Aber kontrollieren wird uns sowieso niemand. Bevor ich wieder einsteige, kaufe ich mit Josés Hilfe noch ein paar merkwürdige, bleischwere Kuchen von einer Frau. Je eine Plastiktüte steckt in den gugelhupfartigen Gebäcken, da hinein steckt man dann den Kuchen, wenn man ihn nicht aufessen kann.
Ich steige wieder ins Auto, und wenig später fallen mir wieder die Augen zu. Das Auto braust auf den schnurgeraden Straßen vor sich hin, und leise madagassische Musik dudelt aus den Lautsprechern. Kurz vor Sakaraha werde ich wieder wach. Niemand ist heute mit Waffen unterwegs, das scheint tatsächlich nur ein Sonntagsphänomen zu sein. Irgendwo am Rande des Hochlandes halten wir an, und José und Dimby kaufen einen riesigen Korb voller Äpfel. Und irgendwas gelbes, was furchtbar sauer schmeckt. Als ich das nächste Mal aufwache, befinden wir uns in der Ihorombe-Ebene. Grauer Nebel liegt über der Landschaft, es nieselt. Der Anblick ist merkwürdig für eine Gegend, in der die meiste Zeit des Jahres die Sonne vom wolkenlosen Himmel brennt.
In Ambalavao essen wir zu Mittag. Eine Viertelstunde vorher bestellt Dimby unser Mittagessen schon per Telefon, damit es schneller geht. Im Garten des Bougainvilles treffen wir noch Adrian, den Chef des Anja Community Reserves. Er zeigt mir hübsche, bunte Furcifer lateralis im Garten hinter den Hütten, und ein Furcifer oustaleti-Weibchen findet sich in einem niedrigen Baum direkt daneben ein. Dann steigen José, Tanala, Dimby und ich wieder ins Auto. Wir fahren und fahren, und fahren. Je weiter wir ins Hochland kommen, desto kühler werden die Temperaturen, desto kurviger werden aber auch die Straßen. Immer langsamer kommen wir voran. Wir sind erst 80 km vor Ambositra, unserem Tagesziel, als die Dämmerung hereinbricht und es schlagartig stockfinster wird. Ich denke mir nicht so viel dabei, wir sind ja bald da.
Das einzige Licht, was die Straße erhellt, ist unser Auto selbst. Rund 20 Kilometer vor Ambositra tauchen vier oder fünf Männer im Licht der Scheinwerfer auf. Andry fährt fast Schritttempo, da es hier relativ kurvig ist. Die Männer sind in lange, bunte Gewänder gehüllt, tragen Hüte und zu meinem Unbehagen sind sie leider bis an die Zähne bewaffnet. Sie laufen alle vier in einem merkwürdigen Trippelgang, ziemlich schnell, aber ohne zu joggen. Dimby meint leise, dass es dahalos sind, Banditen. Was sie so weit im Hochland machen? Eigentlich gibt es sie nur im Süden. Hier haben sie nichts zu suchen. Hier gibt es eigentlich gar keine dahalos. Nur: Das da draußen direkt vor unserem Auto, das sind definitiv welche. Es sind nur vier, also passieren wir sie schnell und fahren weiter.
Nur ein paar hundert Meter weiter treffen wir jedoch eine weitere Gruppe, und die ist bedeutend größer. Das Licht der Scheinwerfer wirft gespenstische Schatten auf die hageren Gesichter. Ein paar drehen sich um, emotionslose Blicke, keine Überraschung, keine Regung der Mimik. Die meisten ignorieren unser langsames Auto. Speere glänzen. Einige tragen Maschinengewehre über der Schulter. Es sind bestimmt hundert Männer. Andry hupt ungehemmt, als einige ihm vor dem Auto herumlaufen. Oh Mann… Gänsehaut und leise Furcht macht sich im Auto breit. „Alles dahalos… da muss etwas Größeres im Gang sein“, murmelt jemand. „Was meinst du damit?“, frage ich. „Sie überfallen ein Dorf. Nicht das Licht im Auto anmachen.“, ist die nicht sehr beruhigende Antwort. Klasse. Und wir mittendrin. Würden diese Männer unser Auto anhalten, wir könnten nichts dagegen tun. Gar nichts. Hier ist weit und breit niemand. Handynetz gibt es nicht, und Waffen hätten wir sowieso gar nichts entgegen zu setzen. Langsam steigt in mir eine düstere Ahnung aus, wie schnell ein Raubüberfall passiert ist. Und wie schnell man dabei tot in irgendeinem Gebüsch landet. Ohne, dass irgendwer irgendwo etwas davon mitbekommen würde. Einfach so.
Vorsichtig luge ich aus dem Fenster. Am Straßenrand laufen die Männer in Reihen zügig voran, die Augen nach vorne gerichtet, als ob sie ein Ziel anvisieren würden. Wie eine kleine, barfüßige Armee. Sie sind leise, obwohl es so viele sind. Viele tragen die langen Gewänder, aber längst nicht alle. Einige sind auch nur in abgerissenen Jeans und einem Tuch um den Oberkörper unterwegs. Ich sehe fast nur Hüte von Volksgruppen des Südens. Ihre Heimat liegt eigentlich Kilometer von hier entfernt. Manche der Männer tragen Dolche und Macheten am Gürtel, andere alte Gewehre. Das Metall reflektiert das Licht, das unser Auto gegen die Menschenmassen wirft. Der Wald entlang der Straße ist finster, nichts außer den Männern, die das Licht unseres Auto bescheint, ist zu sehen. Alles drum herum versinkt in völliger Schwärze. Das Gedränge wird dichter, und ich halte die Luft an. Es dauert nur Minuten, dann haben wir die meisten Männer unbeschadet passiert. Ob dabei mitspielt, dass mehr Madagassen als Vazaha im Auto sind, sie uns hinten gar nicht gesehen haben mangels Licht oder sie einfach gerade keine Lust oder Zeit haben, noch ein Auto zu überfallen, weiß ich nicht. Ich möchte es auch gar nicht wissen.
Zwei hundert Meter weiter vorne entdecken wir den Rest der Gruppe. Das ist die Vorhut, Späher könnte man sagen. Sie sind in kleine Einheiten aufgeteilt, die zur großen Masse der Banditen hin mehr werden. Auch die Späher sind in dem unheimlichen Trippelgang unterwegs und schwer bewaffnet. Insgesamt sind es an die 150 dahalos, die wir im Stockfinsteren passieren. Warum laufen sie so offensichtlich auf der Straße? Wie wiele sind noch im Gebüsch? Und was haben sie vor? Fragen schießen mir durch den Kopf.
Doch der Spuk ist noch nicht vorbei. Als wir die Spitze des Trupps überholen, entdecken wir rechts von der Straße ein riesiges Lager. Mehrere große Lagerfeuer brennen, Zebukarren samt der dazugehörigen Zugtiere scheinen auf einer Seite zu stehen, und schwarze Gestalten huschen dazwischen umher. Im Stockfinsteren sind nur Umrisse zu erkennen, die im Schein des Feuers unheimlich flackern. Die Szenerie sieht aus wie in einem schlechten Wildwest-Film. Nur, dass das hier echt ist. Und kein Spaß. „Das ist ihr Lager…“, murmelt es im Auto. Da kann einem schon mal komisch werden. Wir fahren ungehindert weiter.
Erst, als wir die ersten Lichter von Ambositra sehen, atmen alle hörbar erleichtert auf. Keiner verliert ein Wort darüber, was hätte passieren können. Nur zu Abend essen möchte irgendwie keiner besonders viel. Die bizarre Begegnung steckt allen in den Knochen. Ich bin froh, dass wir nicht gerade inmitten der Banditen eine Panne hatten oder sonst wegen irgendwas noch anhalten mussten. Als ich frage, ob man diesen Riesentrupp Banditen nicht der Polizei melden sollte, ernte ich nur ein müdes Lächeln. „Hast du den Polizeiposten in Ambositra nicht gesehen? Am Ortseingang?“, fragt Tanala. Ja, doch. „Sind das alle?“ – ich weiß die Antwort schon. Der „Polizeiposten“ am Ortseingang war eine heruntergekommene Holzhütte, eher eine Bruchbude. Die Besatzung habe ich auf dem Hinweg gesehen: Zwei uniformierte Männer in Flip-Flops, deren einzige Bewaffnung aus Trillerpfeifen bestand.
Ich habe mich noch nie unsicher gefühlt auf Madagaskar. Heute für einen kurzen Moment schon. Morgen geht es zurück nach Antananarivo, und damit ist die Reise in den Süden beendet. Meine Madagaskarreise für dieses Jahr ist aber noch nicht zu Ende, denn für mich geht es noch in den Norden.
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