Die Nacht war ätzend. Ich habe vielleicht zwei Stunden geschlafen. Ich habe Halsweh, Husten und die Hunde haben ständig ohne Ende unter unserer Hütte gebellt. Also quasi direkt neben mir dank der vielen Löcher im Boden. Um drei Uhr nachts sind zig Männer draußen herumgelaufen, haben sich auf Madagassisch unterhalten und schließlich wurde ein Boot angelassen, mit dem alle verschwanden. Als ich aufstehe, liegt der beige Hund immer noch direkt vor der Tür der Hütte. Und die Seegurkendiebe sind weg.
Am Morgen tauchen die beiden local guides doch noch auf. Recht lustige Gesellen, die beiden. Gestern waren sie angeblich in der Kirche. Den ganzen Abend. An einem Dienstag. Überhaupt haben die beiden einen merkwürdigen Humor. Ihnen fällt nämlich genau heute auf, uns mitzuteilen, dass man hier keine Tageausflüge in den Regenwald unternehmen kann wie versprochen. Nee nee, da bräuchte man schon Zelte und Kochutensilien und Köche, man müsse vor Ort nämlich übernachten, und da lägen noch sieben Kilometer Weg dazwischen. Die man zu Fuß laufen müsste. Samt Gepäck. Träger? Nee, gibt es keine. Achja, und zwei Flüsse müsste man durchschwimmen. Man könnte sich jetzt fragen, warum das alles den zweien jetzt, sechs Monate nach vielen Telefonaten mit Dimby, einfällt. Aber das nutzt jetzt auch nichts mehr. Kurzerhand stimmen wir ab: Wer will früher nach Nosy Nato? Das Veto fällt eindeutig aus: Alle. Also hängt Dimby sich ans Telefon und organisiert, dass wir einfach etliche Tage früher kommen können.
Parallel gibt es „Frühstück“. Das heißt hier, es gibt altes Baguette. Und Zucker. Sonst nichts. Da trink ich lieber ein THB. Der Restaurantbetreiber hat im Übrigen keinerlei Ahnung, was er eigentlich wem für was berechnen will. Er hat da so eine „Gesamtrechnung“ geschrieben. Da steht also einfach irgendein skurriler Betrag auf Papier, und irgendjemand von uns soll das zahlen. Und Abendessen soll bitte auch zahlen, wer gestern gar nichts gegessen hat. Wieder hilft Dimby aus der Klemme…und dividiert mühsam alles auseinander.
Endlich kommen wir aus dem Loch von Manompana heraus. Die Landcruiser gondeln wieder zurück, den gleichen Weg, den wir gekommen sind. An der letzten schrottreifen Fähre von gestern halten wir an, sie liegt heute leider auf der anderen Seite des Flusses. Wann sie kommt? „Gar nicht“, lautet die prompte Antwort von Tinah. Die Fähre hat nämlich gar kein Benzin, und keinen Motor. Ergo baut Jonathan die Batterie aus seinem Landcruiser aus, und schickt einen Mann im rosa Hemd für 500 Ariary in einer Piroge über den Fluss, um Batterie und etwas Benzin an die Fähre zu übergeben. Es klappt. Nach einer halben Stunde kommt die Fähre zu uns rüber getuckert. Also Batterie wieder ausbauen, in Jonathans Auto einbauen, alle Autos auf die Fähre bugsieren und wieder raus mit der Batterie aus dem Automotor…
Schließlich kommen wir am anderen Ufer an, und ein paar Zebus rennen am Strand entlang. Die Sandpiste führt uns bis zu einer provisorischen, aus Holzbohlen gelegten Brücke. Ein kleiner Junge hat aus Ästen eine Art Schranke an diese merkwürdige „Brücke“ gebaut. Er winkt, wir sollen über die Brücke fahren anstatt durch den kleinen Fluss links davon. Tinah winkt zurück, lacht nur und fährt einfach durch die Furt. Er sagt, der kleine Junge nehme Geld dafür, Leute über die Brücke zu lotsen – obwohl er gut genug wissen müsste, dass man direkt daneben auch sicher durch’s Wasser fahren kann. Selbst gebastelter Minijob für madagassische Kinder sozusagen.
Irgendwo dahinter biegen wir von der RN5 ab, denn wir wollen zum Fährschiff nach Antsiraka, das uns auf kürzestem Weg nach Nosy Boraha (besser bekann unter seinem französischen Namen St. Marie) bringt. Tinah kennt sich hier auf der Straße etwas weniger aus, und fragt hin und wieder nach dem Weg. Die Antworten sind, typisch madagassisch, eher abenteuerlich. Der erste Mann sagt etwas von 24 km, der zweite spricht von fünf, und der dritte sagt zwölf. Einer gibt wenigstens achselzuckend zu, dass er es nicht weiß und von dem Dorf noch nie gehört hat. Schon nach wenigen Metern Sandpiste stehen wir vor einer Art See. Gut zwanzig Meter lang Wasser, und es scheint auch tiefer zu sein. Tinah hält an, stellt sich in die offene Tür des Landcruisers und versucht die Wassertiefe abzuschätzen. Nach und nach kommen alle Fahrer barfuß angelaufen und fangen an, durch das stehende Gewässer zu waten. Wo man fahren kann, wird mit Ästen markiert. In der Mitte ist eine ziemliche Untiefe – da muss man leider durch. Mit Schwung fährt Tinah ins Wasser, es schwappt direkt über die Motorhaube und spritzt bis auf’s Dach. Die ersten Meter gehen gut, dann kippt das Auto vorne plötzlich tief ein – zum Glück ist es nur ein kleines Loch. Erleichtert landen wir auf der anderen Seite des Wassers.
Mika hat weniger Glück. Er bleibt mit dem Landcruiser einen Moment lang im Schlamm stecken, und Wasser dringt ins Auto. Als er und seine Mitfahrer die Türen auf der anderen Seite des Gewässers öffnen, ergießt sich ein Schwall braune Brühe auf den Boden. Mikas Auto bekommt kurzerhand den Spitznamen „das Boot“. Immerhin ist nichts an Ausrüstung kaputt gegangen, nur ein paar Schuhe und Füße sind sehr nass geworden.
Aber das war nur der Anfang. Noch etliche weitere „Seen“ müssen wir durchqueren. Und dann besteht der Weg einfach nur noch aus Wasser, es gibt gar keinen trockenen Pfad mehr. Mich beschleicht der Verdacht, dass wir gerade durch ein Reisfeld fahren. Denn den Weg, auf dem wir fahren, und das Reisfeld nebenan kann ich optisch nicht einmal voneinander unterscheiden. Es ist eine regelrechte Wasserstraße – nur fahren wir leider kein Boot. Tinah hat irgendwann die Nase voll vom ständigen Aussteigen und Wassertiefen-messen. Er drückt auf’s Gas, wird sind nämlich schon spät dran, und fährt einfach durch alles durch. Es ruckelt, rumpelt und Wasser schwappt ab und zu in die offenen Fenster herein.
Schließlich erreichen wir eine sehr lichte, kleine Baumschonung. Chrissi ist übel von der Buckelpiste (und vielleicht einem Hauch Sonnenstich), und Tinah bietet besorgt diverse Bäume „zur Erleichterung“ an. Als der Weg kurz etwas trockener bleibt, wird er auch enger. Gebüsch reicht rechts und links so eng ans Auto heran, dass wir die Seitenspiegel einklappen. Hinter ein paar Hütten kommt uns in halsbrecherischem Tempo ein mit THB- und Colakisten beladener Truck entgegen. Tinah hupt wie irre, und der Truck weicht abrupt zur Seite aus – und mäht dabei einen kleinen Baum einfach um. Tinah ruft dem Fahrer noch zu, dass da noch drei weitere Autos hinter uns kommen. Wir hoffen, dass er es gehört hat.
Der Weg beginnt sich zu ziehen. Wieder ist es mehr eine Wasserstraße. Weder Tinah noch ich wissen, ob wir hier eigentlich richtig sind. Doch irgendwann nach Mittag erreichen wir tatsächlich ein paar Hütten, und ein Schulschild bestätigt, dass wir in Antsiraka sind. Das Dorf ist merkwürdig in die Länge gezogen, und auch hier steht alles unter Wasser. Wie das wohl mitten in der Regenzeit ausschauen mag? Jetzt hört sie ja eigentlich gerade auf. Enten schwimmen in den Reisfeldern, Menschen sind kaum zu sehen. Schließlich landen wir an einem Sandstrand direkt an der Küste. Der Indische Ozean liegt vor uns. Unter einem Baum sitzen Männer und Frauen mit Taschen, sie haben auf uns gewartet. Eigentlich sollte das Fährboot bereits vor zwei Stunden fahren. Wir verabschieden uns von den Jungs, wegen der Verspätung fällt das Kabary kurz auf. Sie fahren die Landcruiser wieder zurück nach Tana. Dimby kommt mit uns nach St. Marie. Über den Sand laufe ich zum Boot.
Apropos Fährboot – es ist eher eine Nussschale. Eine recht alte Nussschale, die samt Gepäck und allen Leuten recht tief im Wasser liegt und leicht überbesetzt ist. 35 Mann sitzen darin. Schon nach wenigen Metern, die wir uns vom sicheren Ufer entfernen, wird mir mulmig. Der Wellengang ist recht gewaltig für das winzige Boot. Dass rechts vor mir eine Frau sich betend an einen Holzpfosten klammert, macht es auch nicht besser. Wegen der spritzenden Wellen lassen zwei Männer durchlöcherte Planen an den Seiten des Boots herunter. Da fällt gar nicht auf, dass Chrissi und der ein oder andere mehr sich bei der Fahrt mal kurz aus dem Boot lehnt und die Fische füttert. Angeblich dauert die Überfahrt nur 20 Minuten. Es werden madagassische 20 Minuten, in Europa würde man es eher eine Stunde nennen. Ich bin extrem erleichtert, als wir sicher das Ufer von Nosy Boraha erreichen.
Ich setze mich erstmal auf eine kleine Betonmauer und hole tief Luft. Geschafft! Und zurück in der Zivilisation. Auf uns warten bereits etliche gelbe Tuk-Tuks, motorisierte Dreiräder. Wie die Minions stehen sie aufgereiht am Straßenrand. Wir laden Koffer und Taschen ein, und besteigen je zu zweit eines der gelben Gefährte. Dann geht es los. Mit gemütlichen 30 km/h tuckern wir die Küste entlang. Alles grünt und blüht, wenige Häuser passieren wir auf der Fahrt. Tanalas und mein Tuk-Tuk fährt ziemlich ruckelig, aber die Fahrt ist lustig. In Ambodifotratra, der Hauptstadt St. Maries, halten wir kurz an einem winzigen Supermarkt an. Haupt“stadt“ ist ein bisschen übertrieben, es ist eigentlich nur ein größeres Dorf mit einigen besseren Hotels.
Irgendwo dahinter halten alle unsere Tuk-Tuks an. Ein besoffener Polizist mit böser Alkohol-Fahne schwankt zwischen den angehaltenen Tuk-Tuks herum und will irgendwelche Papiere sehen. Ines‘ und Chrissis Fahrer sieht das offenbar nicht so eng – er fährt einfach weiter, und winkt dem Polizisten noch fröhlich zu. Wir starten auch wenig später wieder, nur in anderer Reihenfolge als zuvor. Wir tuckern über die lange Hafenpromenade, an Madagaskars ältester katholischer Kirche vorbei und bis zum Flughafen, der eher ein kahler Fußballplatz ist. Daneben reicht ein Sandpfad bis ans Meeresufer, und genau dahin wollen wir. Am Strand liegen etliche bunt bemalte Pirogen. Wir steigen aus, verteilen das Gepäck in den Pirogen und werden – ganz malerisch – durch die Lagune zur kleinen Insel Nosy Nato gebracht. Ein romantisches Urlaubsende für den aufregenden Tag. Nosy Nato erwartet uns genau so, wie eine Insel in Werbeprospekten aussehen muss: Weiße Strände, Palmen, türkisblaues Meer. Wirklich, wiiiirrrklich seeehr tragisch, dass wir hier jetzt ein paar Tage länger bleiben müssen.