Zum Frühstück fallen wir wieder bei Mirana ein, es ist einfach die beste Bäckerei in Antsirabe. Ein grandioses Zitronentörtchen und ein warmes, riesiges Pain au chocolat später gondeln wir an der THB-Fabrik vorbei. Am Bahnhof halten wir kurz an, ich weiß gar nicht mehr warum. Jedenfalls machen wir ein paar Fotos von dem alten Gebäude aus französischen Kolonialzeiten. Am Ende der Allee, die in der Mitte eine Blumenrabatte hat, stehen ein paar Jugendliche. Sie haben eine ganze Reihe Spielzeugautos dabei, alle etwas altersschwach und mit verblichenem Plastik. Sogar ein blaues Motorrad ist dabei, und mehrere selbst gebaute Blechgefährte, darunter eines mit aufgemalter Ente, die eher an Seifenkisten erinnern. Gegen einen kleinen Obolus von 1000 Ariary dürfen sich Kinder wohlhabender Madagassen hineinsetzen, und werden dann vom jeweiligen Besitzer des Gefährts einmal um die Blumenrabatten geschoben.
Direkt vor dem Bahnhof sitzen Männer auf dem Boden und spielen Domino. Neben ihnen steht eine leuchtend orange und weiß bemalte Pferdekutsche, die aussieht, als sei sie mindestens hundert Jahre alt. Ist sie vielleicht auch. Die eher mangelernährten Pferde dazu stehen ein paar Schritte weiter und zupfen Gras vom Boden. Sonst gibt es hier sogar einzelne Pferde, die man reiten kann. Da heute Sonntag ist, sind die meisten Leute jedoch zu Hause.
Wir kurven mit unserem kleinen Bus durch Antsirabe, bis wir an einem großen Tor halten. Es scheint ein Privathaus zu sein, obwohl wir eine kleine Bonbonmanufaktur besichtigen wollen. Eine Dame im hellblauen Nachthemd lässt uns in den Hof, und führt uns in eine kleine, schmale Küche. In der heißen Asche einer Kochstelle steht ein rußgeschwärzter Alutopf, in dem eine zähe Masse blubbert. Ein Holzthermometer hängt von der Decke.
Marcel, der Bonbonfabrikant und Konfiseur selbst, kommt wenige Minuten später dazu und bringt einen angestellten jungen Mann mit. Marcel ist nicht besonders groß, lächelt freundlich, was eine Menge fehlender Zähne offenbart, und trägt eine schmale Brille. Er erklärt uns, wie das alles läuft, und Dimby übersetzt fleißig. „Welchen Geschmack möchtet ihr für die Bonbons?“, fragt Marcel. Wir suchen Orange und Eukalyptus aus hohen Plastikbechern aus. Dann geht es los: Der junge Mann kippt den Inhalt des heißen Topfs auf eine lange Granitplatte. Der Zucker brodelt und wirft Bläschen. In Windeseile bearbeitet Marcel die Zuckermasse mit einem Spachtel und zwei messerartigen Geräten, faltet sie, klopft darauf herum und arbeitet das aufgeschüttete Pulver blitzschnell ein. Sein Assistent wirft derweil einen Teil der heißen Masse mit bloßen Händen herum, formt lange Stränge daraus und legt sie wieder zusammen.
Dann zeigt er uns verschiedene Varianten, die Zuckermasse in Bonbonform zu bringen. Entweder schneidet man sie mit einem Faden in Stücke, das ist die madagassische Art. Oder man nutzt ein mindestens antikes Ungetüm von Stanze mit verschiedenen Bonbonformen. Letzteres wird mit einer großen Kurbel bedient, und ist wahrscheinlich so bleischwer, dass nur mehrere Leute es auch nur einen Zentimeter von seinem Platz schieben könnten.
Ich probiere die Bonbons noch warm – sie schmecken vor allem nach Zucker, aber viel mehr ist ja auch nicht drin. Vielleicht ein Hauch Eukalyptus dabei. Marcel wandelt derweil einen kleinen Raum weiter, in dessen schmalen Regalen an der Wand sich die Bonbons stapeln. Orangefarbene, giftgrüne, beige, dunkelbraune und weiße Bonbons liegen da, alle sorgfältig nach Sorten sortiert.
Marcel zeigt, wie er die Bonbons in kleine Plastiktüten gibt. Über der Flamme einer dünnen Kerze verschweißt er die Tütchen. Und betont dabei, wie ökologisch wertvoll es ist, dass er mit einer einigen Kerze rund 2000 Tüten verschließen kann. Nunja.
Da heute genug Zeit ist, fahren wir noch zu einem anderen Handwerksbetrieb. Die „sechs Brüder“. Durch ein Tor gelangen wir in einen Hof mit Lehmboden. Links vor einem Wohnhaus aus Backsteinen ist eine Art breiter Tisch, ebenfalls aus Backsteinen, der mit einem Tuch abgedeckt ist. Eine kleine Feuerstelle brennt am Rand des Lehmbodens, und links und rechts stehen Holzbänke vor gelb-rosa karierten Plastikplanen. Ich setze mich auf eine der Bänke. Nur ein verwittertes Schild über einer grünen Tür verrät, dass hier das Atelier der „sechs Brüder“ ist, und dass sie Skulpturen aus Zebuhörnern herstellen. Schließlich kommt ein Mann mit roter Basecap in einer blauen Wolljacke mit roten Karos darauf.
Er facht das Feuer etwas an, so dass die Flammen lodern. Dann holt er ein Zebuhorn, inklusive Knochen drin und beginnt zu erklären, wie man das Horn bearbeitet. Ein alter Mann kommt dazu und setzt sich auf die äußerste Kante der Bank. Ob er wohl überwacht, was vermutlich sein Sohn da treibt? Damit alle Generationen vertreten sind, gesellen sich zwei kleine Mädchen barfuß dazu, und sie bringen einen tapsigen, kleinen Jungen mit, der gerade so laufen kann.
Derweil wechselt die Besetzung am Feuer. Nachdem der ältere Mann gezeigt hat, wie man das Zebuhorn erwärmen muss, um den Knochen herauszulösen, gibt er das Horn an einen jüngeren Mann weiter. Oder naja, Jungen. Aber Madagassen sehen erfahrungsgemäß alle etwas jünger aus, als sie sind. Der trägt auch eine Basecap, allerdings eher im Batikstyle, und ein unerkennbares Tattoo am Hals. Und er zieht erstmal die Schuhe aus, als er eine große Säge holt. Logo, wer sägt sich schon in den Fuß? Mit einer Hand und einem Fuß hält er das Zebuhorn, mit der anderen Hand wird auf einem Holzstumpf gesägt. Hier eine Kante, da ein Stück weg. Dann nimmt der junge Mann eine Art Beil, das allerdings nur aus Klinge zu bestehen scheint, und schabt noch etwas mehr Zebuhorn ab. Der kleine Junge läuft zu ihm hin, stolpert und plumpst nur durch Glück und ein paar helfende Hände nicht in die offene Flamme. Sein Opa nimmt ihn auf den Schoß, um weitere Unfälle zu verhindern.
Mit bloßen Händen hält derweil der Künstler das Zebuhornstück in die Flamme, und biegt und dreht das heiß gewordene Horn. Es riecht nach Hufschmied. Das alles geht erstaunlich schnell, und im Handumdrehen steht die Figur eines kleinen Vogels vor meinen Füßen. Die muss jetzt noch poliert werden, et voilà! Dazu wechselt wieder die Belegschaft, der ältere Mann übernimmt die Feinarbeit.
Nach der Vorführung wird auch die Decke vom Tisch hinter mir gelüftet. Es gibt Vögel, Schildkröten und Mantiden aus Zebuhorn. Besteck, Anhänger, Ohrringe und Becher stapeln sich daneben. Ich erwerbe ein paar toll gefärbte lila Armeifen, Ohrringe und die obligatorische Schildkröte für meine kleine, aber feine, Madagaskar-Schildkröten-Sammlung. Dann verteile ich noch ein paar Malbücher, und die Kinder freuen sich wie Bolle darüber.
Eine lange Fahrt liegt heute vor uns. Langsam gondeln wir durch Antsirabe, vorbei an unzähligen Pousse-Pousse und Cyclopousse. Dann kommen Reisfelder ins Bild. Gelbe Wogen liegen rechts und links der Straße in der Landschaft, dahinter immer wieder die mehrstöckigen Lehmhäuser des Hochlands. Schmale, rote Pfade führen zwischen Reis- und Zuckerrohrfeldern auf die kleinen Hügel. In den Dörfern wird Stroh getrocknet. Ausgebreitet zur Größe von Fußballfeldern liegt es rund um Lehmhäuser verteilt. Auch Reisernte ist gerade, und wir sehen jede Menge Frauen auf den Feldern mit zu Bündeln geschnürten Reisähren, die sie dann ins Dorf tragen. Obwohl Sonntag ist. Auf einem grasbewachsenen Hügel hinter einem Dorf stehen eine Menge Leute im Kreis um ein kahles, lehmernes Rondell. Zwei Hähne werden gerade von beiden Seiten des Rings festgehalten. Es ist wohl ein sonntäglicher Hahnenkampf, immer noch ein häufiges Spektakel auf Madagaskar.
Gegen Mittag klart der Himmel auf. Kleine Schäfchenwolken ziehen über den blauen Himmel. An einem steilen Hang halten wir kurz, um durch’s Fenster etliche Hüte Physalis zu kaufen. Hüte? Ja, Hüte. Die Betsileo-Frauen hier sammeln die Physalis mangels Körben in ihren schalenartigen Hüten. Kauft man Physalis, schüttet man die Hüte dann in eine eigene Tasche oder Tüte. Und sie schmecken! Ganz anders als die trockenen, sauren Dinger zu Hause. Die Physalis hier sind voll reif, und fast schon süß.
Irgendwo im Hochland halten wir an. Hier war mal ein Wald, jetzt steht nur noch eine schmale Reihe von Bäumen, mehrheitlich eingeschleppter Eukalyptus. Dahinter liegt Asche rund um abgehackte Baumstümpfe. Letztes Jahr waren es bereits nur einige fünfzig Meter Wald vielleicht, und wie schon vorausgesehen ist dieses kleine Wäldchen jetzt nicht mehr existent. Hier hatten wir Calumma crypticum gefunden. Der Lebensraum dieser kleinen Population ist jedoch so gut wie verschwunden. Trotzdem entdecken wir im Gebüsch noch Tiere der Art – vielleicht die letzten der hiesigen. Zwei Jungtiere, zwei kleine Männchen und ein schwer erbostes Weibchen, das vor lauter Ärger seinen leuchtend blauen Kehlsack zeigt. Es ist ein bisschen traurig, als wir die Tiere wieder in den zerstörten Rest von Baumstümpfen und Gebüsch zurücksetzen müssen. Hier werden sie kaum eine Überlebenschance haben. Ein Mann mit einer Axt läuft vorbei und wundert sich, was wir da machen. Er geht gerade zu den restlichen Baumstümpfen, um neues Brennholz zu holen.
In Ambositra essen wir zu Mittag, Hühnchen mit Reis. Ein kleiner Abstecher zum Schnitzereien-Geschäft muss auch sein, und ich kaufe auch fast gar nichts.
Kurz vor der Abzweigung nach Ranomafana wird offenbar gerade die Straße erneuert. Das ist auch dringend nötig. Eine Seite der sowieso nicht allzu breiten Straße ist versperrt, und dahinter liegen Hunderte Meter grauer Kies. Ein junger Mann hält ein Schild aus Holz hoch, auf dem mit einer Art Fingerfarbe „Stopp“ aufgemalt ist. Er wirkt überaus motiviert, immerhin lässt er das Schild schon beim ersten Auto wieder sinken und steckt sich stattdessen lieber eine Zigarette an. Wir warten eine ganze Weile, bis wir durch dürfen.
An einem Aussichtspunkt halten wir kurz an. Es ist draußen so kalt, dass ich eigentlich gar keine Lust habe, auszusteigen. Außerdem dämmert es schon, und die Landschaft liegt in diesigem Nebel verborgen. Wir fahren bald weiter, denn auch den anderen ist es kühl draußen in kurzen Klamotten. Und besser wäre es, anzukommen, bevor es schüttet oder stockfinster ist. Gerade denke ich das noch, als die ersten dicken Tropfen fallen. Schnell retten sich alle ins Auto. Erst nieselt es langsam, dann gehen die Tropfen in stetigen Regen über.
Im Dunkeln erreichen wir Ranomafana. Andry lenkt das Auto vor die Stufen unseres Hotels. Als ich aussteigen will, bedenke ich leider nicht, dass der Boden vom vielen Regen durchgeweicht und nass ist. Ich rutsche also auf meinen Flip-Flops mit Schwung nach vorne aus. Und da ich natürlich den wertvollen Fotorucksack retten will, der auf keinen Fall gegen den Betonpfeiler vor mir schlagen soll, weiche ich aus und – schlage stattdessen mit der Schulter selbst mit Wucht gegen den Betonpfeiler. Aua! Schon nach wenigen Minuten zeigen sich schillernd blaue Farben auf meiner Haut.
Ich flitze durch den Regen ins Restaurant, wo Dimby bereits fleißig Bungalow-Schlüssel verteilt. Bungalow 21 ist Tanala und meines. Und es ist viel zu weit oben. Ich beschließe, dass das Gepäck vor dem Bungalow wohl auf mich warten muss, denn ich werde vor dem Abendessen nicht die vielen Stufen nach oben klettern, um sie dann prompt wieder hinunter- und später wieder heraufzulaufen.
Während ich eine riesige Portion Spaghetti in mich hinein schaufele, bricht ein Gewitter los. Es donnert und kracht, und ab und zu flackern die Glühbirnen an der Decke. Es gießt in Strömen. So laut, dass man kaum sein eigenes Wort versteht, prasseln die Regentropfen auf das blecherne Vordach. Von den Fenstern des Restaurants schaut man auf die Betonstufen der Treppe, die nach oben zu den Bungalows führt. Die Treppe ist nicht mehr als solche zu erkennen. Ein endloser Wasserfall ergießt sich über die Stufen, über die Veranda und bis auf die Straße. Aber die Gesellschaft am Tisch ist gut, und es wird gequatscht und erzählt.
Als ich die letzten Nudeln vom Teller auf meine Gabel schiebe, lässt der Regen etwas nach. Ich nutze die Gelegenheit, meinen Fotorucksack zu schultern (Au. Lieber auf die andere Schulter.) und die vielen Treppen nach oben zum Bungalow zu laufen. Die Stufen haben eine äußerst unpraktische Länge und Höhe, und schon auf der Hälfte bin ich außer Atem. Mein Gepäck steht zum Glück immer noch unangetastet vor dem Bungalow.