Die Nacht war etwas länger als gedacht. Mein Kopf fühlt sich entsprechend nicht ganz so gut, als das Nachbarhotel etwas weiter unten am Strand eine verfrühte Osterparty einläutet. An Ostern wird auf Madagaskar traditionell am Strand gegrillt, und die ersten Großfamilien sind schon mit dem Sonnenaufgang zum Picknicken eingetrudelt. Dazu wird der Strand mit Hyper, hyper! von Scooter beschallt. Ich schleiche mich um kurz nach Sechs bis zum Restaurant, um eine Flasche Wasser zu holen. Auf dem Weg begegne ich bereits einem fröhlich winkenden Eric. Alle anderen haben gestern Abend mehr dem Rum zugesprochen und sind nicht auffindbar. Ich gehe auch nochmal ins Bett.
Gegen Mittag wird es zu warm im Bungalow. Draußen entwickelt sich wie in einer Sitcom der Krieg der Stühle. Jedes Bungalow hat eigentlich zwei Plastikstühle auf der kleinen Terrasse direkt vor dem Bungalow stehen. Manche Menschen scheinen aber drei haben zu wollen. Und plötzlich haben dann andere Bungalows nur noch einen Plastikstuhl. Nachdem alle Stühle erfolgreich zurückerobert sind, ist der Besen vor meinem Bungalow abhandengekommen. Den bräuchte ich eigentlich, um die Reste des gestrigen Abends vor dem Bungalow zusammen zu fegen. Müssen die wohl warten.
Um den Restpegel an Alkohol zu beseitigen, schlendere ich mit Tanala, Markus, Julia und René den Weg vom Hotel in Richtung Ankify Lodge entlang. Der Kiesweg verläuft parallel zum Meer, bietet einige schöne Aussichten und die Chance, noch das ein oder andere Reptil zu entdecken. Ich bin allerdings heute nicht ganz auf der Höhe, und finde genau gar nichts. Ich stöbere im tiefen Laub einer Kaffeeplantage herum, auf der Suche nach Brookesia stumpffi. Nach rund anderthalb Kilometer habe ich keine Lust mehr, und laufe wieder gemütlich zum Hotel zurück. René und Markus finden das kleine Erdchamäleon keine zwanzig Meter weiter, davon kriege ich aber nichts mehr mit. Ich bewundere eine ganze Menge Pfefferranken, die sich an riesigen Tamarinden in die Höhe winden. Ist mir noch nie aufgefallen, dass hier soviel Pfeffer wächst. An fast jedem Kaffebaum und jeder Mango wachsen die grünen Ranken mit den Rispen voller grüner Pfefferkörnern nach oben. Faszinierend finde ich, das aus dieser einen Pflanze Piper nigrum sowohl weißer als auch roter, grüner und schwarzer Pfeffer hergestellt werden. Nur der wilde Pfeffer, den es auf Madagaskar gibt, stammt von einer anderen Pflanze.
Auf dem Rückweg zum Hotel sehe ich noch ein junges Furcifer oustaleti, das gerade über einen auf dem Boden liegenden Baumstamm läuft. Direkt vor dem Tor des Hotels sitzt dann auch noch ein kleines Pantherchamäleon im Busch – ganz ohne kommt man hier eher nicht weg bei einem Spaziergang.
Den Nachmittag verbringe ich mit Wasser und Handtuch am Strand, direkt unter einem der Sonnenhüte. Die sind auch dazu da, Köpfe vor herunterfallenden Kokosnüssen zu schützen. Zum Glück treibt noch jemand Kekse auf, bevor wir am Strand verhungern… Irgendwann ist das Wasser zurück, und ich plantsche ein bisschen im lauwarmen Meer herum. Seit dem frühen Morgen schwimmt übrigens eine einsame Piroge im Meer, bei Ebbe lag sie auf dem Trockenen, aber scheinbar gehört sie niemanden. Sie ist mit einem Gewicht wie an einer Art Anker befestigt.
Am Abend sind wieder Meeresschildkröten unterwegs. Dicke, große Köpfe recken sich alle paar Minuten aus dem Wasser, um nach Luft zu schnappen und dann wieder auf Tauchstation zu gehen. Der Besitzer der einsamen Piroge im Meer taucht auch auf und paddelt mit seinem Holzeinbaum davon. Am Horizont türmen sich immer mehr Wolken auf, die dunkel und bedrohlich heranziehen. Inzwischen sind auch die Jungs wieder ansprechbar, und wir fahren gemeinsam zum Abendessen in den Hafen von Ankify. Als wir gerade zu Fuß bis vor das kleine Lädchen gelaufen sind, vor dem Mama Be immer sitzt, fängt es an zu schütten. Dazu bricht ein gewaltiges Gewitter los. Die Blitze erleuchten den ganzen Platz.
Mama Be weiß unser nasses Platz- und-Sitz-Problem schnell zu lösen: Tische, Hocker und Bänke werden in den kleinen Raum direkt hinter ihr geschleppt. Der Raum hat kahle Steinwände, kein Fenster und nach vorne eine hölzerne Lade, die man tagsüber nach oben wegklappt. Der untere Teil ist – wie in einem Laden eben üblich – aus Holzbohlen, die hüfthoch reichen und eine Tür frei lassen. Eine einsame Sparlampe beleuchtet das Ganze. Ein Sammelsurium kleiner Tische wird vor einem Paravent aus Bambus aufgestellt. Als ich dahinter luge, entdecke ich eine schmutzige Schaumstoffmatratze, Bettlaken und Kopfkissen. In ein paar Reissäcken sind Dinge des täglichen Bedarfs verstaut. Wir scheinen direkt neben Mama Bes Schlafstätte zu sitzen, quasi in ihrem Wohnzimmer. Laut Hafenübersicht, die draußen an der Treppe hängt, gibt es hier nur Läden und nicht ein einziges Wohnzimmer, aber das scheint man regeln zu können. Oder es interessiert einfach keinen, wer in seinem „Laden“ schläft oder nicht. Ich nehme fast an, dass letzteres hier eher sogar normal ist, denn auch gegenüber scheint gerade jemand sein Schlafgemach in seinem Geschäft aufzuschlagen.
Jedenfalls sitze ich jetzt dicht zusammengequetscht mit Markus, Tanala, Katja, Ines, Chrissi und Varinia auf einer sehr schmalen Bank, die nur mit ein paar Nägeln zusammengeschlagen ist und eigentlich eher aus Treibholz besteht. Nicht so viel bewegen, dann geht das schon. Auf der anderen Seite sitzen Choa, Léon, Gris, Eric, Andry, Mika, Mamy, Dimby und José, genauso dicht gedrängt. Kleine Gläser mit diversen Haarrissen und anderen Macken werden verteilt, eiskalte Cola und Limo machen die Runde. Es wird ein geselliger Abend mit netten Gesprächen.
Zu essen gibt es riesige Portionen Reis mit winzigen Schüsselchen, in denen sich je einige Stückchen Huhn oder wahlweise ein paar Brocken Zebufleisch befinden. Wer Fisch mag, bekommt einen frisch gegrillten ganzen Fisch zugeteilt. Ich kippe mein Zebuschälchen komplett über den Reis, schaffe die gigantische Reisportion aber natürlich trotzdem nicht. Es gibt aber genügend Abnehmer am Tisch, denn der durchschnittliche madagassische Magen hat offenbar einen gesonderten Vorratsspeicher für Reis. Die Unmengen, die die Jungs in sich reinschaufeln, entsprechen ungefähr meiner Wochenration, würde ich täglich Reis essen. Tu ich aber gar nicht, daher entspricht das in der Realität sogar meinem Gesamtverbrauch an Reis in ungefähr einem Jahr. Günstig ist es bei Mama Be übrigens auch. 14.000 Ariary bezahle ich für zwei Personen inklusive anderthalb Liter Cola und einem THB. Das sind umgerechnet keine fünf Euro. Die lustige Runde ist heute früher müde als gestern, und als wir zurück zum Hotel fahren, sind alle schnell in ihren Bungalows verschwunden.
Nur einer nicht. An Tanalas und meinem Bungalows klopft es erst zögerlich, dann lauter. Als Tanala die Tür öffnet, steht jemand davor. Jemand, der sich gestern wie alle anderen auch einen leichten Wolf gelaufen hat beim Spazierengehen über Nosy Tanikely, nur mit Badeklamotten bekleidet. Soll vorkommen. Allerdings fragt dieser Jemand zu meiner großen Verwunderung, ob Tanala nicht vielleicht einen Verband für die „Wunden“ hätte. „Alles wund da unten!“, höre ich, und möchte auch gar nicht mehr wissen. Wir haben keinen „Untenrum-Verband“. Der wäre auch nicht sonderlich hilfreich, wenn eh schon alles wundgescheuert ist. Aber eine Tube Bepanthen haben wir, die muss reichen. Menschen sind manchmal eine sehr seltsame Spezies.